Khn. Mbl. Augenheilk. 199 (1991) 177

Pathophysiologie und Prophylaxe der Fruhgeborenenretinopathie* W. Hammerstein Düsseldorf (Leiter: Prof. Dr. R. Sundmacher)

Zusammenfassung

Bei Frühgeborenen ergibt sich zwischen der Umstellung der Erythropoese nach der Geburt und der Manifestation der Retinopathie em zeitlicher und

kausaler Zusammenhang. Der physiologische Austausch der fetalen Erythrozyten gegen adulte kann durch die Bestimmung des fetalen Hamoglobins analysiert werden. Durch die vorgezogene Geburt bei zeitlich unvernderter Umstellung der Erythropoese kommt es zu einem Intervall mit einer zeitlich begrenzten, chronischen Hypoxie der Retina, so daB Neovaskularisationen auftreten. Das Sauerstoffdefizit entsteht dadurch, daB

fetales Blut im Vergleich zu adultem eine hOhere

Sauerstoffaffinität aufweist. Wenn bei Fruhgeborenen hohe Werte des HbF festgestellt werden, kann durch ei-

nen Erythrozytenaustausch die chronische Hypoxie der Retina vermieden werden, so dalI eine sekundäre Prä-

vention der Erkrankung moglich wird.

and Prophylaxis of Retinopathia in Premature Infants _____________________________________ Pathophysiology

In premature infants there is a temporal and causal relation between the change in the erythropoiesis

after birth and the manifestation of retinopa-

The physiological substitution of the fetal erythrocytes can be controlled by an analysis of the fetal hemoglobin. In premature infants in which the erythrothy.

poiesis

has not yet been converted there is an interval

time where there is a chronic hypoxemia of the retina and in which neovascularisation occurs. The oxygen deficit arises because fetal blood — in comparison with adult blood — exhibits a higher affinity to oxygen. If of

funde wurde zunachst mit der Behandlung durch erhohte Sauerstoffkonzentrationen im Inkubator in Verbindung gebracht (Campbell 1951, Patz u. Mitarb. 1952, Crosse u. Mitarb. 1952, Weintraub u. Mitarb. 1956).

Eine Reduzierung uberhohter Sauerstoffwerte fuhrte einerseits zu einer Abnahme der Erblindungen, andererseits manifestierten sich vermehrt zerebrale Funktionsausfalle (McDonald 1963). Obwohl die Sauerstoffbehandlung im Inkubator weiter verbessert werden konnte, kommt es heute immer noch zur Manifestation der Retinopathia praematurorum bzw. zur retrolentalen Fibroplasie, so dat) gravierende Sehbehinderungen und Erblindungen die Folge sein konnen. Es gelingt heute, das Uberleben sehr kleiner Fruhgeborener mit geringem Geburtsgewicht zu sichern, so daB gleichzeitig das Erkrankungsrisiko ansteigt. Viele Fragen zur Atiologie der retrolentalen Fibroplasie konnen mit der Sauerstoffbehandlung im Inkubator nicht beantwortet werden. Deshaib sind immer wieder Zweifel an seiner kausalen Bedeutung für die Pathogenese geauBert worden. Diese werden durch folgende Beobachtungen begrundet: 1. Bei Totgeburten wurde eine proliferative Retinopathie mit Netzhaut- und Glaskorpervaskularisationen berichtet (Addison u. Mitarb. 1972).

2. Bei Kindern, die kurz nach der Geburt verstarben und keinen Sauerstoff erhielten, wurde eine retrolentale Fibroplasie beschrieben (Andersen u. Mitarb. 1967, Karlsberg u. Mitarb, 1973, Foos 1975).

high values of HbF are ascertained in premature in-

fants the chronic hypoxemia of the retina can be

3. Eine retrolentale Fibroplasie kann ohne Sauerstoffbehandlung auftreteri (Bruckner 1968, Patz 1968, Seedorf 1968, Fans u. Mitarb. 1969, Brockhurst u.

avoided by replacing the erythrocytes. In this way, a

Mitarb. 1975).

secondary prevention of the illness is possible.

Einleitung

4. Vereinzelte Erkrankungsfalle sind bereits aus der Zeit bekannt, als noch keine Sauerstoffbehandlung durchgeführt wurde (Brockhurst u. Mitarb.

1975, Flynn 1982). Allerdings wurden diese Fälle damals noch nicht als retrolentale Fibroplasie erkannt.

5. Eine Ret:inopathia praematurorum kann Mit der Einführung des Inkubators, der eine Uberlebenschance für Fruhgeborene ermoglichte, trat auch bei reifen Kindern auftreten (Patz1968, Brockhurst auch eine neue Erkrankung auf, die Terry 1942 als retro- u. Mitarb. 1975, Kraushar 1977). lentale Fibroplasie beschrieb. Die Manifestation dieser BeDie dargesteilten Befunde konnten bisher nicht aufgeklart werden. ____________________________________________________ Kiln. Mbl. Augenheilk. 199 (1991) 177—182

1991 F. Enke Verlag Stuttgart

* Vortrag

gehalten am 13. 9. 90 in Rostock-Warnemunde

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Univ.-Augenklinik

178 KIm. Mb!. A ugenheilk. 199 (199!)

W. Hammerstein Sauerstoffkonzentration in der Atemluft

Tab. 1 Zusammenhang zwischen Geburtsgewicht und fetaem Hamoglobin Geburtsdatum

24.12 82 M. M. 3, 8.84 2 Sch. D. 3. H. J M. 27. 8.84 1

Geburts-

erhöhte Sauerstoffsffinitdt des fetalen Blutes

HbF

HbA1

HbA2"

6447% 3857%

3516%

037% 083%

gewicht

13509 10500 13100

60,23%

60,60% 39,52%

0,25%

herabgesetzter Sauerstofftransport des fetalen Blutes reduziertes Saserstoffangebot in der Retina

Herrn Dr. J. Scheja (Institut für B(ctgerinnungswesen und Transfusionsmedizin der Universitbt DUsseldorf, Direktor Prof. Dr. Sf. Orbstar) danke ich für die treundliche Uberlassung der Untersuohungs-



hoher Sauerstoffverbraucb in her Retina

Beeintrachtigurrg der Sauerstoffutilisation in der Retina

befu nde.

Reduzierung des zelluldren Sauerstoffpartialdruckes

chronische, zeitlict begrenzte Hyponie der Retina

Deshaib 1st die aligemeine Meinung heute,

daB der Sauerstoff in unphysiologisch hoher Dosierung toxisch auf die Netzhaut wirkt aber nicht die einzige Ursache der Erkrankung sein kann. Ferner ergibt sich em Wi- Abb. 1 derspruch zwischen dem hohen Sauerstoffangebot in der Atemluft und der retinalen Hypoxie.

Neovaskularisationen der Netzhaut

Sauerstoffdefizit in der Retina des Fruhgeborenen

Sauerstoffdefizit verursacht wird. Leitsymptome sind Gefal3neubildungen, die als Zeichen Aus mehreren Mitteilungen geht hervor, daB das Erkrankungsrisiko urn so mehr ansteigt, je germ- eines ausgeprägten Sauerstoffmangels der Retina zu beger das Geburtsgewicht ist (Tasman 1970, Messer u. Mit- werten sind. Es ist deshalb die pathophysiologische Bearb. 1979, Patz 1983). Fruhgeborene mit reduziertem Ge- deutung des fetalen Blutes zu untersuchen (Abb. 1). wicht nach verkurztem Schwangerschaftsverlauf sind desBekanntlich kann eine stark erhohte Sauhaib besonders gefahrdet. Ferner kann diese Erkrankung erstoffkonzentration in der Atemluft zur Vasoobliteration nur in den ersten 6 Lebensrnonaten auftreten. Das Risiko der Netzhautgefafle fuhren, so daB die Sauerstoffversornimmt mit zunehmendem Geburtsgewicht und dem Lebensalter ab und 1st in der 2. Halfte des ersten Lebensjah- gung in der Retina effektiv verschlechtert wird. Die chrores nicht mehr vorhanden. Diese Ergebnisse deuten auf nische Hypoxie kann dann zur Neovaskularisation der Reelne kausale Beziehung zwischen dem Geburtsgewicht und tinagefaf3e fuhren (Ashton u. Mitarb. 1953, 1954). der Erkrankungsmanifestation hin. Die Ursache dieser ErDie Einfuhrung der Sauerstoffbehandlung krankung 1st mit der speziellen Pathophysiologie der Neuim Inkubator ermoglichte erst eine Uberlebenschance für geborenenperiode verbunden. Deshaib ist eine differenzierte Analyse erforderlich. Die unterschiedlichen Fakto- Fruhgeborene und war darnit eine wesentliche Voraussetzung, daB es zum Auftreten dieses neuen Krankheitsbildes ren sind in einen Zusammenhang einzuordnen. kam. poxie, die durch em

Da trotz erhohten Sauerstoffangebots in der Atemluft eine retinale Hypoxie vorhanden 1st, kann Es wird uber 3 Kinder mit einer Fruhgeborenen- das Sauerstoffdefizit nur durch em Mil3verhaltnis zwiretinopathie berichtet. Tabelle I enthält einige Untersuchungser- schen Sauerstoffverbrauch einerseits und reduziertem Sauerstofftransport andererseits entstehen. Der Sauergebnisse, die für die Pathogenese von Bedeutung sein kOnnen. Das fetale Hamoglohiri steilt einen Parameter dar, der mit dem stoffverbrauch der Retina ist etwa dreimal hOher als der Geburtsgewicht korreliert ist. des Gehirns (9,7 ml 02/100 ml Retina/Minute gegenuber 3,3 ml 02/100 ml Gehirn/Minute) (Kety u. Mitarb. 1948, Bei allen Patienten wurde eine Kryokoagulation Anderson u. Mitarb. 1964, Sickel 1972). Wenn die Sauerder Netzhaut in Narkose durchgefUhrt. Gleichzeitig wurde Blut entnommen und eine Bestimmung der I-Iämoglobinfraktionen stoffversorgung uber langere Zeit reduziert 1st, dann bevorgenommen. Bei der 1. Patientin, die eine retrolentale Fibro- steht aus diesen Grunden an der Retina eine besondere Untersuchungsbefunde

plasie aufwies, wurde HbF 3 Monate nach der Geburt bestimmt. Bei dem 2. und 3. Patienten mit einer Retinopathia praematurorum wurden diese Werte 2 Monate nach der Geburt ermittelt.

Disposition zu Gefiil3neubildungen.

Ferner 1st die umgekehrte Korrelation zwischen Geburtsgewicht und Retinopathia praematurorum Die Befunde zeigen Ubereinstimmung darin, bekannt. Fruhgeborene mit geringem Geburtsgewicht sind daB bei reduziertem Geburtsgewicht auch rioch 2 his 3 Monate besonders gefahrdet. Je geringer das Gewicht urn so höher nach der Geburt hohe Werte des fetalen Hamoglobins nachzu- wird das Erkrankungsrisiko. Besonders schwere Krankweisen sind. Der Wert des HbF hat als Maturittitsindex (Kleihauheitsverläufe sind mit einem geringen Gestationsalter korer 1966, 1978) Bedeutung für die Unreife des Kindes. reliert (Korner u. Mitarb. 1982, Flynn u. Mitarb. 1987, Becker u. Mitarb. 1990). Diskussion Pat hophysiologie

Bei der Fruhgeborenenretinopathie handelt es sich urn eine zeitlich begrenzte, chronisch retinale Hy-

Das fetale Hamoglobin stellt einen Parameter dar, der vom Geburtsgewicht und vom Lebensalter abhangig ist. Die Korrelation zwischen Geburtsgewicht und Gestationsalter kann durch die Bestimmung des HbF ergänzt werden. Bei geringem Geburtsgewicht findet sich

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Patient

Pathophysiologie und Prophylaxe der Fruhgeborenenretinopathie

a'

Megaloblasten Megalozyten Makrozyten

2

KIm. Mb!. Augenheilk. 199 (1991) 179

Normozyten—-

Dot tersak

1Mhz >

______________ Knochenmark

A

Geburt

°' 100

C

0

a, 0

iiS

Ad ultes Hámoglobin

E

I —*--GestationsaIter —_____ —

Lebensalter (Monate)

p02

Abb. 2 Ontogenelische Entwick)ung der Erythropoese und der Hamog)obine (nach Kleihauer 1978) (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Springer Veriages) Abb. 3 02-Konzentrationen (02) in Abhangigkeit vom 02-Partialdruck P02 für das mütterliche und fetale Blut zum Zeitpunkt der Geburt. Beim Gasaustausch in der Plazenta sinkt die 02-Konzentration im mütterlichen Blut von a (arterietes Blut) bis v (venoses Blut) ab, während sie im fetalen Blut von v' (venosiertes Blut in der A. umbilical(s) bis a' (arterialisiertes Blut in der V. umbilicalis) ansteigt (nach Thews 1987) (Nachiruck mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Springer Ver)ages)

em hoher prozentualer Anteil an HbF und em hohes Risiko fur die Retinopathia praernaturorum. Das fetale Hamoglobin stelit em Markierungsmerkmal dar, das hinsichtlich des Zeitraums und des quantitativen Verhaltens

Parallelen zum Auftreten der retrolentalen Fibroplasie bzw. der Retinopathia praematurorum zeigt, so daB es für die Diagnostik und fur die Einschatzung des Risikos genutzt werden kann.

Von der 32. Schwangerschaftswoche an wird HbF kontinuierlich durch adultes Harnoglobin ersetzt. Der Anteil des HbF betragt zum Zeitpunkt der Geburt ca. 50—8Otf'o, der in den ersten 6 Lebensrnonaten

durch HbAI ersetzt wird. HbF sinkt entsprechend ab (Kleihauer 1966) (Abb. 2).

Bei FrUhgeborenen dagegen fällt HbF nicht in der gewohnten Weise ab, sondern erhoht sich nach der Geburt wieder. Das fetale Hamoglobin zeigt bei Fruhgeborenen einen Anstieg, der urn so hOher ausfalit je

geringer das Geburtsgewicht 1st. Fetales Hamoglobin kann u.U. einen Prozentsatz von 75'o erreichen. Auch die Zahi der Retikulozyten nirnmt bei FrUhgeburten in den

ersten Lebenswochen noch zu. Diese Werte sind urn so hoher je geringer das Geburtsgewicht ist. Ferner nimmt die Hamoglobinkonzentration deutlich ab. Nach 6 Monaten ist auch bei Fruhgeborenen die Umstellung von fetalem auf adultes Hamoglobin volizogen. Bei normaler Schwangerschaft verlaufen die Geburt des Kindes und die Umstellung der Erythropoese annähernd simultan. Bei Fruhgeborenen dagegen entsteht durch die vorgezogene Geburt bei unverandert

termingerechter Urnstellung der Erythropoese eine zeitliche Differenz, da beide Vorgange unabhangig voneinander sind. Wenn nach der Geburt die Konzentrationen der normalen Atemluft oder die Bedingungen des Inkubators wirksam werden und die Veranderungen der Erythropoese mit einem Ersatz des fetalen durch adultes Blut noch nicht erfolgt sind, dann kommt es in diesem Zeitabschnitt zur Manifestation der Retinopathia praematurorum. Dieser Vorgang kann durch die wiederholte Bestimmung des fetalen Harnoglobins analysiert werden. Es zeigt sich, daB bei geringem Geburtsgewicht der Anteil des fetalen Hamoglobins besonders hoch ist. Zwischen dem Gestationsalter, dem Zeitraurn der Erythropoeseumstellung und dern Erkrankungsrisiko ergeben sich Zusamrnenhange, die auf eine Kausalität hinweisen. Je langer dieses Intervall, d. h. je geringer das Geburtsgewicht ist, urn so groBer ist das Erkrankungsrisiko.

Fetales Blut ist durch eine hohere Sauerstoffaffinität gegenUber adultem gekennzeichnet (Abb. 3). Für diese Eigenschaften werden eher morphologische oder intrazellulare Veranderungen der Erythrozyten als das fetale Hamoglobin verantwortlich gemacht, da die an HbAund HbF-Hamolysaten gewonnenen Kurven im Gegensatz

zu Vollblut praktisch identisch sind (Kleihauer 1966). Durch die Umstellung in den ersten Lebensmonaten kommt es zu einer Rechtsverschiebung der Sauerstoffdissoziationskurve (Thews 1987). Wenn die Sauerstoffaffinitat erhoht ist, so ist die Abgabe von Sauerstoff im Gewebe

reduziert. Die Sauerstoffversorgung des Gewebes ist quantitativ verandert. Durch die vorgezogene Geburt entsteht bis zur Umstellung auf adultes Blut em Intervall, in dem fetales Blut zu einem wesentlichen Teil den Sauer-

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Leber

KIm. Mb!. A ugenheilk. 199 (1991)

W. Hammerstein

Tab. 2 Hinweise, Zusammenhange, Parallelen und Voraussetzungen zur Pathogenese der Frühgeborenenretinopathie H/n we/se:

Zusammenhänge: Korrelation zwischen Gestationsalter und Geburtsgewicht Umgekehrte Proportionalitdt zwischen Geburtsgewicht und Erkraikungsrisiko Umgekehrte Proportionalitdt zwischen Gestationsalter und Geburtsgewicht einerseits und fetalem Hamoglobin andererseits Korreation zwischen der Höhe des fetalen Hämoglobins und den Erkrankungsrisiko Umgekehrte Proportionalitat zwischen Gestationsalter und dem Schweregrad der Erkrankung Paral/elen im Krankhe/tsverlauf: Parallelen zwischen Manifestationszeitpunkt und dem Nachweis des erhdhten fetalen Hdmoglobins Ubereinstimmung zwischen Erkrankungszeitraum und erhöhtem letalen Hamoglobin Parallelen zwischen spontaner Regression und Reduzierung der HbF-Werte Parallelen zu anderen Hamo glob/no path/en mit vaskulärer Ret/no path/a: Sichelzellandmie Thalassämie Diabetes mellitus mit glykolysiertem Hamoglobin Voraussetzung für das Auftreten der Erkrankung: Beginn der Inkubatorbehandlung

stofftransport Ubernimmt. Durch die erhohte Sauerstoffaffinitat ist aber die Funktion des Sauerstofftransportes reduziert. Bei Fruhgeborenen sind damit die Voraussetzungen fur eine Hypoxie im Gewebe gegeben, da gleichzeitig em hoher Sauerstoffbedarf besteht. Die Reaktion der Netzhaut zeigt sich in der Manifestation von Gefafineubildungen. Der Verlauf der Retinopathia praematurorum kann durch eine spontane Regression gekennzeichnet sein. Die Schadigung der Netzhaut findet ihren Abschlul3, da die Voraussetzungen nicht mehr gegeben sind. Die Erkrankung kann spontan zum Stilistand kommen und als Narbenstadium ausheilen. Durch die Umstellung der Erythropoese von fetalem zu adultem Blut kann die spontane Regression ihre Erkiarung finden. Beide Vorgange voliziehen sich zeitlich parallel und werden in den ersten 6 Lebensmonaten abgeschlossen. Die spontane Reduzierung des fetalen Hamoglobins kaun hier diagnostische Hinweise geben.

Die Fruhgeborenenretinopathie manifestiert sich nur in der ersten Halfte des ersten Lebensjahres. Auch dieser Manifestationszeitraum kann durch die Umstellung der Erythropoese bei Fruhgeborenen erklart werden. In der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres ist adultes Blut vorhanden und HbF nur noch in sehr germgen Konzentrationen nachweisbar. Die Erkrankung tritt dann auch nicht mehr auf. Im weiteren Verlauf wird das klinische Bud von den Sekundarfolgen bestimmt. Das Risiko wird mit zunehmendem Alter geringer. Bei einigen Bluterkrankungen kommt es zur Sekundarerkrankung einer vaskulären Retinopathie. Die Netzhautbefunde sind auf veranderte Bluteigenschaften und auf einen reduzierten Sauerstofftransport zuruckzufuhren.

Auch bei der Thalassämie konnen Neovaskularisationen auftreten (Hammerstein u. Mitarb. 1981). Beim Diabetes mellitus kann es bekanntlich zu einer vaskulären Retinopathie kommen, die mit dem glykolysierten Hamoglobin in Zusammenhang steht (Hammerstein U. Mitarb. 1983). Diese Hamoglobinfraktion ist durch eine erhohte Sauerstoffaffinitat gekennzeichnet, so daB es zu einer retinalen Hypoxie kommt. Als Folge entstehen die bekannten Gefal3proliferationen.

Zur Retinopathia praernaturorum ergeben sich mehrere Parallelen, die als weitere Hinweise für die dargesteilte Pathogenese gewertet werden konnen. Veranderungen der Erythrozyten mit einer erhohten Sauerstoffaffinität können zu einem reduzierten Sauerstofftransport

und damit zum Bud der vaskularen Retinopathie auf Grund einer chronischen Hypoxie des Gewebes fUhren. Die Netzhaut reagiert auf einen chronischen Sauerstoffmangel mit der Bildung von Neovaskularisationen. Da die Grunderkrankung unterschiedlich sein kann, handelt es sich urn eine unspezifische Reaktion der Netzhaut. Das Blut der Fruhgeborenen unterscheidet sich vom Erwachsenenblut qualitativ und quantitativ (Zaizov u. Mitarb. 1976). Die vorgesteilte Pathogenese ermoglicht es, die Gefafiproliferationen der Netzhaut, den Manifestationszeitpunkt, den Erkrankungszeitraum, die Korrelation zwischen Geburtsgewicht und Erkrankungsrisiko, die Erkrankungsmanifestation ohne Sauerstoffgabe, die

spontanen Regressionen und die Parallelen zu anderen vaskulären Retinopathien bei Hamoglobinanomalien, wie Sichelzellanämie, Thalassarnie und Retinopathia diabetiCa, zu erklären (Tabelle 2). Die einzelnen Faktoren ordnen sich in einen Gesamtzusammenhang em. Wenn auch em direkter Beweis durch die Messung des Sauerstoffpartial-

druckes nicht geftihrt werden kann, so legen doch die zahlreichen Hinweise einen kausalen Zusammenhang nahe. Es ergeben sich mehrere Gründe, daB den EigenSo kann es bei der Sichelzellanamie zu Ge- schaften des fetalen Blutes besondere Bedeutung für die fi3neubildungen an der Retina kommen. Pathogenese der retrolentalen Fibroplasie bzw. der Reti-

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Retrolentale Fibroplasie bei Totgeburten Retrolentale Fibroplasie bei kurz nach der Geburt verstorbenen Kindern, die einen Sauerstoff erhielten Manifestation ohne Sauerstoffbebandlung Erkrankungsfalle vor EinfUhrung des Inkubators Erkrankungen bei reifen Kindern

Pathophysiologie und Prophylaxe der Fruhgeborenenretinopathie

KIm. Mb!. Augenheilk. 199 (1991) 181

Tab. 3 Prophylaxe der Fruhgeborenenretinopathie

nopathia praematurorum zukornrnt. Die Retinopathie 1st erstoffmangels aufweist. Entscheidend 1st also eine sekuneine Folge der Blutveranderungen des Fruhgeborenen und dare Prävention durch Austausch der fetalen Erythrozydamit eine Sekundarerkrankung, die nur in einern be- ten gegen adulte. Die Prophylaxe rnuB früh genug durchstimrnten Lebensalter zur Manifestation kornmt. Die ku- gefuhrt werden. Eventuell ist eine Wiederholung des Erynische Symptornatik wird durch den Sauerstoffrnangel in throzytenaustausches erforderlich. Die technischen Mogder Netzhaut gepragt. lichkeiten fur die Diagnostik und die sekundäre Prävention sind heute vorhanden.

Prophylaxe Eine differenzierte Analyse der Pathogene-

se fuhrt zu neuen Chancen fur die Prophylaxe. Der entscheidende Parameter ist der in der Netzhaut verfugbare Sauerstoff. Die Neovaskularisationen sind als Zeichen einer chronischen Hypoxie in der Netzhaut zu deuten. Sie sind der Beweis dafUr, daB die Sauerstoffversorgung des Gewebes unzureichend ist. In den ersten 6 Lebensrnonaten kann es zu irreversiblen Netzhautschädigungen kommen, wobei die Moglichkeiten der später einsetzenden Therapie

begrenzt sind. Die Behandlungsmoglichkeiten und die Prognose werden vom Erkrankungsstadiurn bestirnmt.

Da die Geburt zu früh erfolgt, entsteht zur termingerechten Urnstellung auf adultes Blut em Intervall, das durch eine Hypoxie der Netzhaut gekennzeichnet ist. Deshaib muB der Wechsel zu adultem Blut ebenfalls vorgezogen werden, urn die Retinopathia praernaturorum zu vermeiden. Durch die verkurzte Schwangerschaft wird bei FrUhgeborenen fur die ersten Lebensrnonate der Sauerstofftransport zurn grol3en Tell von fetalern Blut Ubernommen. Dadurch entsteht eine zeitlich begrenzte, chro-

Die Indikalion zur Prophylaxe ist dann gegeben, wenn die Anfangsstadien der Fruhgeborenenretinopathie erkennbar und hohe Werte des fetalen Hamoglobins nachweisbar sind. Gegebenenfalls sind die Bestimmungen des fetalen Hamoglobins zu wiederholen. Eine Kryokoagulation der Netzhaut ist gegebenenfalls als begleitende Therapie erforderlich. Wenn auf diese Weise eine erfoigreiche Prophylaxe moglich ware, so wurde sich em indirekter Beweis fur die Richtigkeit der vorgesteilten Pathogenese ergeben.

Die Manifestation der retrolentalen Fibroplasie, die mit der EinfUhrung der Inkubatorbehandlung auftrat, karn nicht allein clurch die Sauerstoffbehandlung zustande, da es sich vielrnehr urn einen chronischen Sauerstoffmangel der Netzhaut handelt. Die Erkrankung trat deshaib auf, weil zu Beginn der vierziger Jahre Frtihgeborene erstmals eine Uberlebenschance nur mit Hilfe des Inkubators hatten. Die Inkubatorbehandlung mit Sauerstoff ist deshalb nicht Ursache der retrolentalen Fibroplasie sondern Voraussetzung für deren Manifestation.

Literatur nische Hypoxie der Netzhaut. Wenn diese Urnstellung volizogen 1st, d. h. wenn die Hypoxie beseitigt ist, kann es zur spontanen Regression kommen. Es mul3 deshaib ver- Addison, D. J., R. L. Font, W. A. Manschot: Proliferative retinopathy anencephalic babies. Amer. J. Ophthal. 74 (1972) 967 mieden werden, daB in dieser Zeitspanne die Netzhaut ir- in Andersen, S. R., F. Bro-Rasmussen, I. Tygstrup: Anencephaly related to reversibel geschadigt wird. ocular development and malformation. Amer. J. Ophthal. 64 (1967) 559

Von Bedeutung ist zunachst die prirnare Pravention, d.h. die Verhinderung der Fruhgeburt (Tabelle 3). Diese selbstverstandliche Forderung ist theoretisch richtig, aber nicht praxisbezogen, da die Moglichkeiten fur eine Reduzierung der Fruhgeburtenrate begrenzt sind. Diese SchluBfolgerung ergibt sich aus der umgekehr-

ten Korrelation zwischen Gestationsalter und Erkran-

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kungsrisiko.

Die sekundare Prävention verfolgt das Ziel, durch einen rechtzeitigen Erythrozytenaustausch die kritische Phase der Hypoxie zu verrneiden. Die physiologischen Bedingungen, die erst mit 6 Monaten erreicht werden, mUssen bereits frUher realisiert werden, wenn die Netzhaut durch GefaBproliferationen Zeichen eines Sau-

brecht v. Graefes Arch. Ophthal. 195 (1975) 113 Bruckner, H. L.: Retrolental fibroplasia associated with intrauterine anoxia? Arch. Ophthal. 80 (1968) 504 Campbell, K.: Intensive oxygen therapy as a possible cause of retrolental fibroplasia: a clinical approach. Med. J. Aust. II: (1951) 48 Crosse, V. M., P. J. Evans: Prevention of retrolental fibroplasia. Arch. Ophthal. 48 (1952) 83

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1. Primäre Prä vent/on Durch eine Verhinderung der FrUhgeburt wird das Erkrankungsrisiko deutlich reduziert 2. Sekunddre Prä vent/on a) Bestimmung der Hamoglobinfraktionen sofort nach der Geburt mit weiteren Kontro!len in den ersten 6 Lebensmonaten. Bei deutlich erhdhten Werten von HbF Austausch der fetalen gegen adulte Erythrozyten. UberprUfung der Hamoglobinfraktionen und evt. Wiederholung des Erythrozytenaustausches. b) Ophthalmoskopische Kontrolten in den ersten 6 Lebensmonaten. Wenn Veranderungen der Netzhaut zu beobachten sind, ist die Indikation zur Kryokoagulation in Abhangigkeit vom Erkrankungsstadium zu prufen. Die Untersuchungsintervalle ergeben sich aus dem Netzhautbefund, d. h. beim Nachweis von Veranderungen sind kürzere Abstände der Untersuchungen erforderlich.

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Manuskript erstmals eingereicht 27. 8. 1990, zur Publikation in der vorliegenden Form angenommen 1!. 9. 1990.

Prof. Dr. W. Hammerstein Universitats-Augenklinik Moorenstra!3e 5 D-4000 Düsseldorf

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[Pathophysiology and prevention of retinopathy of prematurity].

In premature infants there is a temporal and causal relation between the change in the erythropoiesis after birth and the manifestation of retinopathy...
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