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Pathogenese und Prävention der spastischen Hüftluxation B. Heimkes, S. Stotz, Th. Heid Orthopädische Universitäts-Poliklin ik Innenstadt der l MU München ( Ärztl. Direktor: Prof. Dr. H. J. Refior) und Spastiker-Zentrum München (Leiter: Prof. Dr. S. Stotz)

Anhand vo n Verla ufsbeobachtungen an 82 Hü ft en 41 spastischer Kind er wird ein pathogenetische s Modell der spastischen Hüftluxat ion vorgestellt, das neuere Kenntnisse über das no rmale Wachstum der kindlichen Hü fte miteinbezieht. Nach diesem Modell verursacht vo r allem die Minderaktivität der normalerweise varisie renden und der Antetorsio n entgegenwirkenden Mm . glutaei rnaxim us, rnedius, minimus et quadriceps femoris eine zuneh men de Coxa valga anteto rta subluxans mit konse kutiver Luxation . Will man die Luxation

verhindern, so muß man diese Muskelgruppen vermehrt aktivieren . Da der stärkste Stimulus für die luxationsverhindernden Hü ftabdukt or en , Hüft strecker, Hüftaußenrotato ren und Kniestrecker das Gehen ist. sollten stato moto risch begünstigte Kind er mög lichst frü hzeitig zum aufrechten Gehen gebrac ht werden . Unterstützend hierbei wirken muskelentspannende Operation en an den antagonistisch wirksamen H üftbeugern. -adduk tor en und -innenrotatoren sow ie den Kniebeugern. Diese Weich teiloperatio nen wirken auch beim schwerbehinderten, nicht gehfähige n Kind der Luxati on entgegen , a llerdings in begrenzte m Maße.

Einleitung

Die spa stisc he Hüftluxation kann gru ndsätzlich bei allen Schwer egraden und in a llen Altersstu fen cerebra lparetischer Kind er auftreten , besonders gefä hrdet sind jedoch Tet raplegiker mit große m statomoto rischen Rücksta nd . A n eine m eigenen Un tersuchungsgut (4) manifestierte sich die Luxat ion weitau s am häufi gsten im Alt er zwischen 2 und 7 Jahren mit einem Altersgip fel im 6. Leben sj ahr. Verfolgt man die Rön tgenverläu fe von Kindern, deren Hü ften letztendlich luxierten , so fäll t auf, daß sich die Luxatio n in drei zeitlich aneina ndergereihten Schritten vo llzieht : I. Au s einer primär völlig una uffälli gen H üfte entw icke lt sich eine starke Coxa valga anteto rta. 2. Der im An fan gsstadium noch gut erhaltene Gelenkschluß geht verloren, die H üft e dezentriert trotz radiologisch vo rerst noch un au ffäll iger P fanne. 3. Die Pfanne wälzt sich zunehme nd au s und ö ffnet dem Hü ftk opf den Weg zur Lu xat ion .

z. Orthop .

130 (1992) 413- 4 18

© 1992 F. Enke Verlag Stuttgart

Pathogenesis and Preventi on of Spastic Par alyt ic Dislocation of the Hip Based on retro spective analysis o f 82 hips of 41 pat ients with cerebral palsy, a path ogenetic mod el of spastic paralytic dislocation of the hip is introduced including recent ob servatio ns of the normal hip development. According to this model the reduced activity of the gluteus maxirnus, rnedi us, minimus and quadriceps femo ris muscles, which normally cause a decrease of valgus and anteversion, results in an increased sub luxating coxa va lga antetorta with a co nsecut ive dislocatio n , In o rder to prevent a disloca tion , these muscle groups have to und ergo increase d activation . Since walking has to be co nsidered the stro ngest stimulus fo r the dislocation -preventing hip abdu ctor s, hip extensors, outward rotators and knee extensors, the erect gait sho uld be enco uraged wit h stato moto rically favor ed child rens ear ly a s po ssib le. T his ca n be suppo rted by mu scel relaxing surgery of the antago nistically effective hip flexor s, hip adductors and inward rotato rs as weil as the knee flexors, These mu scle release op eratio ns will count eract , although to a limited extern, a dislocation even with a severely handicapped child who is unab le to walk,

Im folgend en soll die Path ogenese un d Prävention der spastischen Hüftluxation aus allgemeingültigen Wachstumsgesetzen hergeleitet werden . wie sie auch für das normale Wachstum der ges unden kindlichen Hüfte gelten . Die Fo rm de s no rma len un d pat ho logischen Hü ftgelenkes ist nach Taussig u . Mitarb . (19) und Siffert (18) durch Kräfte defini ert, die die H üft ko p fepiph yse sow ie die Trochanterapophyse im Wa chstum stimulieren. In eine r kürzlich veröffentlicht en Arbeit (5) haben wir diese Kräfte für die Situatio n des Einbeinstandes berechnet: Ents prechend der A bb . I wird das kin dlic he koxale Femurende durch zwei Kraftresultierende Rund RT beansprucht. Die Hüftgelenksresultierend e R wurde bereits von Pauwels (14) defi niert . Sie errechnet sich aus dem Körperteilgewicht G , sowie der Mu skelkr aft M a ller H üft abdu kto ren un d sti muliert da s Wa chstum der Epiph ysenplatte des H üftkop fes. Die Trochanterresullierende RT errechnet sich au s Mu skelkrä ft en der Mm. glutaei maximus, mediu s, minimus, tenso r fasciae latae sow ie Ante ilen der Knie stre ckmuskulatur. die über den M . va stus latera lis mit der Trochanterapophyse verbunden sind. Sie stimuliert die Trochanterapoph yse zu einem seitlich-

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Zusammenfassung

B. Heimkes und Milarb .

Z. Orthop. 130 (1992)

Abb. 1 Gs

Das ko-

xale Femu rende w ird durch zwei Kraftresultierende Rund RT beansprucht. Die Tro c hanterresultierende RT summ iert sich vektoriell aus dem Muske lkraftvektor M aller Abdukto ren sow ie aus dem Vekto r M Ise' Der Vektor M fse errec hnet sich aus der Traktusspannung sow ie aus Muskelkräften der Kniestrecket , die über den M. vastus lateralis m it der Troc hanterapophyse verbunden sind.

R

i

Abb . 2 Eine Minderaktivität der an der Trochanterapophyse wachstumst imul ierend w irkenden Mus kulatur verkür zt und ver lagert die Troc hanterresulti erende RT • Die Trochanterapophyse bleibt im seitlich kranialen Wachstum zurück, so daß sich die Hüftabduktoren senkrec ht stellen.

kranialen Wachstum . Über diesen Mechanismus wird die Richtung der Muskelresultierenden M sowie auch die Richtung der Hüftresultierend en R und letztendli ch der CCD-Winkel festgelegt. Zusammenfassend kann gesagt werden, daß die Mm . glutaei maximus, medius, minimus, tensor fa sciae latae und Anteile der Kniestrecker durch Stimulation des Trochanterapophysenwachstums varisierend wirk en. Berechnet man die Trochanterresultierende RT in der Ho rizontalebene, so zeigt sie leicht nach vorne und erklärt die physiologische Antetorsion des Schenkel halses. Die obengenannten Muskelgruppen wirken hier physiologischerweise der Antetorsion entgegen. Die Pathogenese der spastischen Hüftluxation läßt sich folgend ermaßen erklären: I. Zentral bedingte persistierende frühkindliche Reflexe und primiti ve Ersat zmot oriken führen an der Peripherie zu einem Muskelungleichgewicht mit geringer Akti vität der Mm. glutaei maximus, medius, minimu s sowie der Kniestr ecker bei gleichzeitig erhöhter Akti vität der zugehörigen Antagonisten. Es resultiert eine Hüftbeuge-Adduktions-Innenrotationsstellung der Hüfte, die wiederum die obengenannten Muskeln überdehn t und i . S. eines Circulus vitiosus weiter schwächt. 2. Der zentral bedin gte statomoto rische Rückstand der Cerebralparetiker führt dazu, daß die Kinder ungenügend Gewicht übernehmen und da s Gehen nicht oder nur mangelhaft erlernen. Da der in der Stemmphase des Gehen s eingenommene Einb einstand die oben genannten Muskelgruppen zu einer enormen Kraftl eistung zwingt, die dem 2- bis 3-fachen des Körper gewichtes entspricht , fehlt dem gehunfähigen Spastiker der stä rkste Stimulu s für die inakt ivität sgefährd eten Muskelgruppen des Hüftgelenkes. Seide Pathomechani smen inak tivieren leider genau die Muskelgruppen, die im biomechanischen Modell der Abb . I die Muskelsummenvektoren Mund M,,, bilden. Dies führt dazu , daß sich die Trochanterresultierende RT entsprechend der Abb . 2 stark verkürzt , der Tro chanter major wächst nurmehr ungenügend nach lateral -kranial. Das redu zierte Wach stum der Tro chanterap oph yse nach lateral wirkt sich in fataler Weise auch auf das Hüftgelenk selbst au s. Es füh rt dazu, daß sich die Wirkungslinie der Hüftabduktoren M als au ch die Wirkungslinie der Hüftgelenksresultierenden R vertikal stellen. Da sich Wachstum sfugen im rechten Winkel zu einwirkenden Kräft en orientieren, stellt sich die Epiphysenplatte horizontal. Dies wiederum läßt den Schenk elhal s nach kranial wachsen, wodu rch sich eine typische Coxa valga spastica entwickelt . Gleichzeitig verstä rkt sich die Femurantetorsion. Dieses Ph änomen ist zum einen auf die mangelhafte Funktion der normalerweise der Antetorsion entgegenwirkenden Glut äen zurü ckzuführen . Außerdem trifft die Trochanterresultierende RT aufgrund der pathologischen Innenrotationsstellung des spastischen Hüftgelenkes dorsalseitig auf die Trochanterapophyse, so daß diese nach dor sal wächst. Soba ld sich die Epiphysenfu ge waagerecht gestellt hat , ist die Hüfte dezentriergefährdet. Auch dieses Phänomen ist mit dem Pauwels' schen Hüftmod ell erklärbar. Die Hüftresultierende R ist nach Pauwels (15) in eine am Hüftgelenk vertikal wirksame Schubkraft sowie eine horizontal wirksame Schubkraft zerlegbar. Die vert ikale Schubkraft preßt den Hüftkopf gegen da s Pfannendach, die horizont ale Schubkraft drü ckt ihn im Sinne einer sta rken Zentrierung in den Pfannengrund . Ist nun die Hüftresultierende R sta rk geneigt, so ist die

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Pathogenese und Pr äventi on der spastischen Hüf tluxation

Tab . 1 Statomotorischer Ausgangsbefund von 41 luxationsgefährdeten Spastikern 10 Alter = 7,9 Jahre)

4 mange lnde Sitz kontro lle /

20 nicht gehfäh ig

"-

/

Ziel der vo rliegenden Untersuchung ist es. die theoretisch behauptete luxation sprophylak tische Wirkun g der Gewich tsübernahm e an klinischen Verläufen zu überprüfen. Zu diesem Zweck verglichen wir zwei Pa tientenkollektiv e, die aus einer annähernd gleichen statomotorischen und radiologi schen Ausgangsposition heraus mit identischen weichteilentspannenden Operationen behandelt wurden, wobei die Kinder des ersten Kollektivs zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung da s Gehen erlernt hatten, während diejenigen des zweiten Kollektivs kein Gewicht übern ehmen kon nten.

16 stehbereit

41 12 gehfähig m it Unte rstützung

-, Die vorangegangenen theoretischen Überlegungen lassen sich zur folgenden These zusammenfassen: Die Mlnderaktivit ät der Mm. glutaei maximus, medius, minimus so wie der Kniestrecker führen zur spastischen Coxa valga antetorta und zur spastischen Hüftluxation. Diese Minderaktivität ist zum kleineren Teil auf ein zerebral vorgegebenes Muskelun gleichgewicht , zum größeren Teil auf eine mangelnd e Gewichtsüberna hme infolge des allgemeinen statomotorischen Rückstandes zurückzuführen . Umge kehrt ist zu folgern , daß die Überna hme des Körpergewichts am ehesten geeignet ist, die spastische Coxa valga antetorta zu bessern und die Luxation zu vermeiden.

/ 2 1 gehfähig

9 frei gehf ähig

Abb. 3 Die Lage der Epiphysenfuge w urde mit dem Kopfepiphysen-Femurschaftw inkel KF vermessen. Dieser W inkel ist im Gegen satz zum gebräuch licheren Kopfep iphysen- y . Fugenw inkel EY von der Ab- oder Adduktion sstellu ng des Beines unabhängig .

Patientengut und Methode Entsprechend dem Ziel unserer Untersuchung sollten die Patientinnen/Patienten im statomotorisehen Au sgangsbefund nicht zu sehr stre uen, a nnä hernd gleiche radi ologische Befund e aufweisen und identi sch behandelt worden sein. Diese strengen Au swahlkriterien führten zu einem elektiven Patientengut von 41 Patienten mit 82 beobachtbaren Hüften . Zum Zeitpunkt des Ausgangsbefundes waren die Patientinnen/Patienten durchschnitt lich 7,9 Jahre alt, die Spannweite betrug 4-20 Jahre. Das Geschlechtsverhältn is weiblich: männlich war I: 1. 14 Pati enten hatten eine Diplegie, 27 eine Tetr ap legie. Alle Patienten hatten fixiert e Beuge-Adduktions-Innenrotationskontrakturen der Hüften, ihr statomo torischer Bef und ist der Tab. I zu entnehmen. Alle Patienten zeigten im radiologischen Ausgangsbefund Zeic hen einer dro henden Hüftluxa tion. Das Ausmaß der spastischen Coxa valga antetorta wurde

mit dem proj izierte n CC D-Winke l beurtei lt. Da eine Zunahm e des pro ji zierten CC D-Winkels sowo hl die Zunahme der Valgit ät als auch der Antetor sion des Schenkelhalses widerspiegelt, kann auf die Bestimmung des beim hüft kontrakt en Spastik ers wenig gena u meßbaren reellen CC D-Winkels verzichtet werden. Die Lage der Epiphysenfuge wurde mit dem in Abb. 3 dargestellten, gegen Ab- ,

415

Adduktions- und Rot ati on sstellun gen unem pfindlichen KF-Winkel beurteilt. Die Gelenkdeze nt rierung wur de mit dem CE-Winkel, das Pfann endach mit dem AC-Winkel vermessen. Die radiologischen Ausgangsbefunde sind der Tabelle 2 zu entnehmen. Alle Patienten wurden unmittelbar nach der Au sgan gsbefundurig mit einem Rectu s-Iliopsoas-Verbund nach Göb (2), sowie mit einer Adduktorentenot omi e von Hüftbeugeadduktion sinnenrotationskontrakturen befreit. Beim Rectus-Iliopsoasverbund werden von einem ventralen Hüftzugang aus der Ursprung des M. rectus femoris sowie der Ansatz des M. iliopsoas abgetrennt. Nach der nun möglichen Hü ftstrecku ng werden die beiden abgelösten Sehnenenden miteinander verkoppelt. Zusätzlich wird der Ursprung des M. sa rtorius nach distal in die Oberschenkelfaszie versetzt. Die Adduktorentenoto mie wurde in üblicher Weise am Scha mbein du rchgefüh rt, bis eine Abdu ktion von ca. 40 "_50 " möglich war . Postoperativ erhielten die Patienten für 6 Wochen einen Stehg ips in Hüftstreckung. Kniestr eckung, 20gradiger Hüftabdu ktion und leichter H üftau ßenrotati on . Nach Abnahme des Gipses wurden die Operierten mit Oberschenkelschienen in identi scher Stellung versorgt, die sie für mehrere Jahre nacht s anlegten.

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horizontale Schub kra ft groß, das Gelenk ist gut zent riert. Wenn nun die Hüftresult ierend e R senkrecht steht oder sogar nach auswärts schwenkt, so verschwindet die gelen kzentri erend e hori zontale Schubkraft . Es reichen dann zusätzliche, normalerweise nicht luxierende Impulse, z. B. eine Ad duk tion sstellun g des Beines aus, um die Hüfte zu dezent rieren . Der dezentrierte Hü ftkopf platte t sich dann medialseitig ab und wälzt die Pfann e soweit aus, daß eine Luxation möglich ist.

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B. Heimkes und Mitarb.

Z. Orthop. 130 (1992) Tab. 2 Radiologische Ausgangsbefunde von 41 luxationsgefährdeten Spastikern mit 82 beobachteten Hüften (0 Alter = 7,9 Jahre)

40 nicht gehfähig

CCD

KF-Y

CE

AC

151,0°

73,4°

14,6 °

20,4 °

82 42 gehfähig 145,3° 70,9° 19,2° 18,3° Signifikanz p:50,01 p:50,025 p:50,05 p>0,05

Tab. 3 Vergleich der radiologischen Ausgangs- und Endbefunde nicht gehfähiger Patienten (n=8 Hüften) CCD

KF

CE

AC

Ausgangsbefund' 151,0° ' 73,4° 14,6° ' 20,4° 145,5 ° 71,5 ° 26,4 ° 17,5 ° Endbefund Signifikanz p>0,05 p>0,05 p:0,005 p>0,05

Tab. 4 Vergleich der radiologischen Ausgangs- und Endbefunde von Patienten, die immer gehfähig waren oder das Gehen gelernt haben (n=74 Hüften) CCD Z

KF

CE

- der AC-Winkel mit Werten zwischen 18,3 ° und 20,4 ° grenzwertig pathologisch. Bei Vorgabe einer geringen Irrtumswahrscheinlichkeit von p:50,005 lassen sich im Vergleich von gehfähigen und nicht gehfähigen Patienten signifikante Änderungen der vier gemessenen Hüftparameter nicht nachweisen. 2. Zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung waren 37 von 41 Patienten gehfähig, 4 verblieben im Rollstuhl. Gegenüber dem Vorbefund der Tab. 1 erlernten also 17 der 21 nicht gehfähigen Patienten das eigenständige Fortbewegen. 3. Zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung zeigten die Hüften der nicht gehfähigen Patienten im Vergleich zum Ausgangsbefund die Werte entsprechend der Tab. 3. In dieser Gruppe von Patienten, die trotz Operation nicht gefähig wurden, entstammen bei einer Irrtumswahrscheinlichkeit von p > 0,05 der CCD-, KF- und der AC-Winkel einer Grundgesamtheit. Für den GE-Winkel läßt sich mit hoher statistischer Sicherheit (p: 0,005) ein signifikanter Unterschied zwischen Ausgangs- und Nachuntersuchungsbefund feststellen. 4. Zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung zeigten die Hüften der gehfähigen Patienten im Vergleich zum Ausgangsbefund die Werte der Tab. 4. In der Gruppe der zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung gehfähigen Patienten unterscheiden sich alle gemessenen Winkel des Ausgangs- und Nachuntersuchungsbefundes signifikant (p:50,005).

AC

Ausgangsbefund' 145,3° ' 70 9° 19 2° ' 18 3° Endbefund 137,9 ° 63,5 ° 32,8 ° 1 1 ,7 ° Signifikanz p:_0,005 p:_0,005 p:_0,005 p:0,005

Zum Zeitpunkt der Nachuntersuchung waren die Patienten bei einer Spannweite von 13-37 Jahren durchschnittlich 21 Jahre alt. Der Nachuntersuchungszeitraum betrug bei einer Spannweite von 5-20 Jahren durchschnittlich 13,1 Jahre. Der intraindividuelle Vergleich des Ausgangs- und Nachuntersuchungsbefundes wurde durch Überprüfung der Meßwerte mit dem T-Test nach Student für gepaarte Stichproben statistisch abgesichert. Der interindividuelle Unterschied zwischen den Werten gehfähiger und nicht gehfähiger Patienten wurde mit dem T-Test für ungepaarte Stichproben geprüft.

Ergebnisse 1. Zum Zeitpunkt der Ausgangsbefundung waren 40 Patienten nicht gehfähig und 42 gehfähig. Entsprechend der Tab. 2 war - der projizierte CCD-Winkel mit Mittelwerten von 145,3 ° (bei gehfähigen Patienten) und 151 ° (bei nicht gehfähigen Patienten) deutlich oberhalb des Normbereiches; - der KF-Winkel mit Werten von 70,9° und 73,4° deutlich oberhalb des Normbereiches; - der CE-Winkel mit Werten von 14,6° und 19,2° deutlich unterhalb des Normbereiches;

Diskussion Es soll als erstes das in der Einführung beschriebene und in Abb . 4 dargestellte Schema der Luxationsgenese diskutiert werden. Die verschiedenen Faktoren des Luxationsgeschehens werden hierin unterschiedlich gewichtet . Hier fällt auf, daß die minderaktivierten Mm. glutaei ins Zentrum des Luxationsgeschehens gerückt sind , während die klinisch auffälligeren , stark aktiven, antagonistisch wirkenden Flexoren und Adduktoren vernachlässigt sind. Zudem mag befremden , daß die Minderaktivität des M. quadriceps femoris die Luxation begünstigen soll. Wir sollen diese nicht nur didaktisch gemeinten Bewertungen folgendermaßen begründen: Die Conditio sine qua non einer spastischen Hüftluxation ist die vorher sich entwickelnde Coxa valga antetorta. Die Coxa valga antetorta wiederum kann nach den allgemeinen Gesetzen der kausalen Histogenese (Pauwels ( 14)) sowie nach den speziellen Wachstumsgesetzen der kindlichen Hüfte (Siffert ( 18), Taussig u. Mitarb. ( 19)) nur über pathologische Kraftwirkungen an der Hüftkopfepiphyse sowie der Trochanterapophyse entstehen . Da nach eigenen Untersuchungen (5) an diesen Wachstumsplatten die kleinen Glutäen , der M. glutaeus maximus und Anteile der über den M. vastus lateralis an die Trochanterapophyse angehefteten Kniestreckmuskulatur wirken, ist deren Minderaktivität im Luxationsgeschehen entscheidend. Die Hüftadduktoren sowie die Hüftbeuger und Kniebeuger üben aufgrund fehlender anatomischer Anbindung keine Kräfte auf die Trochanterapophyse aus, sie können also das Trochanterwachstum nie direkt beeinflussen. Dies schließt nicht aus, daß sie durch ihre Wirkung die Mm. glutaei sowie den M. quadriceps femoris überdehnen und schwächen und so indirekt zum Luxationsgeschehen bei-

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z. Orthop.

Pathogenese und Prävention der spastischen H üf tluxation

~

I

r

+

417

Zerebralparese ~

statomotorischer Rückstand

Übernahme des Körpergewichts ~

130 (1992)

r-

Muskelungle ichgewicht

m. glutaeus medius et mrrumus m. glutaeus maximus m. quadriceps femoris

...

l

Antagonisten

t

Coxa valga antetorta

Hüftgelenksinstabilitä t

Hüftkopf - I Pfannendeform ität

Hüftluxation Abb. 4 In der Pathoge nese der spastisc hen Hüft luxation spielt die Minderaktivität der Glutäen sowie der Kniestrecker die entscheiden de Rolle.

tragen. Desweiteren fällt im Schema auf, daß die mangelnde Übernahme des Körpergewichts in der Luxationsgenese als entscheidend ange sehen wird. Aus vielen Veröffentlic hungen z. B. von Samilson u. Mitarb. (17), Hoffer u. Mitarb . (8), Bleck (1), H iroshima und Ono (7) sowie Lonstein und Beck (11) ist bekann t, daß die Hüften stehund gehunfä higer Kinder häu fig, diejenigen gehfä higer Kinder nur ausnahmsweise luxieren. Phelps (16) beschreib t bereits 1959, daß sich die spast ische Coxa valga antetorta nach Hüftbelastung deutlich bessert. Das Ausmaß des muskulären Ungleichgewichts zwischen den Hüftstreckern, -abduktoren, -außenrotatoren und den Kniestreckern sowie deren Antagonisten scheint im Luxationsgeschehen eine untergeordnete Rolle zu spielen. So beobachteten Moreau u. Mitarb. (12), daß Kinder mit schweren Hüftbeugel Add uktionskontrakturen durchaus stabile Hüften haben können . Auch fällt auf, daß muskelgleichgewichtsverbessernde Operationen beim nicht stehund gehfähigen Patienten begrenzt luxationspro ph ylaktisch wirken. Die Coxa valga antetorta des Schwerbehinderten wird durch Weichteileingriffe nicht gebessert, die Luxation wird nach Griff ith u. Mitarb. (3), H ouk om u. Mitarb . (9), Helium (6) und Onim us u . Mitarb . (13) nur teilweise aufgehalten. Eine Windschlagdeformität mit schiefem Becken und asymmetrischer Hüfte beeinflußt das Luxationsgeschehen nicht in dem erwarteten Maße . Lonstein und Beck (11) konnten nachweisen, daß die Häufigkeit der Luxation nicht mit dem Ausmaß des Bekkenschiefstandes korreliert, nicht selten luxiert sogar die abduzierte Hüfte.

Im klinischen Teil der Arbeit wurden die Hüften mit dem projizierten CCD-Winkel, dem Kopfepiphysen-Femurschaft-Winkel KF, dem CE-Winkel nach Wiberg und dem AC-Winkel nach Hilgenreiner vermessen. Wä hrend der AC-Winkel und der CE-Wi nkel die Steilheit der Pfann e und die Zent rieru ng des Hüftkopfes in eindeutiger Weise bewerten, ist der projizierte CCDWinke l eingeschränkt aussagekräftig. Er kan n als gemeinsame r Parameter der reellen Valgität und Antetorsion gelten. In Zusammenschau mit dem KF-Winkel, der allein mit dem reellen CCD-Winkel kor reliert, ist jedoch eine orientierende Aussage über den Symptomenkomplex Coxa valga antetorta möglich . Im folgenden werden die Ergebnisse unserer Unters uchung diskutiert: Die Kinder unseres Patientengutes waren stato motorisch mitte lschwer behind ert. Schwerst behinderte ohne Aussicht auf Gewichtsüb ernahme sowie Leichtbe hinderte wurden nicht berücksichtigt. Dieser statomotorische Zustand führte im radiologischen Ausgangsbefund zur starken Coxa valga antetorta, zur beginnenden Hüftdezentrierung, nicht jedoch zur wesentlichen P fannendysplasie. Für diesen Patientenkreis mittel schwer Behinderter lassen sich aus den Ergebnissen drei wichtige Schlußfolgerungen ziehen : 1. Muskelentspannende Operationen der Hüftbeuger und Hüftadduktoren mit dementsprechender konsequenter Nachbehandlung bessern beim bereits präoperativ gehfähige n Patienten die Coxa valga antetorta, die Gelenkzentrierung und die Pfann endysplasie.

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Subluxation

Z. Orlhop. 130 (1992) Dieses Ergeb nis. das sich mit An gaben von

Kaien und Bleck (10) deckt, war zu erwarten, da die luxationsp rophylaktisch wirksamen Muskelgru ppen in dop pelter \Veise günstig beeinflußt werden: Zum einen gera ten die so wichtigen Hü ftstrecker und Hüftabdu ktoren in eine bessere Fu nktion sstellu ng, zum an deren werden die Patienten postoperat iv akt iver und überne hmen mehr und häufiger Körpergewicht. 2. Führen muskelentspannende Maßn ahm en dazu, daß ein vorher nicht gehfähiger Pat ient das Gehen lernt, so bessert sich die Coxa valga, die Gelenkzentrieru ng und die Pfannendysplasie.

Auch dieses Ergebnis ist grö ßtenteils auf die starke Stimulation der Hüftstrecker, Hüft abdukto ren und Kniestrecker beim Gehen zur ückzuführen. 3. Lern te ein gehunfähiger Patient nach der Mu skelent span nung das Gehen nicht, so persistierte die Coxa valga antetorta und die P fan nend ysplasie. die Gelenkkongruenz blieb erhalten. Die Persistenz der Co xa valga ant etorta sowie der P fannendysplasie läßt dar au f schließen, daß die alleinige Mu skelentspannung ohne Gewichtsüberna hme die luxa tion sverh ind ernd e Mu skul atur nicht vermehrt a ktivieren kann . Die a n un serem a usgewählten Pat ientengut gewonnene Erfahrung, daß die Gelenk kongruen z trotzdem erhalten blieb, ka nn nicht vera llgemeinert werden. Wir haben , wie andere Autoren, bei Schwerb ehinderten Luxationen trotz mu skelentspannender Op eration gesehen.

B. Heimk es und Mitarb . 5. Knöchern e Operationen greifen in der Kau salitätskette der spastischen Hüftluxation zu spät ein . Sie sind aus diesem Grund in der Pr ävention meist kontraindiziert.

Litera tur 1

2 3

4

S

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Klinische Kon seq uenz

Aus der Pathogenese der spastischen Hüftluxation sowie aus unseren Ergebnissen lassen sich folgende Regeln zur P rä vention der Hü ftlu xation aufstellen: 1. Die luxationsverhin de rnden Mm. glutae i medius , minirnus , maximus et qu adri ceps femo ris müssen vermeh rt a ktiviert , de ren Ant agonisten geschwäc ht werde n. 2. Der stä rkste Stimulus für diese luxat ionsverhindernden Mu ske lgruppen ist ein möglichst au frechtes außenrotiertes Gehen, wie dies Charly Chaplin in phant astisch überzeichneter Form gezeigt hat. Alle krankengymn astischen Therapiekonzepte sollten also darauf hinzielen, stato motorisch begünstigte Kinder möglichst früh zeitig zum aufrechten Gang zu brin gen . 3. Muskelentspannende Operati onen, die die Antagonisten der luxationsverhindernden Mus kelgruppen schwäc hen , sind insbesondere da nn sinnvo ll, wenn sie zur Gewichtsüb ernah me führen. 4. Mu skelentspannende Operation en bei Schwerbehinderten, die postoperativ kein Gewicht übernehmen können , wirken begrenzt luxation sproph yla ktisch.

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Dr. med. B. H eimtees

Orth op ädi sche Universitä ts-Po liklinik der LM U M ünchen Pettenk ofe rstr aße 8a 8000 Mün chen 2

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[Pathogenesis and prevention of spastic hip dislocation].

Based on retrospective analysis of 82 hips of 41 patients with cerebral palsy, a pathogenetic model of spastic paralytic dislocation of the hip is int...
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