Originalarbeit

Schmerzsymptome als Hinweis auf Depressionen und Angsterkrankungen bei PatientInnen an somatischen Krankenhausabteilungen Pain Symptoms as Predictors of Depressive or Anxiety Disorders in Patients with Physical Illness Autoren

Marion Freidl1, Peter Berger1, Andrea Topitz1, Heinz Katschnig2, Julie Williams3, Litvan Zsuzsa1, Ingrid Sibitz1

Institute

1

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

Keywords " pain ● " depression ● " anxiety disorder ● " psychiatric comorbidity ●

!

Anliegen: Ziel war den Zusammenhang zwischen Schmerzen und Depressionen sowie Angststörungen bei somatisch Kranken zu untersuchen. Methode: Schmerzen wurden bei 290 PatientInnen somatischer Krankenhausabteilungen mittels Fragebogen erfasst, die psychiatrischen Diagno-

Einleitung !

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1387563 Psychiat Prax © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0303-4259 Korrespondenzadresse Marion Freidl, MD Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien Währinger Gürtel 18–20 1090 Wien, Österreich [email protected]. at

Mehr als ein Viertel der Allgemeinbevölkerung innerhalb der EU klagen über verschiedene Schmerzen, wie eine kürzlich veröffentliche Übersichtsarbeit zeigt [1]. Auch ein Bericht aus Österreich [2] verweist auf eine hohe Prävalenz, so berichten mehr als ein Drittel der befragten Personen aus der Allgemeinbevölkerung über Schmerzsymptome innerhalb eines Jahres, vor allem Frauen sind häufig betroffen. In Allgemeinkrankenhäusern gelten Schmerzen als häufiges und oft unbehandeltes Problem [3]. Mehr als die Hälfte der PatientInnen auf internen [4] und chirurgischen Stationen leiden darunter [5]. Zahlreiche Studien weisen auf die hohe Komorbidität von Schmerzen und psychischen Krankheiten hin. Eine Untersuchung der Allgemeinbevölkerung in Neuseeland zeigt, dass mehr als die Hälfte der psychisch Kranken über mindestens ein Schmerzsymptom berichteten, im Unterschied zu nur einem Drittel der Personen ohne psychische Krankheit [6]. Dieses Ergebnis traf sowohl auf Angststörungen als auch auf affektive Erkrankungen zu. Vor allem das komorbide Auftreten von Schmerz und affektiven Krankheiten ist vielfach belegt [7]. Es ist von großer Bedeutung, psychiatrische Komorbiditäten körperlicher Krankheiten nicht zu übersehen, da es sonst zu langwierigen Verläufen sowie zu sozialen Behinderungen kommen kann

sen mittels eines standardisierten Interviews durch PsychiaterInnen. Ergebnisse: Somatisch Kranke mit einer komorbiden psychischen Krankheit leiden signifikant häufiger an Schmerzsymptomen. Schlussfolgerung: Schmerzen können ein wichtiger Hinweis auf das Vorhandensein von affektiven oder Angsterkrankungen sein.

[8 – 11], wodurch in Folge auch die Behandlungskosten steigen können [12 – 14]. Ein zentrales Problem ist die Tatsache, dass ein beträchtlicher Teil psychisch Kranker, die an somatischen Krankenhausabteilungen behandelt werden, von den Ärzten dieser Stationen nicht als psychisch krank erkannt werden. In einer österreichischen Studie wurden beispielsweise nur etwa die Hälfte aller psychischen Krankheiten erkannt [15]. Von zahlreichen Autoren war daher Routinescreening auf Depressionen diskutiert worden, um die Rate der als depressiv Erkannten zu erhöhen [16 – 18]. Allerdings war in der Vergangenheit auch der dafür nötige zusätzliche Zeitaufwand kritisiert worden [19], weswegen manche Autoren vorgeschlagen haben, Routinescreening auf Gruppen mit erhöhtem Risiko zu beschränken oder ein 2-stufiges Screening zu verwenden [20, 21]. Der Vorteil dieses Vorgehens ist, dass das umfassendere und aufwendigere Screening nur bei jenen Kranken durchgeführt wird, die eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für Depressionen oder Angsterkrankungen haben. Das Ziel der vorliegenden Studie war es daher (1) Zusammenhänge zwischen Schmerzsymptomen und besonders häufigen psychischen Krankheiten wie affektiven und Angsterkrankungen an somatischen Spitalsabteilungen zu untersuchen und (2) herauszufinden, ob das Vorhandensein von Schmerzsymptomen als „Präscreening“ vor der Verwendung umfangreicherer ScreeninginstruFreidl M et al. Schmerzsymptome als Hinweis … Psychiat Prax

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" Schmerz ● " Depression ● " Angsterkrankung ● " psychiatrische Komorbidität ●

Klinische Abteilung für Sozialpsychiatrie, Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Universität Wien, Österreich 2 Ludwig Boltzmann Institut für Sozialpsychiatrie, Wien, Österreich 3 Institute of Psychiatry, King’s College London, Großbritannien

Originalarbeit

Methodik !

Stichprobe Die StudienteilnehmerInnen wurden an den folgenden somatischen Abteilungen des Allgemeinen Krankenhauses der Stadt Wien – Universitätskliniken konsekutiv rekrutiert: Gastroenterologie und Hepatologie, Physikalische Medizin und Rehabilitation, Orthopädie, Augenheilkunde, Neurologie, Dermatologie, Nephrologie, Arbeitsmedizin sowie Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten. Das Allgemeine Krankenhaus der Stadt Wien ist als universitäres Zentralkrankenhaus mit zahlreichen Fachabteilungen und Ambulanzen eines der größten Spitäler Europas. Die PatientInnen mussten mindestens 18 Jahre alt sein, Ausschlusskriterien waren schwere kognitive Störungen, die mittels Verbal Fluency Examination [22] erfasst wurden. Die PatientInnen wurden ersucht, innerhalb einer Minute so viele Tiere zu nennen wie möglich, weniger als 13 Nennungen weisen auf eine schwere kognitive Störung hin. Weiters wurden PatientInnen, die nach klinischer Einschätzung an einer akutpsychotischen Episode litten und/oder nicht ausreichend Deutsch sprechen konnten, ausgeschlossen. Außerdem wurden PatientInnen von Intensivstationen ausgeschlossen. Potenzielle TeilnehmerInnen wurden an der jeweiligen somatischen Fachabteilung über den Inhalt der Studie aufgeklärt und zur Teilnahme an der Studie eingeladen. In der Folge wurden sie ersucht, eine Einwilligungserklärung zu unterschreiben. Diese Studie wurde von der Ethikkommission der Medizinischen Universität Wien genehmigt.

Erhebungsinstrumente Die StudienteilnehmerInnen wurden von den FachärztInnen den genannten somatischen Fachabteilungen ersucht, einen Fragebogen zu aktuellen Beschwerden (modifizierter Patient Questionnaire = PQm) auszufüllen. Innerhalb der nächsten 7 Tage wurden sie von einem Facharzt/einer Fachärztin für Psychiatrie mittels eines strukturierten diagnostischen Interviews (CIDI = Composite International Diagnostic Interview) untersucht. Die deutsche Version des PQm ist eine adaptierte Fassung des Patient Health Questionnaire, des Screeningteils des PRIME-MD, der als kurzes Interview zur Identifikation der häufigsten DSMIV-Diagnosen in Allgemeinpraxen entwickelt worden ist [23 – 25]. Diese modifizierte Fassung ist eine kurze und mit ICD-10Kriterien kompatible deutsche Version. Der PQm enthält 30 Ja/ Nein-Items bezüglich somatischer und psychischer Beschwerden innerhalb der letzten 4 Wochen. In der vorliegenden Studie wurden nur die 7 Fragen bezüglich Schmerzsymptomatik verwendet. Die psychiatrische Fallidentifikation wurde in einem einstufigen Ansatz mittels CIDI durchgeführt. Das CIDI ist ein standardisiertes und strukturiertes Interview zur Erfassung und Diagnostik psychiatrischer Krankheiten in nichtpsychiatrischen Settings und der Allgemeinbevölkerung im Rahmen epidemiologischer Untersuchungen. Jede einzelne diagnostische Sektion stellt eine getrennte Einheit dar, die separat verwendet werden kann. Für diese Studie wurden die Sektionen für affektive und Angsterkrankungen der deutschen ICD-10 Version [26] verwendet.

Freidl M et al. Schmerzsymptome als Hinweis … Psychiat Prax

Statistik Die Auswertungen erfolgten mithilfe von SPSS-Statistics in der Version 19. Die Ergebnisse wurden mittels deskriptiver Methoden beschrieben. Relative Häufigkeiten wurden mittels Z-Test auf signifikante Unterschiede geprüft. Zur Untersuchung der Frage, ob die Zahl der von den Kranken berichteten Schmerzen als Screening für psychische Krankheiten geeignet ist, wurden die folgenden Kennwerte der Kriteriumsvalidität berechnet: Sensitivität, Spezifität, Positive Predictive Value (PPV), Negative Predictive Value (NPV) und Overall Misclassification Rate (OMR). Als externe Gold-Standard-Fallkriterien wurden die mittels CIDI erstellten psychiatrischen Diagnosen verwendet.

Ergebnisse !

312 PatientInnen willigten ursprünglich in die Studienteilnahme ein, aber 22 erschienen nicht zum psychiatrischen Interview, daher konnten nur 290 PatientInnen tatsächlich eingeschlossen werden. Das Alter der StudienteilnehmerInnen betrug im Durchschnitt 48,7 Jahre (Standardabweichung = 16,1) und 54,1 % waren Frauen. Die folgenden somatischen Diagnosen (ICD-10) wurden am häufigsten als Hauptdiagnosen gestellt: infektiöse Erkrankungen (41,4 %), gefolgt von Erkrankungen des Muskel- und Skelettsystems (21,4 %), Erkrankungen der Augen oder des Ohres (7,9 %) und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (6,9 %). Rund ein Drittel (35,2 %) der 290 PatientInnen somatischer Krankenhausabteilungen erhielt aufgrund des CIDI-Interviews eine psychiatrische Diagnose, wobei affektive Krankheiten (25,5 %) etwas häufiger vorkamen als Angsterkrankungen (22,1 %). Etwa ein Achtel der Stichprobe (12,1 %) litt sowohl unter einer affektiven als auch unter einer Angsterkrankung. Bei den affektiven Störungen handelte es sich am häufigsten um (teilweise rezidivierende) depressive Episoden (21,4 %), gefolgt von Dysthymien (4,1 %). Die häufigsten Angsterkrankungen waren spezifische Phobien (8,6 %) und generalisierte Angststörungen (8,3 %), gefolgt von Agoraphobie (5,2 %). 247 (85,2 %) der 290 PatientInnen litten an mindestens einem Schmerzsymptom, 62,8 % gaben an über 2 oder mehr Schmerz" Tab. 1). Am häufigsten wurde über symptomen zu leiden (● Schmerzen in den Extremitäten (59,0 %), im Rücken (54,1 %) oder " Tab. 2). im Kopf (39,7 %) berichtet (● Tab. 1 Zahl der unterschiedlichen Schmerzsymptome in der gesamten Stichprobe.

Zahl der Schmerzsymptome

n

%

0

43

14,8

1

65

22,4

2

64

22,1

3

54

18,6

4

37

12,8

5

17

5,9

6

7

2,4

7

3

1,0

290

100,0

gesamt

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mente eine sinnvolle Option zum besseren Erkennen von affektiven und Angsterkrankungen darstellt.

Originalarbeit

gesamte

Patienten ohne

Patienten mit

Stichprobe

psychiatrische

psychiatrischer

(n = 290)

Diagnose

Diagnose

(n = 187)

(n = 103)

z-Test

p

%

%

%

Gliederschmerzen

59,0

53,5

68,9

– 2,637

< 0,01

Rückenschmerzen

54,1

46,0

68,9

– 3,922

< 0,01

Kopfschmerz

39,7

31,6

54,4

– 3,819

< 0,01

Magenschmerzen

24,8

16,6

39,8

– 4,190

< 0,01

Schmerz beim Urinieren

15,2

16,6

22,3

– 1,158

n. s.

Brustschmerz

13,1

8,6

27,2

– 3,843

< 0.01

Schmerz beim Geschlechtsverkehr

18,6

10,7

17,5

– 1,555

n. s.

Überlappungen von Schmerzsymptomen (Zeilenprozente).

Magen-

Rücken-

Glieder-

Schmerz beim

Schmerz beim Ge-

Kopf-

schmerzen

schmerzen

schmerzen

Urinieren

schlechtsverkehr

schmerz

Brustschmerz

Magenschmerzen (n = 72)



77,8 %

76,4 %

33,3 %

23,6 %

61,1 %

27,8 %

Rückenschmerzen (n = 157)

35,7 %



70,7 %

22,3 %

18,5 %

47,1 %

18,5 %

Gliederschmerzen (n = 171)

32,2 %

64,9 %



20,5 %

15,8 %

49,1 %

19,9 %

Schmerz beim Urinieren (n = 54)

44,4 %

64,8 %

64,8 %



27,8 %

37 %

24,1 %

Schmerz beim Geschlechtsverkehr (n = 38)

44,7 %

76,3 %

71,1 %

39,5 %



57,9 %

28,9 %

Kopfschmerz (n = 115)

38,3 %

64,3 %

73,0 %

17,4 %

19,1 %



27,0 %

Brustschmerz (n = 44)

45,5 %

65,9 %

77,3 %

29,5 %

25 %

70,5 %



PatientInnen mit Depressionen oder Angsterkrankungen berichteten signifikant häufiger über Schmerzen in den Extremitäten, " Tab. 2). Paim Rücken, im Kopf, im Magen und in der Brust (● tientInnen mit psychiatrischen Diagnosen gaben minimal öfter Schmerzen beim Urinieren oder beim Geschlechtsverkehr an, auch wenn diese Unterschiede nicht signifikant waren. PatientInnen mit psychiatrischer Komorbidität (94,2 %) gaben signifikant häufiger (z-Test: z = 3,260; p < 0,01) an, zumindest ein Schmerzsymptom zu haben als dies von jenen ohne psychiatrische Komorbidität angegeben wurde (80,2 %). In ähnlicher Weise wurden 3 oder mehr Schmerzsymptome von jenen mit psychiatrischen Krankheiten signifikant öfter berichtet (63,1 vs. 28,3 %; z-Test: z = 6,129; p < 0,01). Um der Frage nachzugehen, ob es einzelne Schmerzsymptome gibt, die nur selten oder besonders häufig gemeinsam mit anderen Schmerzsymptomen auftreten, wurden die relativen Häufigkeiten jedes einzelnen Schmerzsymptoms bezogen auf jedes an" Tab. 3 zeigt, dass mehr als dere Schmerzsymptom berechnet. ● die Hälfte all jener, die unter irgendeinem Schmerzsymptom litten, zugleich auch Rücken- oder Gliederschmerzen hatten. Die höchsten Überlappungen fanden sich bei folgenden Schmerzen: 77,8 % jener, die in den letzten 4 Wochen Magenschmerzen hatten, hatten auch Rückenschmerzen; und 77,3 % jener, die Brustschmerzen berichteten, hatten auch unter Gliederschmerzen gelitten. Es zeigte sich, dass Schmerzen beim Urinieren und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr etwas seltener überlappend mit anderen Schmerzen auftraten, allerdings fanden sich auch hier Raten von mehr als einem Viertel bzw. mehr als einem Drittel komorbider Schmerzen. Zur Untersuchung der Frage, ob die Zahl der von den Kranken berichteten Schmerzen einen Hinweis auf das Vorhandensein einer affektiven oder Angsterkrankung geben kann, wurden für alle möglichen Cut-off-Werte die Kennwerte der Kriteriumsvalidität " Tab. 4). Es zeigte sich, dass bei einem Cut-off von ≥ 3 berechnet (● für alle 3 diagnostischen Gruppen (Angsterkrankungen, Affektive

Erkrankungen, Kombination beider Diagnosegruppen) die Sensitivität und die Spezifität am nächsten beisammen lagen und somit psychisch Kranke und psychisch Gesunde eine ähnlich hohe Chance haben, richtig erkannt zu werden. Abhängig von der diagnostischen Gruppe lag die Sensitivität zwischen 60,9 und 68,9 %, die Spezifität zwischen 65,0 % und 71,7 %. Die Overall Misclassification Rate lag für diesen Cut-off zwischen 31,0 und 35,9 %.

Diskussion !

Diese Studie verfolgte das Ziel, mögliche Komorbiditäten von Schmerzsymptomen und psychischen Krankheiten bei PatientInnen von somatischen Krankenhausabteilungen zu erfassen, sowie die Bedeutung von Schmerzsymptomen als mögliche Indikatoren für psychische Erkrankungen zu untersuchen. Es zeigt sich, dass mehr als fünf Sechstel (85 %) der von uns untersuchten PatientInnen zumindest an einem Schmerzsymptom litten. Diese Zahl ist höher als in anderen Untersuchungen [3, 4]. Eine mögliche Erklärung dafür ist, dass die TeilnehmerInnen unserer Studie nur gefragt wurden, ob sie irgendwann innerhalb der letzten 4 Wochen Schmerzen hatten. Die Zeitspanne war also deutlich kürzer als in anderen Untersuchungen, die das kontinuierliche Vorliegen von Schmerzsymptomen über einen längeren Zeitraum forderten [27]. Der systematische Ausschluss von schweren kognitiven Störungen mittels Verbal Fluency Examination ist eine Stärke der vorliegenden Studie. Die Tatsache, dass die psychiatrischen ICD-10-Diagnosen von FachärztInnen für Psychiatrie auf Basis eines Forschungsinterviews gestellt wurden, erhöht die Validität der gestellten Diagnosen. Die Erhebung der Schmerzen erfolgte pragmatisch mittels eines kurzen Fragebogens, weshalb Schmerzstärke, -dauer und mögliche somatische Ursachen nicht erhoben wurden. Somit können manche diagnostische Fragestellungen im Zusammenhang mit den Schmerzsymptomen nicht genauer Freidl M et al. Schmerzsymptome als Hinweis … Psychiat Prax

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Tab. 3

Tab. 2 Häufigkeiten von Schmerzsymptomen bei PatientInnen mit und ohne psychiatrische Diagnose (Depression bzw. Angsterkrankung).

Originalarbeit

Sensitivität

Spezifität

PPV

NPV

OMR

(%)

(%)

(%)

(%)

(%)

≥1

94,2

19,8

39,3

86,0

53,8

≥2

78,6

46,0

44,5

79,6

42,4

≥3

63,1

71,7

55,1

77,9

31,4

≥4

38,8

87,2

62,5

72,1

30,0

≥5

18,4

95,7

70,4

68,1

31,7

≥6

5,8

97,9

60,0

65,4

34,8

≥7

0,0

98,4

0,0

64,1

36,6

≥1

93,2

17,6

27,9

88,4

63,1

≥2

81,1

43,5

33,0

87,0

46,9

≥3

68,9

69,0

43,2

86,6

31,0

≥4

44,6

85,6

51,6

81,9

24,8

≥5

23,0

95,4

63,0

78,3

23,1

≥6

8,1

98,1

60,0

75,7

24,8

≥7

0,0

98,6

0,0

74,2

26,6

≥1

95,3

17,7

24,7

93,0

65,2

≥2

78,1

41,6

27,5

87,0

50,3

≥3

60,9

65,0

33,1

85,5

35,9

≥4

39,1

82,7

39,1

82,7

26,9

≥5

20,3

93,8

48,1

80,6

22,4

≥6

7,8

97,8

50,0

78,9

22,1

≥7

0,0

98,7

0,0

77,7

23,1

affektive oder Angsterkrankung Cut-off

Tab. 4 Kennwerte der Kriteriumsvalidität: Anzahl berichteter Schmerzsymptome mit affektiven bzw. Angsterkrankungen entsprechend CIDI und ICD-10 als externem Fallkriterium.

affektive Erkrankung

Angsterkrankung Cut-off

untersucht werden [7, 28], allerdings ermöglichte die Erhebung mittels Fragebogen eine einfache und schnelle Erfassung. Rund ein Drittel der StudienteilnehmerInnen erhielten eine psychiatrische Diagnose im Sinne einer affektiven oder Angsterkrankung. Personen mit einer psychiatrischen Komorbidität berichteten signifikant häufiger von zumindest einem Schmerzsymptom als psychiatrisch Gesunde (94 vs. 80 %). Die Berichte früherer Studien, dass Zusammenhänge zwischen der Anzahl der Schmerzsymptome und komorbiden psychischen Krankheiten bestehen, konnten auch in unserer Studie bestätigt werden [29, 30]. Glieder-, Rücken- und Kopfschmerzen waren die Lokalisationen, die am häufigsten berichtet wurden. Wenn man die einzelnen Schmerzsymptome untersucht, zeigte sich, dass mit Ausnahme von Schmerzen beim Urinieren und Schmerzen beim Geschlechtsverkehr alle signifikant häufiger bei Patienten mit einer psychiatrischen Komorbidität berichtet wurden. Dies stimmt mit anderen Studien überein [31]. Mehr als drei Viertel jener, die in den letzten 4 Wochen Magenschmerzen hatten, hatten auch Rückenschmerzen; und ebenfalls mehr als drei Viertel jener, die Brustschmerzen berichteten, hatten auch unter Gliederschmerzen gelitten. Die Tatsache, dass dieselben Personen häufig 2 oder mehr Schmerzsymptome berichten, wirft daher die Frage auf, wie spezifisch die einzelnen Lokalisationen als Hinweis auf eine Depression oder Angsterkrankung sein können. Personen mit derartigen psychischen Krankheiten hatten signifikant häufiger über 3 oder mehr Schmerzsymptome berichtet. Die Untersuchung der Frage, ob die Zahl der berichteten Schmerzsymptome als Hinweis auf eine Depression oder Angsterkrankung gewertet werden kann, wurde durch die Analyse aller möglichen Cut-offs des Summenscores der Schmerzsymptome untersucht. Es zeigte sich, dass bei einem Cut-off von ≥ 3 für Freidl M et al. Schmerzsymptome als Hinweis … Psychiat Prax

Depressionen und Angststörungen als auch die Kombination beider Krankheitsbilder die Sensitivität und die Spezifität am nächsten beisammen lagen. Bei diesem Cut-off haben also psychisch Kranke und psychisch Gesunde eine ähnlich hohe Chance richtig erkannt zu werden. Sowohl die Sensitivität als auch die Spezifität für diesen Cut-off sind für Depressionen mit jeweils 69 % und für Angsterkrankungen mit 61 bzw. 65 % nur als moderat zu bezeichnen. Es findet sich allerdings eine Reihe von Studien, die für häufig verwendete Screeningfragebögen ähnliche Ergebnisse berichten: Burke et al. [32] fand für die 15-Item-Version der Geriatric Depression Scale eine Sensitivität von 60 % und eine Spezifität von 66 %. Van Marwijk et al. [33] berichten mit 67 und 73 % nur ein gering besseres Ergebnis. Für die 30-Item-Version der Geriatric Depression Scale gaben Burke et al. [34] 61 bzw. 58 % an. Natürlich finden sich auch Studien mit deutlich besseren Validitätskennwerten für die GDS und andere der üblichen Screeningfragebögen wie beispielsweise Rinaldi et al. [35] mit 92 bzw. 83 %. Für die im letzten Jahrzehnt wiederholt vorgeschlagenen Kurzscreenings wurden aber immer Ergebnisse gefunden, die jenen dieses Schmerzfragebogens entsprechen. Blank et al. [36] berichtete für die beiden Fragen des PRIME-MD 79 % Sensitivität bzw. 58 % Spezifität und für den „Yale 1 Question Screen“ jeweils 64 %. Insgesamt müssen aber Werte für die Sensitivität und Spezifität zwischen 60 und 70 %, wie wir sie für die Summenscores der Schmerzsymptome fanden, als allein nicht ausreichend beurteilt werden, da dies bedeuten würde, dass rund ein Drittel der psychisch Kranken übersehen würde und rund ein Drittel der Gesunden irrtümlich als psychisch krank gewertet würden. Da Screening aber zeitaufwendig ist [19], war angeregt worden, Routinescreening auf Gruppen mit erhöhtem Risiko zu beschränken oder ein 2-stufiges Screening zu verwenden [21]. Aus diesem Grund wurde der Frage nachgegangen, ob das Vorhandensein

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Cut-off

Originalarbeit

Konsequenzen für Klinik und Praxis

▶ Es ist sehr wichtig, Depressionen und Angststörungen bei PatientInnen somatischer Krankenhausabteilungen nicht zu übersehen, um langwierige und schwierige Krankheitsverläufe zu vermeiden. ▶ PatientInnen, die über 3 oder mehr Schmerzsymptome klagen, haben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine Depression oder Angsterkrankung. ▶ PatientInnen mit Schmerzsymptomen sollten besonders aufmerksam auf psychische Krankheiten untersucht werden.

Interessenkonflikt !

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Abstract

Pain Symptoms as Predictors of Depressive or Anxiety Disorders in Patients with Physical Illness !

Objective: The aim of this study was to investigate the frequency of pain symptoms reported by patients of non-psychiatric hospital departments and to explore their association with affective and anxiety disorders. Methods: Patients of non-psychiatric hospital departments (n = 290) reported pain symptoms by filling in a self-rating questionnaire. Psychiatric examinations were performed by psychiatrists using a structured diagnostic interview. The sum-scores of self-reported pain symptoms were tested for their screening accuracy for anxiety and depression.

Results: Patients suffering from affective or anxiety disorders reported significantly more often three or more pain symptoms (63 % vs. 28 %). Using a cut-off value of ≥ 3 of self-reported pain symptoms yielded a sensitivity of 63.1 % and a specificity of 71.7 %. Conclusions: These findings highlight the relevance of a higher number of pain symptoms as a possible indicator for affective and anxiety disorders. The use of pain symptoms as pre-screening for depression and anxiety might be a useful tool, but needs further research before it can be recommended.

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Freidl M et al. Schmerzsymptome als Hinweis … Psychiat Prax

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von Schmerzsymptomen als „Präscreening“ vor der Verwendung umfangreicher Screeninginstrumente einen möglicherweise sinnvollen Ansatz bietet. Wenn man ein solch 2-stufiges Verfahren verwendet, sollte beim ersten wenig zeitaufwendigen Screening eine eher höhere Sensitivität gewählt werden, die auch auf Kosten der Spezifität gehen kann, da ja ohnehin in einem zweiten Schritt mit einem aufwendigeren und genaueren Screeninginstrument untersucht wird [21]. In unserer Studie fand sich bezüglich der Zahl der berichteten Schmerzsymptome bei einem Cut-off von ≥ 2 eine Sensitivität zwischen 78 und 81 %, allerdings nur eine Spezifität zwischen 42 und 46 %. Wenn man all jene, die zumindest 2 verschiedene Schmerzsymptome berichten, dann in der Folge mit einem der üblichen, längeren Screeninginstrumente untersucht, könnte das Zeit sparen, da die Frage nach Schmerzen im klinischen Alltag häufig routinemäßig gestellt wird und keinen zusätzlichen Zeitaufwand darstellt. Wie Alexandrowicz et al. [21] an Modellrechnungen zeigen konnten, kann durch eine solche Kombination außerdem die Validität des gesamten Screeningprozedere gesteigert werden, wodurch auch weniger Kranke dann eine genaue ärztliche Untersuchung durchlaufen müssen. In den Modellrechnungen dieser Autorengruppe zeigte sich, dass auf diese Weise eine Zeitersparnis von mehr als 40 % erzielt werden könnte. Die hier vorgestellten Ergebnisse können allerdings nicht als Nachweis für das Funktionieren dieses Vorschlags gewertet werden. Sie sind vielmehr nur ein erstes vorläufiges Ergebnis, das erst in Folgestudien gezielt untersucht werden müsste, bevor es im klinischen Alltag verwendbar ist [37].

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Freidl M et al. Schmerzsymptome als Hinweis … Psychiat Prax

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Originalarbeit

[Pain Symptoms as Predictors of Depressive or Anxiety Disorders in Patients with Physical Illness].

The aim of this study was to investigate the frequency of pain symptoms reported by patients of non-psychiatric hospital departments and to explore th...
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