Tt7 DEUTSCHE MEDIZiNISCHE WOCHENSCHRIFT

Nr. 36 Jahrgang 103

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Stuttgart, 8. September 1978

Immigranten-Osteomalazie in Deutschland G. Offermann Medizinische Klinik und Poliklinik der Freien Universität Berlin

Der Begriff der Immigranten-Osteomalazie wurde in

Jahr. Die Patientinnen klagten übereinstimmend über

England geprägt. Hier fiel eine bemerkenswerte Häufung von Spätrachitiden und von Osteomalazien im jüngeren Erwachsenenalter bei indischen und pakistanischen Einwanderern auf (3, 7, 12), die bei ethnisch und im sozialen

Schmerzen und Schwäche in der proximalen Beinmuskulatur, die sie beim Gehen und besonders beim Treppen-

steigen erheblich beeinträchtigten. Typisch war die Unfähigkeit, sich ohne Hilfe der Händé von einer niedrigen Sitzgelegenheit zu erheben. Daneben wurden tiefsitzende Rückenschmerzen und Schmerzen im unteren Thoraxbereich angegeben. Alle Patientinnen hatten eine ausgeprägte Hypocalciämie und eine deutliche Erhöhung

Status vergleichbaren Bevölkerungsgruppen in Indien

nicht zu beobachten war (6). Da Erkrankungen an Rachitis und Osteomalazie bei westindischen (7), afrikanischen und chinesischen (S) Einwanderern weitaus sel-

tener sind, wurde bislang davon ausgegangen, daß die Immigranten-Osteomalazie auf Inder und Pakistani be-

der alkalischen Phosphatase, das Serum-Phosphat war

schränkt sei. Kürzlich wurde jedoch mitgeteilt, daß auch in Deutschland bei türkischen Gastarbeitern und ihren Angehörigen eine auffällige Häufung osteomalazischer Skeletterkrankungen zu beobachten ist (10). In dieser Unteruchung wurden in Berlin lebende Türken unterschiedlicher Altersgruppen mit entsprechenden Gruppen der deutschen Bevölkerung verglichen. In allen untersuchten Altersstufen (Neugeborene und ihre -Mütter, Kinder, Adoleszente und jüngere Erwachsene) bestand bei den Türken eine klinisch-chemisch nachweisbare Tendenz zum Vitamin-D-Mangel, der sich besonders deutlich an niedrigen 25-Hydroxyvitamin-D-Konzentrationen im Serum erkennen ließ. Klinisch manifeste

ließ sich die Diagnose einer Osteomalazie durch - den Nachweis einer niedrigen 25-Hydroxyvitamin-D-Konzentration und eines deutlich erhöhten immunreaktiven -

dagegen in den meisten Fällen normal. Klinisch-chemisch -

Parathormons erhärten. Daß die Diagnose trotz der typischen Symptome meist erst spät gestellt wurde, ist vermutlich mit der relativen Seltenheit von Vitamin-DMangelerkrankungen in Deutschland zu erklären. Osteomalazien werden überwiegend bei MalassimilationsSyndromen infolge gastrointestinaler Erkrankungen oder nach langjähriger Antikonvulsiva-Therapie angetrôffen, so daß ein Vitamin-D-Mangel bei sonst gesund erscheinenden Patienten selten in Erwägung gezogen

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Die inzwischen zunehmende Zahl bioptisch oder

wird. Über die Ursachen der Immigranten-Osteomalazie können bislang nur Vermutungen angestellt werden. Anfang des Jahres 1977 wurde in englischen Fachzeitschriften eine lebhafte Leserdiskussion zu dieser Frage geführt (1, 2, 4,

röntgenologisch gesicherter Vitamin-D-Mangelerkran-

8, 9, 11). Neben Vitamin-D-armer Ernährung und ge-

kungen bei türkischen Gastarbeiterfrauen, Kindern und Adoleszenten weist darauf hin, daß die ImmigrantenOsteomalazie auch in Deutschland ein beachtenswertes Problem darstellt. Die Diagnose dieser Erkrankung wird bei den türkischen Patienten jedoch offenbar häufig verfehlt. Bei sechs türkischen Frauen mit fonder und durch Knochenhistologie gesicherter Osteomalazie lag die durchschnittliche Zeit, die sie mit typischen Beschwerden unter anderen Diagnosen behandelt wurden, über ein

ringer Sonnenexposition wurde vermutet, daß der Genuß -

Osteomalazien wurden vor allem bei jüngeren türkischen Frauen gefunden, die mehrere Schwangerschaften ausgetragen hatten.

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von »Chapatty-Mehl« zum Vitamin-D-Mangel führe, daneben wurde eine Störung der hepatischen 25-Hydroxylierung des Vitamins D bei geringer Zufuhr tierischer Eiweiße erwogen. In Deutschland lebende Türken backen ihr Brot zwar - ähnlich wie Inder und Pakistani in England - oft selbst, verwenden dazu jedoch handelsübliches deutsches Mehl und nicht das hochextrahierte »Chapatty-Mehl«. Die Sonnenexposition ist aufgrund

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Dtsch. med Wsthr 103 (1978), -1387-1388 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

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Deutsche Medizinische Wochenschrift

Offerrnann: Immigranren-Osteomalazie in Deutschland

traditioneller und religiöser Lebens- und Bekleidungsgewohnheiten bei türkischen Gastarbeitern - besonders,

wenn sie aus der Mittel- oder Osttürkei stammen möglicherweise niedrig, sodaß die in deutschen Industriebezirken im Vergleich zur Türkei geringe UV-Lichteinwirkung zum Vitamin-D-Mangel beitragen könnte. Eine schlüssige Erklärung für die erhobenen Befunde kann - ähnlich wie bei den Untersuchungen an Immigranten in England - bislang nicht gegeben werden. Zur klinischen Manifestation des durchschnittlich bei türkischen Gastarbeitern und ihren Angehörigen zu beobachtenden

Vitamin-D-Mangels scheint es unter besonderen Belastungssituationen wie Wachstumsphasen, Schwangerschaften und langen Stilizeiten zu kommen. Die rachitischen und osteomalazischen Skelettveränderungen bei türkischen Gastarbeitern sind mit niedrigen Vitamin-D3-Dosen gut beeinflußbar. Nach initialer Gabe von S-10 mg Vitamin D3 (200 000-400 000 lE) und Fortsetzung der Behandlung mit einer Tagesdosis von 0,075 mg Vitamin D3 (3000 lE) tritt durchschnittlich nach 6 Wochen eine deutliche Besserung der Beschwerden ein, bis zur Normalisierung der klinisch-chemischen

Immigranten-Osteomalazie in Erwägung gezogen und eine Messùng von Serum-Calcium und alkalischer Phosphatase veranlaßt wird. Literatur BahI, M. R. Vitamin D status in different subgroups of British Asians. Brit. med. J. 1977/1, 104.

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und röntgenologischen Befunde vergehen jedoch oft mehrere Monate. Eine Vitamin-D-Prophylaxe erscheint bei der insgesamt großen Risikogruppe nicht praktikabel. Die Diagnose läßt sich jedoch frühzeitig stellen, wenn bei typischen Beschwerden türkischer Gastarbeiter eine

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[Osteomalacia of immigrants in Germany].

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