Nr. 41,

10.

Oktober 1975,

100. Jg.

Filigel: Organisch hegriindcte psychiatrische Befunde bei Alkoholahhiingigen

Aktuelle Diagnostik

2105

Redaktion: Prof. Dr. H. Hornbostel, Hamburg Prof. Dr. W. Kaufmann, Köln Prof. Dr. W. Siegenthaler, Zürich

Dtsch. med. Wschr. 100 (1975), 2105-2107 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Organisch begründete psychiatrische Befunde bei Alkoholabhängigen

Typen und Stadien des Alkoholismus Einer Einteilung Jellineks (7) folgend, werden folgende Typen und Stadien des Alkoholismus unterschieden: Als Alpha-Typ wird ein zeitweiliger Abusus ohne Kontroliverlust und ohne physische Abhängigkeit nach der Art des Erleichterungstrinkens (zum Beispiel zur Konfliktbewältigung) bezeichnet. Der Beta-Typ stellt einen episodischen, nicht regelmäßigen Abusus ohne Abhängigkeit dar, der jedoch mit körperlichen Folgeschäden verbunden sein kann. Es handelt sich dabei um Schäden, deren Entstehen keine kontinuierliche Alkoholahhängigkeit zur Voraussetzung h at, zum Beispiel Zirrhose, Gastritis oder Polyneuropathie. Zum Beta-Typ gehören vor allem die sogenannten Gelegenheitstrinker. Der Gamma-Typ des Alkoholismus ist gekennzeichnet durch siichtiges Trinken mit psychischer und physischer Abhängigkeit und Kontrollverl ust. Der Kranke kann, sobald er begonnen hat, nicht aufhören zu trinken, es kommt zur Toleranzerhöhung mit Dosissteigerung und zu Abstinenzsymptomen bei Unterbrechungen der Trinkgewohnheit. Als Delta-Typ wird ein kontinuierlicher Alkoholismus mit Unfähigkeit zur Abstinenz und erheblicher physischer und psychischer Abhängigkeit bezeichnet. In diese Kategorie fallen die Gewohnheitstrinker, die ständig unter Alkoholeinfluß stehen, aber wenig akute Rauschsymptome erkennen lassen. Nicht selten geht ein Alpha- oder Beta-Typ quasi als Prodromalphase später in den Gamma- oder Delta-Typ über. Als eine weitere Sonderform gilt der Epsilon-Typ, der durch periodische Trinkexzesse mit Kontroilverlust charakterisiert ist, wobei sich oft ein Zusammenhang mit phasischen Verstimmungen eruieren läßt (»Quartalstrinken«, »Dipsomanie«). Organisch begründete psychiatrische Störungen werden gewöhnlich beim Gamma- und Delta-Typ gefunden.

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Diese Typen stellen den eigentlichen chronischen Alko-

holismus dar. ¡n seiner Entstehung lassen sich verschiedene Stadien abgrenzen: die präalkoholische, prodromale, kritische und chronische Phase (4, 7, 8). Eine allmähliche Erhöhung der Alkoholtolcranz kann bereits in der präalkoholischen Phase eintreten, in der zunächst diskontinuierlich und mäßig getrunken wird. In der prodromalen Phase bahnen sich die Erscheinungen der siichtigcn Abl?ängigkeit an, und es können hier bereits psychotische Episoden auftreten. In der kritischen Phase kommt es zur Entwicklung der alkoholischen Wesensänderuiig; soziale Auswirkungen treten in den Vordergrund. In der chronischen Phase finden sich dann die verschiedenen reversiblen und irreversiblen psychiatrischen Krankheitsbilder (10), der Übergang der erhöhten Alkoholtoleranz in Intoleranz infolge veränderter Stoffwechselfunktionen und der Verlust der Fähigkeit zur Abstinenz aus eigener Initiative.

Psychiatrische Krankheitsbilder bei Alkoholismus Die Tabelle I gibt eine Ubersicht Liber psychiatrische Krankheitsbilder infolge Alkoholabhängigkeit. Tab. 1. Psychiatrische Krankheitsbilder infolge AIkoho1ahhingigkcit 1.

Reversible Krankheitsbilder a) Alkoholdelir tind Pridelir h) Alkohoihalluzinose akut und chronisch verlaufende Durchgangssyndrome (zum Beispiel Korsakow-Syndrom, Wernicke-Enzephalopathic) pathologischer Rausch

2.

Irreversible Krankheitsbilder Wesensänderung des Alkoholikers alkoholische Demenc.

3.

Abnorme Entwicklungen und Reaktionen auf organischer Grundlage (somato-reaktive Störungen), zum Beispiel Eifersuchtswahn, depressive Reaktionen

Reversible psychiatrische Krankheitsbilder

Alkoholdelir und Prädelir. Das Delir ist eine akute reversible Funktionspsychose auf der Basis des chronischen Alkoholismus und wird (gemeinsam mit der Halluzinose) als »metalkoholische« Psychose bezeichnet. Es tritt

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Der Anteil behandlungsbediirftiger Alkoholiker in der Bevölkerung der Bundesrepublik wird auf rund 1% geschätzt. Die l'olgen des Alkoholmißhrauchs spielen sich bevorzugt am Zentralnervensystem ah und bekunden sich neben neurologischen Störungen in verschiedenen psychiatrischen Krankheitshildern.

K. A. Fliigel

Fluge]: Organisch begriindete psychiatrische Befunde bei Alkoholabhngigen

bevorzugt in Abstinenzsituationen auf, das heißt bei unkontrollierter Unterbrechung der Alkoholeinnahme (5). Diese Situation ist oft durch interkurrente Erkrankungen oder Unfälle herbeigeführt; das Entzugsdelir tritt daher nicht selten im Krankenhaus auf. Zu den Symptomen des Delirs gehören eine mehr oder weniger schwer ausgeprägte Bewußtseinseinschränkung (Durchgangssyndrom oder Bewußtseinstriibung), vorwiegend optische Halluzinationen und illusionäre Sinnestäuschungen, psychomotorische Erregtheit mit ängstlicher oder euphorischer Verstimmung, vegetative Störungen in der Gestalt von Tremor, Schweifausbrüchen und Tachykardie. Die Trugwahrnehmungen erscheinen meistens als kleine bewegte Objekte wie Tiere, Flokken oder Fäden. In dem Bestreben, die halluzinierten Gegenstände zu greifen, entsteht bei dem deliranten Patienten eine typische nestelnde Bewegungsunruhe. Das Delir dauert im allgemeinen einige Tage (meistens 1 bis S Tage). Rezidive sind nicht selten. Die Symptomatik des Alkoholdelirs ist typisch, aber für die alkoholische Genese nicht spezifisch. Es ist deshalb zu beachten, daß auch eine andere zerebrale Schädigung zugrunde liegen oder zusätzlich bestehen kann. Das beginnende Dclir oder Prädelir zeigt in abgeschwächter Ausprägung die gleichen Symptome: Tremor, verstärktes Schwitzen, Schlafstörungen, flüchtige Sinnestäuschungen, Erregtheit, Aufmerksamkeitsstörungen und vorübergehende Desorientiertheit. Als Vorboten des Delirs können gelegentlich zerebrale Anfälle, zumeist vom Grand-mal-Typ, auftreten. Alkohoihalluzinose. Die Halluzinose ist wesentlich seltener als das Delir. In psychopathologischer Hinsicht bestehen Ähnlichkeiten mit schizophrenen Psychosen (1, 2). Die funktionspsychotischen Beeinträchtigungen sind nur gering ausgeprägt; dagegen stehen akustische Halluzinationen und paranoide Erlebnisweisen im Vordergrund. In ähnlicher Weise wie hei der Schizophrenie halluziniert der Patient in der Alkoholhalluzinose Gespräche, die in Rede und Gegenrede geführt werden und gegen ihn gerichtet sind, sein Verhalten und Denken kommentieren und ihn beschimpfen. Er kann von der Realität seiner Erlebnisse überzeugt sein und auch dauerhaft an dieser Uberzeugung festhalten. Die Kranken sind im Gegensatz zu den Deliranten orientiert und bei ungetrübtem Bewußtsein. Die Halluzinose verläuft zumeist protrahierter als das Delir. Neben ausgesprochen chronischen Formen gibt es aber auch akute und episodenhafte Verläufe. Ubergänge zwischen Delir und Halluzinose kommen gelegentlich vor. Welche zusätzlichen Faktoren zum chrotiischen Alkoholismus selbst für das Entstehen einer Halluzinose maßgeblich sind, ist bisher nicht bekannt. Man hat eine besondere Disposition mit Beziehungen zur Schizophrenie vermutet. Schizophrenie-ähnliche Ausgestaltungen kommen auch bei symptomatischen Psychosen durch andere organische Grundstörungcn vor. Bei ihnen stellen sich bezüglich der Syndromgenese die gleichen Fragen.

Akut und chronisch verlau fende alkoholische Durchgangssyndrome. Delir und Halluzinose sind reversible

Deut5che Medizinische Wochenschrift

somatogene Psychosen (Funktionspsychosen) mit jeweils charakteristischer Symptomatik. Daneben kommen wie bei anderen Schädigungen des Gehirns unterschiedlich ausgestaltete und verlaufende Psychosyndrome vor. Die Skala der alkoholischen Funktionspsychosen reicht vom leichten Durchgangssyndrom mit nur geringer geistigseelischer Funktionsminderung bis zum Koma. Die psychiatrischen Störungen können Ausdruck einer alkoholischen Enzephalopathie, ebenso aber auch einer nur funktionellen Hirnstoffwechselstörung sein. Von einer bestimmten Schwere der psychischen Funktionsminderung an können Gedächtnisstörungen zum führenden Symptom werden. Wenn die Störungen längere Zeit bestehen, treten Konfabulationen hinzu. Derartige amnestisch-konf abulatorische Syndrome (Korsakow-Syndrom) mit manchmal extrem protrahierten Verläufen werden bei Alkoholikern häufig beobachtet. Sie treten in einem Teil der Fälle im Anschluß an ein Delir auf. Die Rückbildung kann viele Monate dauern. Nicht selten ist der Übergang in ein Defektsyndrom. Das Krankheitsbild der Wernicke-Enzephalopathie (>sPseudoencephalitis haemorrhagica superior«) ist durch eine (meist schwere) Funktionspsychose und durch zerebraIe neurologische Symptome wie Hirnnervenstörungen, Blicklähmungen und Schlaf sucht gekennzeichnet. Im allgemeinen besteht zusätzlich eine Polyneuropathie. Morphologisch faßbare Läsionen werden dabei bevorzugt in bestimmten Teilen des Hirnstammes (Corpora mamillaria, Vierhügelregion, Umgebung des Aquädukt, Augenmuskelkerne) gefunden. Als ein pathogenetischer Faktor gilt der Thiamin-Mangel. Pathologischer Rausch. Er unterscheidet sich vom einfachen Alkoholrausch durch eine wesentlich stärkere Ausprägung der Rauschsymptome, die in einem Mißverhältnis zu der zugeführten Alkoholmenge und zur Blutalkoholkonzentration steht. Er ist mit psychomotorischer Erregtheit, Desorientiertheit und Personen- und Situationverkennung verbunden und führt mitunter zu groben Entgleisungen und Gewalttätigkeiten. Der pathologische Rausch hinterläßt eine ausgedehnte Amnesic. Pathologische Rauschzustände sind deshalb unter den Folgen der Alkoholabhängigkeit anzuführen, weil sie bevorzugt im chronischen Stadium des Alkoholismus auf dem Boden der Alkoholintoleranz entstehen. Irreversible Krankheitsbilder

Wesensànderung. Im Gegensatz zu den psychischen Defektzuständen nach einem Hirntrauma, einer Enzephalitis oder anderen abgelaufenen Schädigungen ist bei der Wesensänderung des Alkoholikers in aller Regel die Noxe weiterhin wirksam, so daß man Suchterscheinungen und dauerhafte Persönlichkeitsveränderungen meistens nicht scharf voneinander trennen kann. Zudem spielen sich die psychoreaktiven und sozialen Störungen der Kranken, die als Ausdruck der Wesensänderung gelten, vor allem im Zusammenhang mit ihrer Alkoholabhängigkeit ab. Es kann deshalb in Frage gestellt werden, ob es sich bei dieser »Wesensänderung« um einen (irreparablen) Defekt im engeren Sinne handelt.

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Flügel: Organisch hegriindete psychiatrische Befunde bei Alkoholabbangigen

Typisch für die Persönlichkeitsabwandlungen des Alkoholikers sind Störungen der Kritikfähigkeit, Verlust von Hemmungen, Labilität der Emotionen und Neigung zu Verstimmungen, Einbuße an Antrieb und Willenskraft. Trotz allgemeiner Triebschwäche und affektiver Abstumpfung kann das Verhalten zum Zweck der Suchtbefriedigung dranghaft oder auch zielstrebig raffiniert sein.

Die Veränderungen der charakterologischen Struktur und des Relevanzgefüges werden gemeinhin zusammenfassend auch als »Depravation« bezeichnet. Alkoholische Demenz. Wie der Begriff der Wesensiinderung wird auch der Terminus »Demenz« nicht immer in seinem eigentlichen Sinne - nämlich für den irreparablen Abbau der intellektuellen und höheren Persönlichkeitsfunktionen - verwendet, sondern mitunter auch in Verbindung mit chronisch verlaufenden reversiblen Funktionsstörungen, zum Beispiel beim protrahiert verlaufenden Korsakow-Syndrom. Zur alkoholischen Demenz kommt es dann, wenn ein Hirnsubstanzverlust (Hirnatrophie) stattgefunden hat. Dabei handelt es sich entweder um einen fortschreitenden Prozeß oder um den Folgezustand einer schweren Enzephalopathie. Bei der Demenz mit Prozeßcharakter besteht ein Zusammenwirken von Funktionspsychose und Defekt, das heißt ein fortschreitender »Abbau« der geistig-seelischen Funktionen in ihrer Gesamtheit. Dazu gesellen sich neurologische Defektsymptome infolge des Hirnparenchymunterganges (Aphasie und andere integrative Hirnwerkzeugstörungen, Ausfälle der zentralen motorischen Funktionen). Bei derartigen Krankheitsverläufen kann es sich auch um die Kombination einer hirnarteriosklerotischen oder primär neuroparenchymatösen (präsenilen oder senilen) Demenz mit dem chronischen Alkoholismus handeln.

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Abnorme Entwicklungen und Reaktionen auf organischer Grundlage Auf dem Boden der alkoholischen Wesensänderung können besondere psychoreaktive Störungen entstehen, die nicht spezifisch fur den Alkoholismus sind, aber hier häufig vorkommen. Dazu zählt der Eifersuchtswahn des Trinkers. Bei seiner Entstehung wirken im allgemeinen mehrere Faktoren zusammen: die durch den Alkoholismus verursachte Impotenz, soziale oder familiäre Konflikte und die Verminderung des kritischen Urteilsvermögens (2). Manchmal wird auch von den Kranken an dicsheziiglichen Sinnestäuschungen (ini Rausch oder in deliranten Episoden) festgehalten. Von praktischer Be deutung ist schließlich auch, daß chronische Alkoholiker in erhöhtem Maße suizidgefährdet sind, wobei es sich häufig um durch die organische Persönlichkeitsveränderung herbeigeführte Konfliktreaktionen handelt. Literatur (I) Benedetti, G.: Dic Alkoholh.illuzinosen (Thieme: Sturtg.irt 1952). Bleuler, E.: Lehrbuch der Psychiatrie. Umgcarh. V. M. Bleuler. 12. Aull. (Springer: BerlinHeidelbergNew York 1974).

Bourse, P. G., R. Fox (cd.): Alcoholism. Progress in Research and Treatment (Academic Press: New York London 1973). Expert Committee on Mental Health Alcoholism Subcommittee. Second report. WHO Technical Report Series No. 48, Genf 9S2. Feuerlein, W.: Neuere Ergebnisse der Alkoholdelir-Forschung. Nervenarzt 11(1967), 492. (6( Gibbins, R. J., Y. Israel, H. Kalant, R. E. Popham, W. Schmidt, R. G.

Smart: Research Advances in Alcohol and Drug Problems. Vol. 1 (John Wiley: New YorkLondonSydney-

Toronto 1974). Jellinek, E. M.: The Disease Concept of Alcoholism (Colle and University Press: New Haven 1960). Lundqnist, G. A. R.: Klinische und soziokulturelle Aspekte des Alkoholismus. In: Kisker, K. P., J..E. Meyer, M. Muller, E. Strömgren (Hrsg.): Psychiatrie der Gegenwart. Forschung und Praxis. Bd. 11/2, 2. Aufl. (Springer: BerlinHeidelbergNew York 1972). Stemplinger, F.: Alkoholikerfihel für den Arzt. Schriftenreihe der Bayerischen Landes5rztckamnier, Bd. 27. Wieser, Sr.: Alkoholismus. Il. Psychiatrische und neurologische Komplikationen. Fortschr. Neurol. Psychiat. 7 (1956), 349.

Privatdozent Dr. K. A. Fliigel Universitäts-Nervenklinik mit Poliklinik 852 Erlangen, Schwabachanlage 10

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Nr. 41, 10. Oktober 1975, 100. Jg.

[Organic psychiatric findings in alcoholics].

Nr. 41, 10. Oktober 1975, 100. Jg. Filigel: Organisch hegriindcte psychiatrische Befunde bei Alkoholahhiingigen Aktuelle Diagnostik 2105 Redakt...
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