Kasuistiken Ophthalmologe 2015 DOI 10.1007/s00347-014-3176-z © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

E.J. Becker1, 2 · M.C. Herwig1, 2 · F.G. Holz1 · K. Kuchelmeister3 · D. Thomas4 · P. Charbel-Issa1 · K.U. Löffler1, 2 1 Universitäts-Augenklinik Bonn 2 Sektion Ophthalmopathologie, Universitäts Augenklinik Bonn 3 Institut für Neuropathologie, Universitätsklinik Bonn 4 Institut für Radiologie, Universitätsklinik Bonn

Orbitale Metastase eines bis dato unbekannten Lungenkarzinoms mit klinischem Aspekt einer posterioren ischämischen Optikusneuropathie

Anamnese Ein 65-jähriger Patient stellte sich mit einer plötzlich aufgetretenen und über 1 Woche weiter zunehmenden rechtsseitigen Visusminderung und Störung des Farbensehens vor. Anamnestisch ließen sich keine ophthalmologischen Vorerkrankungen erheben. Die internistische Anamnese ergab einen Nikotinabusus von 70 “pack years“ sowie eine arterielle Hypertonie und einen Diabetes mellitus Typ II. Weitere Beschwerden oder eine Beeinträchtigung des Allgemeinzustandes wurden verneint.

Klinischer Befund Die ophthalmologische Untersuchung ergab eine Visusminderung auf 0,1 am rechten Auge (Vorvisus 1,0) bei vollem Sehvermögen am linken Auge. In der Spaltlampenuntersuchung zeigte sich beidseits ein reizfreier vorderer Augenabschnitt. Funduskopisch waren ein unauffälliger Papillen- und Netzhautbefund mit regelrechter Gefäßperfusion an beiden Augen darstellbar. Im Rahmen der weiteren Diagnostik zeigte sich ein relatives afferentes Pupillendefizit am rechten Auge sowie in der Goldmann-Außengrenzen-Gesichtsfelduntersuchung eine nasale Einschränkung der Außengrenzen. Eine Motilitätseinschränkung oder klinische Zeichen einer Arteriitis temporalis bestanden

nicht. Die visuell evozierten Potenziale (VEP) am rechten Auge waren deutlich vermindert bei altersentsprechendem Befund am linken Auge. Laborchemisch fielen erhöhte Entzündungsparameter auf.

Diagnostik Bei unklarem Befund mit Funktionseinschränkung des rechten Auges, aber morphologisch altersentsprechendem okulärem Befund bestand klinisch der hochgradige Verdacht auf eine Durchblutungsstörung im Bereich des Sehnerven/ posteriore ischämische Optikusneuropathie (PION). Noch vor der Durchführung weiterer okulärer Untersuchungen erfolgte eine extrakranielle Farbduplexsonographie. Hier zeigte sich rechts der Verdacht auf einen Verschluss der A. vertebralis mit intrakraniell retrograder Füllung. Sonographische Zeichen einer Arteriitis temporalis bestanden nicht. Zur weiteren Abklärung der zerebralen Durchblutungssituation erfolgten eine CT (Computertomographie)-Angiographie sowie eine CT der Orbita. Diese ergab rechts eine hypoplastische A. vertebralis sowie eine bifurkationsnahe hochgradige Stenose der A. carotis interna bei jedoch erhaltener Perfusion nach intrakraniell. Im Rahmen der CT sowie der nachfolgend durchgeführten Magnetresonanztomographie (MRT) fiel zudem eine umschriebene weichteildichte Raumforderung um

den N. opticus mit Aufweitung des Canalis nervi optici und Verlagerung des Sehnervens in diesem Bereich auf. Der Knochen im Bereich der Fissura orbitalis superior und der Schädelbasis war arrodiert (. Abb. 1a,b). In den im Rahmen der initialen CT zufällig miterfassten thorakalen Abschnitten zeigte sich eine ausgedehnte, zentral nekrotisch zerfallende Raumforderung im Bereich des linken dorsalen Lungenoberlappens von 53×61×65 mm Ausdehnung, die sich auch in der MRT bestätigte (. Abb. 2). Begleitend fielen weitere suspekte Verdichtungen des Lungengewebes, multiple Lymphknotenmetastasen bihilär und mediastinal sowie multiple Osteolysen im Bereich der Brustwirbelsäule auf. In der MRT waren zudem multiple weitere Metastasen infra- und supratentoriell darstellbar. Bei Verdacht auf ein metastasiertes nichtkleinzelliges Bronchialkarzinom wurde die Verdachtsdiagnose einer orbitalen Metastase im Bereich der Fissura orbitalis superior mit Optikuskompression gestellt. Es erfolgte daraufhin die Planung einer mikrochirurgischen operativen Resektion der orbitalen Metastase zur histologischen Diagnostik und Dekompression des N. opticus. Intraoperativ zeigte sich, dass die Metastase im Bereich des Optikuskanals von tumorinfiltrierter Dura bedeckt und nach medial in das Ethmoidzellsystem eingebrochen war. Der Ophthalmologe 2014 

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Kasuistiken metrexet (Zytostatikum, Antimetabolit) unter Vitamin-B12- und Folsäuresubstitution. Zudem wurde eine adjuvante Radiatio des Schädels und der Brustwirbelsäule mit 35–40 Gy durchgeführt. Der Patient verstarb etwa 4 Monate nach Auftreten der okulären Symptome und Erstdiagnose des metastasierten Lungenkarzinoms.

Diskussion

Abb. 1 8 In der a Computer- und b Magnetresonanztomographie zeigte sich eine umschriebene  weichteildichte orbitale Raumforderung (Pfeil) mit Ausdehnung nach dorsal um den N. opticus mit  Aufweitung des Canalis nervi optici

Abb. 2 9 In der Magnetresonanztomographie zeigte sich eine  ausgedehnte, zentral  nekrotisch zerfallende Raumforderung im  Bereich des linken dorsalen Lungenoberlappens (Pfeil). Begleitend  fiel eine Pleurakarzinose mit Pleuraerguss auf  (Stern)

Histologie

Tumorstaging

Das operativ gewonnene Gewebsmaterial zeigte histologisch das Bild einer Karzinommetastase mit Nestern wenig differenziert erscheinender Tumorzellen (. Abb. 3a) mit Zytokeratin-Expression und nukleärer Expression des thyreoidalen Transkriptionsfaktors-1 (TTF1; . Abb. 3b). Die Expression von TTF1 in den Tumorzellen ist zwar nicht beweisend für ein Bronchialkarzinom, aber durchaus charakteristisch für diesen Tumor. Es zeigte sich zudem eine Expression des Proliferationsmarkers Ki67 in fokal bis zu 30% der Tumorzellkerne.

Das anschließende Tumorstaging beinhaltete eine CT von Thorax und Abdomen. Hier offenbarten sich neben dem nekrotisch zerfallenden Herdbefund im Bereich des linken Lungenoberlappens weitere intrapulmonale Rundherde sowie eine Pleurakarzinose (. Abb. 2). Zudem zeigten sich mehrere bis 32 mm messende hypodense Leberläsionen, abdominale Lymphknotenmetastasen sowie multiple osteolytische Wirbelkörpermetastasen.

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Therapie und Verlauf Es erfolgte eine Portimplantation mit Beginn einer palliativen systemischen Chemotherapie mit Carboplatin und Pe-

Die Ausbildung orbitaler Metastasen stellt eine seltene Komplikation maligner Erkrankungen dar und tritt nur bei etwa 1–2% alle Malignome durch hämatogene Streuung auf [3]. Oft ergibt die genaue Anamnese eine Tumorerkrankung in der Vorgeschichte. In Fallserien hat sich jedoch gezeigt, dass beim Vorliegen ophthalmologischer Symptome diese in bis zu 30–60% der Diagnose des Primärtumors vorausgehen. Orbitale Metastasen sind deutlich seltener als Uveametastasen und stellen etwa 2–% aller orbitalen Raumforderungen dar [2, 3]. Die Tumoren, die im Erwachsenenalter am häufigsten zu einer orbitalen Metastasierung führen, sind Mammakarzinome, gefolgt von Bronchial-, Prostata- sowie gastrointestinalen Karzinomen. Zumeist sind weibliche Patienten im Alter zwischen 60 und 0 Jahren mit Mammakarzinom betroffen. Metastasen aus dem Bereich von Mamma und Lunge stellen zusammen über 50% der orbitalen Metastasen im Erwachsenenalter dar. Im Kindesalter hingegen werden orbitale Metastasen vor allem durch embryonale Tumoren wie Neuroblastome und Wilms-Tumoren oder durch das Ewing-Sarkom hervorgerufen [1, 2, 3, 4, 5]. Die klinische Symptomatik äußert sich zumeist in Form einer Motilitätseinschränkung mit Bulbusverlagerung und Diplopie, Ptosis, Lidschwellung, verschwommenem oder reduziertem Sehvermögen sowie Schmerzen oder einer sichtbaren palpablen Masse [1, 3, 4]. Besonders in Fällen von metastasierten Mammakarzinomen kann es jedoch typischerweise aufgrund eines fibrosierenden Wachstums auch zum Auftreten eines Enophthalmus kommen. Bei unserem Patienten zeigte sich jedoch keines dieser wegweisenden Symptome.

Zusammenfassung · Abstract Aus ophthalmologischer Sicht müssen bei Raumforderungen im Bereich der Orbita differenzialdiagnostisch andere primäre orbitale Tumoren wie Gliome, Optikusscheidenmeningeome, Hämangiome oder sekundäre orbitale Raumforderungen wie Lymphome und Aderhautmelanome mit orbitaler Ausbreitung in Erwägung gezogen werden [1, 5, 6]. Zur Diagnosesicherung sind vor allem eine zerebrale Bildgebung mittels MRT/CT sowie ggf. eine Feinnadelaspiration des Tumors in Betracht zu ziehen. Ein anschließendes umfassendes Staging ist dann unerlässlich [6]. Die Diagnose einer posterioren ischämischen Optikusneuropathie (PION) stellt stets eine Ausschlussdiagnose dar. Therapeutische Optionen bei orbitaler Metastasierung sind palliative Therapien in Form einer vom Primärtumor abhängigen systemischen Chemotherapie oder Radiatio. Eine operative Resektion kommt nur bei kleinen isolierten Befunden oder – wie in unserem Fall – aufgrund massiv ausgeprägter Symptomatik in Betracht. Die mittlere Überlebenszeit liegt bei 10 bis 12 Monaten nach Diagnosestellung der orbitalen Metastasierung [4]. Die schlechteste Prognose mit einer Überlebenszeit von etwa 4 Monaten besteht bei Patienten mit metastasiertem Lungenkarzinom.

Fazit für die Praxis F Orbitale Metastasen gehen meist von Mamma-, Prostata- oder Bronchialkarzinomen aus und können der Diagnose des Primärtumors vorausgehen. F Bei unklarer Visusminderung sollte man auch bei unauffälligem Papillenbefund an einen retrobulbären Prozess denken. F Eine ergänzende Bildgebung zur Diagnosesicherung und zum weiteren Staging ist entscheidend. F Die posteriore ischämische Optikusneuropathie (PION) stellt stets eine Ausschlussdiagnose dar.

Korrespondenzadresse E.J. Becker Universitäts-Augenklinik Bonn Ernst-Abbe-Str. 2, 53127 Bonn [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  E.J. Becker, M.C. Herwig, F.G. Holz, K. Kuchelmeister, D. Thomas, P. Charbel-  Issa und K.U. Löffler geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur 1. Demirci H, Shields CL, Shields JA et al (2002) Orbital tumors in the older adult population. Ophthalmology 109:243–248 2. Papanagiotou P, Grunwald IQ, Politi M et al (2008) Orbitale Tumoren. Radiologe 48:1133–1142 3. Shields CL, Shields JA (1993) Metastatic tumors   to the orbit. Int Ophthalmol Clin 33:189–202 4. Shields JA, Shields CL, Brotman HK et al (2001) Cancer metastatic to the orbit: the 2000 Robert M. Curts Lecture. Ophthal Plast Reconstr Surg 17:346– 354 5. Shields JA, Shields CL, Scartozzi (2004) Survey of 1264 patients with orbital tumors and simulating lesions: the 2002 Montgomery Lecture, part 1. Ophthalmology 111:997–1008 6. Tailor TD, Gupta D, Dalley RW et al (2013) Orbital neoplasms in adults: clinical, radiologic, and pathologic review. Radiographics 33:1739–1758

Ophthalmologe 2015 · [jvn]:[afp]–[alp] DOI 10.1007/s00347-014-3176-z © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 E.J. Becker · M.C. Herwig · F.G. Holz · K. Kuchelmeister · D. Thomas · P. Charbel-Issa · K.U. Löffler

Orbitale Metastase eines bis dato unbekannten Lungenkarzinoms mit klinischem Aspekt einer posterioren ischämischen Optikusneuropathie

Zusammenfassung Ein 65-jähriger Patient stellte sich mit einer progredienten Visusminderung am rechten Auge vor. Bei unauffälligem Fundusbefund und relativem afferentem Pupillendefizit sowie einer Gesichtsfeldeinschränkung wurde zunächst die Verdachtsdiagnose einer Durchblutungsstörung im Bereich des N. opticus gestellt. Die weitere Bildgebung führte jedoch zur Diagnose einer orbitalen Metastase mit Optikuskompression, ausgehend von einem ausgedehnten, nekrotisch zerfallenden Bronchialkarzinom im Bereich des linken Oberlappens. Die Befunde werden zusammen mit dem möglichen Ursprung orbitaler Metastasen diskutiert. Schlüsselwörter Orbita · Histologie · Visusminderung · Optikuskompression · Bronchialkarzinom

Orbital metastasis of a previously unknown lung carcinoma mimicking posterior ischemic optic neuropathy Abstract A 65-year-old patient presented with increasing loss of vision in the right eye. A relative afferent pupillary defect as well as visual field perimetry deficits in an otherwise unremarkable eye led to the presumed diagnosis of ischemia of the optic nerve; however, further imaging revealed an extensive necrotic bronchial carcinoma in the left upper lobe metastasizing to the orbit with compression of the optic nerve. The clinical and histological features are discussed with respect to possible primary origins of orbital metastases. Keywords Orbit · Histology · Visual impairment · Optic nerve compression · Bronchial carcinoma

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Abb. 3 9 a In den histologischen Schnitten zeigten  sich zu Nestern angeordnete Tumorzellen (Hämatoxylin-Eosin-Färbung, Originalvergr. 100:1). b Die immunhistochemische Färbung  für den thyreoidalen Transkriptionsfaktor-1 (TTF-1)  zeigte eine deutlich positive Reaktion in den Tumorzellkernen (Originalvergr.  200:1)

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[Orbital metastasis of a previously unknown lung carcinoma mimicking posterior ischemic optic neuropathy].

A 65-year-old patient presented with increasing loss of vision in the right eye. A relative afferent pupillary defect as well as visual field perimetr...
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