Gutachtertätigkeit HNO 2015 · 63:380–382 DOI 10.1007/s00106-015-0009-6 Online publiziert: 5. Mai 2015 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

O. Michel1,2 1

Afdelingshoofd dienst KNO, Universitair Ziekenhuis – Vrije Universiteit Brussel, Brüssel, Belgien Institut für Begutachtung, Köln, Deutschland

2

Zur Unterbewertung der Normalhörigkeit Der Bereich der „Normalhörigkeit“, wie er durch den prozentualen Hörverlust quantitativ beschrieben wird, umfasst mehrere Grade und leitet erst ab einem prozentualen Hörverlust von etwa 20 % zur knapp geringgradigen Schwerhörigkeit über [7]. Bei der gutachterlichen Beurteilung interessiert jedoch letztendlich nicht so sehr der prozentuale Hörverlust, sondern die Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE), der Grad der Schädigungsfolgen/Grad der Behinderung (GdS/GdB) oder in der privaten Unfallversicherung der Grad der Invalidität (GdI). Die Bewertung des Hörvermögens erfolgt in mehreren Schritten. Dadurch kommt es insbesondere im Bereich der Normalhörigkeit zu Unschärfen in der Bewertung. Im ersten Schritt, der Hörprüfung, sind bedingt durch die psychoakustischen Messmethoden und interindividuellen Streubreiten der Hörschwelle Ungenauigkeiten in der „Gehörmessung“ möglich: 4 im Tonschwellenaudiogramm werden in der Regel Messungen in 5-dBSchritten und mit Frequenzsprüngen (z. B. 0,5, 1, 2, 4, 8 kHz) vorgenommen, 4 der Normalhörigkeitsbereich bewegt sich in etwa von –10 bis 20 dB HL, 4 Ablese- oder Rundungsfehler sind möglich, 4 im Sprachaudiogramm liegt die 50 %-Verständnisschwelle für Zahlen bei 18,5 dB; der a1-Wert wird nicht direkt, sondern grafisch bestimmt, 4 im Bereich nahe der Hörschwelle ist nicht ausreichende Dämmung der Hörprüfkabine stärker störend.

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Im zweiten Schritt erfolgt die Ermittlung des prozentualen Hörverlusts mittels gängiger Tabellen. Diese weisen wie z. B. die Tabelle nach [9] oder die Tabelle nach [1] teils weite Maschen auf. In der 3-Frequenz-Tabelle nach [9] 4 sind die Frequenzen unterhalb 1000 Hz und oberhalb 3000 Hz nicht berücksichtigt, 4 wird ein prozentualer Hörverlust erst ab durchschnittlich 20–25 dB Hörverlust in 3 Frequenzen angegeben, da geringere Hörverluste noch als in den Bereich der Normalhörigkeit gehörig angesehen werden. Im dritten Schritt – der Bewertung – werden in den verschiedenen Rechtsgebieten unterschiedliche (abstrakte) Wertungen vorgenommen: 4 der GdS/GdB in dimensionslosen Schritten von 10 mit Beginn bei 20 und Ende bei 100, 4 die MdE in Schritten von 5 %, ohne einen Wert unterhalb von 10 %, sodass „kleiner 10 %“ auch der Wert „null“ sein kann, 4 die Invalidität in der privaten Unfallversicherung in Schritten von 1/10–1/20, außerhalb der Gliedertaxe auch in 5 % bzw. auch 1 %-Schritten. Größere Genauigkeit in der Bestimmung der Hörschwelle durch technische Verbesserungen an den Audiometern einerseits und steigendes Verständnis für die Einschränkung der Teilhabe schon bei geringen Hörstörungen andererseits führen zu einer seit Jahren laufenden Kritik an der offenkundigen Unterbewertung der annähernden und grenzwertigen Normalhörigkeit [2, 8].

Um Schwächen in der Bewertung auszugleichen, wurden verschiedene Versuche unternommen. Darunter fallen auch Vorschläge, das Sprachverständnis zusätzlich im Störlärm zu bestimmen. Eine Übereinkunft konnte hierüber bisher nicht erzielt werden, da der Einsatz von Störlärm zur genaueren Bestimmung der Normalhörigkeit große methodische Probleme aufwirft.

Auch geringe Änderungen im »prozentualen Hörverlust sind von großer Bedeutung Feldmann [6] diskutierte zur Höherbewertung der unteren Schwerhörigkeitsgrade die Einführung neuer Tabellen, Hörprüfungen im Störgeräusch, aber auch die gänzliche Abschaffung des Sprachaudiogramms. Letztendlich schlug er die Einführung eines gewichteten Gesamtwortverständnisses (ws) vor, das fester Bestandteil der Bewertungsvorschläge (z. B. Königsteiner Empfehlung [4]) wurde. Die Anhebung reichtaberbeigeringen Hörstörungen nicht aus, denn bei einem Hörverlust von weniger als 20 % aus dem Sprachaudiogramm ist noch zusätzlich das Tonschwellenaudiogramm heranzuziehen. Selbst dann kann der prozentuale Hörverlust noch 0 % betragen, wenn erst in den Frequenzen über 4000 Hz Hörschäden vorliegen. In der gesetzlichen Unfallversicherung spielt dies eine untergeordnete Rolle, da erst ab einem prozentualen Hörverlust von 40 % beiderseits die Entschädigungsgrenze (z. B. MdE 20 %) erreicht wird.

Tin. bei zugehaltenen Ohren re/li/bd. unverändert Vertäubung dB

Vertäubung dB Daten übertragen

WEBER bei 500 Hz 0,5

0,75

1

1,5

2

3

4

6

1,5

2

3 4

8

re.

12

normal

0,25

0,5 0,75 1

li.

0,125 0,25

SISI rechts

Frequenz in kHz 0,125 –10

med.

6

8

12

kHz

0,125 –10

0 SISI links

10

kHz

20

%

40

50

Lüscher rechts

50

60

kHz

60

dB

70

2

3

4

6

1,5

2

3 4

8

12

0,25

0,5 0,75 1

6

8

12

70

80

80

PR: ∅ CR: ∅

120

Lüscher links kHz

dB

Hörpegel in dB

Hörpegel in dB

1,5

20 30

110

1

0

40

100

0,75

10

30

90

0,5

Frequenz in kHz

%

normal

0,125 0,25

90 100 110 120

rechtes Ohr

linkes Ohr Luftl.

Knochenl.

Kalibrierung ISO 382

Abb. 1 8 Tonschwellenaudiogramm nach3-Frequenz-Tabelle vonRöser [9],prozentualerHörverlust von0 %trotz beiderseits deutlichem Hörverlust im Hochtonbereich. Nur im Sprachaudiogramm ein prozentualer Hörverlust von 10% rechts und 0 % links

In der privaten Unfallversicherung ist jedoch für die Höhe der Leistung jedes einzelne Prozent von Bedeutung, da es keine „Geringfügigkeitsgrenze“ gibt. Andererseits gilt die Anhebung des prozentualen Hörverlusts im Bereich der annähernden Normalhörigkeit über die Kombination aus Sprach- und Tonaudiogramm, wie in der „Königsteiner Empfehlung“ niederlegt, nicht. Daher sind auch geringe Änderungen im prozentualen Hörverlust bei diesen Begutachtungen von großerer Bedeutung. In der Diskussion um die zentrale Bedeutung des Sprachaudiogramms in der Begutachtung wird jedoch häufig außer Acht gelassen, dass das Tonschwellenaudiogramm eine nicht zu vernachlässigende Rolle in der Bewertung des Hörbereichs bis zur beginnenden Schwerhörigkeit spielt: 4 Im Sprachaudiogramm wird ein Verstehen von allen dargebotenen Zahlen bei 30 dB und von allen Einsilbern erst bei 50 dB erreicht. 4 Bei Menschen, die Deutsch nicht als Muttersprache sprechen, ist das

Sprachaudiogramm nur bedingt einsetzbar. 4 Das Tonschwellenaudiogramm hat sich weltweit durch seine Unabhängigkeit von der jeweiligen Sprache allgemein im Screening, der Vorsorge und Hörbestimmung durchgesetzt [5]. Unterschiedlich sind jeweils der Bewertungsmaßstab und die anzuwendenden Tabellen, die eben bei geringen Hörverlusten Schwächen zeigen. Nach der 3Frequenz-Tabelle nach [9] wäre z. B. ein Hörverlust von 20 dB bei 1000 Hz und 25–30 dB in den Frequenzen 2000 und 3000 Hz noch mit einem prozentualen Hörverlust von 0 % zu bewerten, ebenso wie ein Hörverlust von 50–60 dB in 2000 und 3000 Hz und 0 dB bei 1000 Hz noch einen prozentualer Hörverlust von 5 % ergeben würde. Für diesen Grenzbereich schlugen wir die Bezeichnung „annähernde Normalhörigkeit“ vor. Zur Höherbewertung der annähernden Normalhörigkeit und geringen Schwerhörigkeit über das Tonschwel-

lenaudiogramm gab es jedoch lange keine Vorschläge. Nicht zu verwenden war eine Reihe von Tabellen, die die 4000 Hz-Frequenz einbezogen. Die sog. 4-Frequenz-Tabelle von Röser (basierend auf der Tabelle von Fowler und Sabine) ergab im Mittel 10–14 % höhere prozentuale Hörverluste für alle Hörschwellen, die Tabelle nach Trautmann und Oeken (verbessert nach der Tabelle von Fowler und Sabine) hat die Wiedervereinigung nicht überstanden und die in der Schweiz gebräuchliche Integritätsschadenstabelle (CPT-AMATabelle) der SUVA [10] liefert ebenfalls generell überhöhte Schwerhörigkeitsgrade. Brusis [3] schlug eine neue Bewertungsmethode auf der Basis der 3-Frequenz-Tabelle nach [9] vor. Aus dem Tonschwellenaudiogramm wird statt der Summe aus dem Hörverlust bei 2000 und 3000 Hz die Summe mit 2000 und 4000 Hzgebildetund gehtjeweils mitdiesem Wert in die Tabelle ein. Dies führt zu einer leichten Höherbewertung (ca. 5 %), wenn eine annähernde Normalhörigkeit HNO 5 · 2015

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Gutachtertätigkeit bis 3000 Hz vorliegt und ein Hochtonsteilabfall, wie es bei Unfällen der Fall sein kann (s. Beispiel). Angesichts der Bemühungen, den Bereich der geringfügigen Hörstörungen, die bis zur grenzwertigen Normalhörigkeit reichen, aufzuwerten, um die eingeschränkte Teilhabe auszugleichen, ist es völlig unverständlich, warum z. B. der Medizinische Dienst der Krankenkassen (MDK) seit Kurzem die WHOTabelle mit Schwerhörigkeitsgraden von 0–4 als neuen Bewertungsmaßstab einführt. Nach der WHO wird für jedes Ohr getrennt der Mittelwert des Hörverlustes aus den Frequenzen 500 Hz, 1000 Hz, 2000 Hz und 4000 Hz ermittelt. Nur das besser hörende Ohr ist für die Gradeinteilung maßgeblich. Als normalhörig (Grad 0) gelten 25 dB oder besser, obwohl vielleicht auf der Gegenseite eine Taubheit vorliegt.

heilt. Nur im Sprachaudiogramm ergab sich eine Gebrauchsminderung um 1/10 rechts, Invalidität 3 %.

Beispiel

Prof. Dr. med. O. Michel Afdelingshoofd dienst KNO, Universitair Ziekenhuis – Vrije Universiteit Brussel UZ-VUB Laarbeeklaan 101, 1090 Brüssel, Belgien [email protected]

Der57-jährigeHerrW.M.erlitteinLärmtrauma. Sein Jagdpartner hatte schräg hinter ihm stehend unvermittelt noch einen Nachschuss mit einem Bergstutzen abgegeben. Der Versicherte ging durch den Schuss zu Boden, erlitt eine Trommelfellperforation auf dem der Mündung zugewandten rechten Ohr und eine Hörminderung rechts (. Abb. 1). Ein Voraudiogramm zeigte beiderseits eine Normalhörigkeit mit Hochtonsenke bei 4000 Hz mit 25 dB rechts und 50 dB links. Nach der 3-Frequenz-Tabelle nach [9] – auch mittels Berechnung nach [3] unter Einbeziehung von 4000 Hz – und der WHO-Tabelle (Grad 0) lag Normalhörigkeit vor. Nach dem Sprachaudiogramm mit einem a1-Wert von 19 dB rechts und 12 dB links sowie einem gewichteten Gesamtwortverstehen ws von 235 rechts und 262,5 links ergab sich ein prozentualer Hörverlust von 10 % rechts und 0 % links. Beurteilung für die private Unfallversicherung. Der abziehbare Vorschaden ist so gering, dass er durch die Tabellen nicht erfasst wird; eine Vorinvalidität ist nicht zu bestimmen. Die Perforation ist nach Tympanoplastik folgenlos abge-

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Beurteilung für die gesetzliche Unfallversicherung. Grenzwertige Normalhörigkeit, MdE unter 10 %, keine Rente.

Fazit für die Begutachtung Die Bandbreite des Hörvermögens, die noch unter „Normalhörigkeit“ fällt, wird nach heutigen Ansprüchen nicht differenziert genug in den gängigen Tabellen wiedergegeben. Dadurch kann eine Unterbewertung entstehen. Durch die Anwendung von Ausgleichsformeln, wie sie von Feldmann und Brusis vorgeschlagen wurden, lässt sich ein Ausgleich schaffen.

Korrespondenzadresse

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. O. Michel gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

Literatur 1. Boenninghaus HG, Röser D (1973) Neue Tabellen zur Bestimmung des prozentualen Hörverlustes für das Sprachgehör. Z Laryngol Rhinol Otol 52:153–161 2. Braun T, Dochtermann S, Krause E, Schmidt M, Schorn K, Hempel JM (2011) Korrelation von Tonschwellenaudiogramm und Hörverlust für Zahlen. Vergleich dreier Rechenvarianten zur gutachterlichen Plausibilitätsprüfung. HNO 59:908–914 3. Brusis T (2013) Aus der Gutachtenpraxis: Zur Bewertung der beginnenden Lärmschwerhörigkeit – Ein neuer Vorschlag. Laryngorhinootologie 92:344–346 4. DGUV (2012) Empfehlung für die Begutachtung der Lärmschwerhörigkeit (BK-Nr. 2301) – Königsteiner Empfehlung. Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung, Berlin 5. Dobie RA (2011) The AMA method of estimation of hearing disability: a validation study. Ear Hear 32:732–740

6. Feldmann H (1988) Die Problematik der quantitativen Bewertung von Hörstörungen in der Begutachtung. Ein neuer Vorschlag zur Berechnung des prozentualen Hörverlusts. Laryngol Rhinol Otol 67:319–325 7. Michel O (2014) Grade der Normalhörigkeit. HNO 62:664–666 8. Pawlata H (2001) Zur Unterbewertung der geringgradigen Lärmschwerhörigkeit. HNO 49:224–225 9. Röser D (1980) Schätzung des prozentualen Hörverlustes nach dem Tonaudiogramm. Schriftenreihe des Hauptverbandes der gewerblichen Berufsgenossenschaften e. V. Kolloquium Berufliche Lärmschwerhörigkeit 10. SUVA (2000) Integritätsschaden bei Schädigung des Gehörs. Tabelle 12

[On the underestimation of normal hearing].

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