Adams, Leuschner: Amnestische Episoden

Nr. 28, 9. Juli 1976, 101. Jg.

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Dtsch. med. Wschr. 101 (1976), 1061-1063 © Georg Thieme Verlag, Stuttgart

A. E. Adams und W. Leuschner Neurologische Klinik im Nordwest.Krankenhaus Frankfurt (Leiter: Prof. Dr. A. E. Adams)

Amnestische Episoden sind Durchgangssyndrome, die aus voller Gesundheit plötzlich beginnen und nach etwa drei bis sechs Stunden unvermittelt enden. Während ihrer Dauer sind zwar das Bewußtsein und das konventionelle Sprechen und Handeln erhalten, die akute Mer-kf ähigkeit und die Erinnerungen der vorausgegangenen Wochen aber erloschen. Die danach bleibenden Amnesien erstrecken sich aber nur über die jeweilige Episodendauer. Als Ursachen werden zeitlich und örtlich begrenzte Ischämien im limbischen System angenommen. Auslösende Bedingungen werden an drei kasuistischen Beispielen erläutert. War die bewußte Sinnestätigkeit vorübergehend erloschen und folgt daraus eine zeitlich zugeordnete Erlebnislücke, so ist dies ein selbstverständlicher und daher diagnostisch unwichtiger Sachverhalt. Dagegen bezeichnet »Amnesie« als Dauersymptom das Fehlen der Erinnerung an Ereignisse, die während eines früheren Durchgangssyndroms zwar wahrgenommen werden konnten, aber nicht behalten wurden. Eine besondere Form der vielfältigen Durchgangssyndrome ist die amnestische Episode. Sie wird meist als »épisode amnésique spontané«, »ictus amnésique«, éclipse amnésique« oder »transient global amnesia« bezeichnet, jedoch in der deutschen Literatur kaum erwähnt. Deshalb soll sie hier an drei Beispielen dargestellt werden. s>

Kasuistik

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Fall 1: Der jetzt 6Ojährige Patient H. Z., leitender Ingenieur, fühlte mit 58 Jahren beim Sägen in gebückter Dauerhaltung plötzlich noch etwas «wie Cbelkeitnormal's, wußte alles und beunruhigte sich über das »Loch im Gedächtnis.« Wegen dieser unverändert gebliebenen vierstündigen Erinnerungslücke kam der sonst beschwerdenfreie 6ojährige wenige Tage später zur stationären neurologischen Untersuchung. Diese erstreckte sich auch auf die Arteriographie aller Hirngefäße. Dabei

Amnesic episodes occur suddenly out of full health and pass off spontaneously after about three to six hours. Consciousness and customary speech and action are maintained during these periods, but powers of acute observation and memory for preceding weeks are lost. But amnesia persists only for the events during the amnesic episode. Temporary and circumscribed ischaemia in the limbic system is thought to be the cause. Three case reports are presented to illustrate precipitating circumstances.

zeigte sich, daß die linke A. vertebralis an ihrem Abgang aus der durch eine umschriebene arteriosklerotische Stenosierung auf etwa die Hälfte ihres Durchmessers eingeengt war. Alles andere war normal, auch der psychische Befund. A. subclavia

Fall 2: Den S3jährigen Landforstmeister W. G. befiel im Februar 1975 plötzlich eine Übelkeit mit Brechreiz, als er gebückt den Innen-

raum seines Autos säuberte. Dann fehlt die Erinnerung für eine Zeitspanne von etwa anderthalb Stunden. In dieser Zeitspanne fiel er seiner Ehefrau und dem Sohn zunächst durch ständig wiederkehrendes Fragen auf. Er verstand offenbar die Antworten und begann danach zu handeln, hielt aber immer wieder inne, hatte offenbar vergessen und fragte von neuem. Er wirkte zwar bewußtseinsklar und in seiner Wesensart unverändert, mitunter aber etwas ratlos und beunruhigt. Er wußte, wo er war, was er gerade tat und wie die altgewohnten privaten und beruflichen Verhältnisse lagen. Andererseits erinnerte er sich nicht oder kaum an Tatsachen oder Probleme aus den vorausgegangenen Wochen. Dem herbeigerufenen Hausarzt fiel bei normalen Blutdruckwerten (140/80 mm Hg) eine Bradykardie auf (52/mm). Er überwies seinen Patienten rasch zur ambulanten Voruntersuchung. Dabei stellte sich die anderthalbstündige Erinnerungslücke dar, während die früheren oder späteren Gedächtnisinhalte und die aktuellen amnestischen Leistungen einwandfrei waren. Der Patient hatte außer einigen Kopfschmerzen keinerlei Beschwerden, und sein neurologischer Befund war (abgesehen von geringen Resten einer alten spinalen Läsion) normal. Die wesentlichen Ergebnisse der stationären Untersuchungen waren folgende: eine mit Änderungen der Kopfhaltung veränderliche Stenosierung der linken A. vertebralis in Form einer Knickbildung in Höhe der Massa lateralis des Atlas, während sich alle anderen intra- und extrakranialen Strömungsgebiete einwandfrei darstellten. Das Elektroenzephalogramm zeigte noch geringe Herdveränderungen mit theta-Wellen temporo-parietal links, die nach einer Woche nicht mehr sicher festzustellen waren. Fall 3: Den S2jährigen Kranführer G. G. verließ an einem Sonntag im Juli 1975 für etwa 3 Stunden das Gedächtnis. Er blieb ohne jede Erinnerung an die Ereignisse zwischen dem Frühstück und der Rückkehr aus -dem Schrebergarten. Seine Ehefrau und die Schwiegereltern waren mitgekommen, und sie konnten die Dauer seiner «Abwesenheit>' von 7.15 Uhr bis 10.30 Uhr genau bestimmen. Er hatte unterwegs keinerlei Beschwerden geäußert. Erst im Garten fiel er durch ein ungewohnt zielloses Verhalten auf: scheinbar nachdenklich umhergehend, als ob er etwas suchte. Er unternahm jedoch

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On amnesic episodes

Cber amnestische Episoden

Adams, Leuschner: Amnestische Episoden

nichts zu erkennbaren Zwecken. In Gesprächen wirkte er zwar geordnet, er behielt jedoch nichts im Gedächtnis und hatte fast alles »aus der letzten Zeit» vergessen. Er kannte zwar den Ort und die Anwesenden, wußte jedoch nicht den Tag und die Stunde oder warum man sich im Garten aufhielt, wie man hierher gekommen war oder was man kürzlich hier getan und beschlossen hatte. Danach war er rasch wieder in Ordnung, nur die Erinnerungslücke ist geblieben. Der Hausarzt stellte am nächsten Tag erhöhten Blutdruck fest (195/loo mm Hg). Während zwölftägiger stationärer Kreislaufkontrollen wurden jedoch keine abnormen Blutdruckschwankungen mehr registriert. Bei den arteriographischen Darstellungen aller Hirngefäße zeigte sich nur eine Hypoplasie der rechten A. vertebralis. Alle anderen klinischen Befunde waren normal.

Das klinische Bild Die ersten Mitteilungen über »ictus amnésiques« stammen anscheinend aus dem 19. Jahrhundert und werden dem Pariser Arzt P. Gamier zugeschrieben (1). Inzwischen übersieht man fast zweihundert zuverlässige Beschreibungen (1, S, 7, 11). Die Anamnesen enthalten meist keinerlei Vorzeichen zerebraler Funktionsstörungen. Nur in wenigen Fällen hört man von flüchtigen Frühsymptomen, wie Schwindel, Ubelkeit, Blässe, Kopf schmerz oder Diplopie (6, 10). Die amnestischen Episoden überwiegen bei Männern und Frauen im fünften und sechsten Lebensjahrzehnt. Die Betroffenen verhalten sich plötzlich etwa so, als lebten sie in einer zeitlosen Gegenwart. Sie sind bei klarem Bewußtsein, sie sprechen in geläufigen Reihenfolgen der Wörter oder in idiomatisch gewohnten Redewendungen, und sie beherrschen beispielsweise sowohl Zahlenreihen als auch erlernte Gedichte und Lieder. Sie lesen laut einen Text, erfassen jedoch nicht die weiteren Zusammenhänge. Viele eingewöhnte Einzelabläufe des Handelns und Reagierens wirken ungestört: Körperpflege, Essen und Trinken, konventionelle Gesten der Höflichkeit, oft geübte Garten- oder Reinigungsarbeiten. Man kennt sogar Beispiele für einwandfreies Autofahren auf genau bekannten Kurzstrecken und für richtiges Fahren und Umsteigen in einem Stadtbahnsystem (1, 7). Derartige Handlungen laufen wahrscheinlich ganz unreflektiert nach festen sequentiellen Gewohnheiten ab: Auf Befragen erfährt man nichts oder nur unklare Andeutungen, etwa über das Ziel und den Grund einer Fahrt. Erst durch solche Fragen, durch ungewohnte Unterbrechungen oder gar Zwischenfälle kann den Anwesenden oder Begleitpersonen die Gedächtnisstörung

auffallen. Diese zeigt sich dadurch, daß die Gesprächsinhalte oft binnen weniger Sekunden vergessen sind. Das gegenseitige Fragen und Antworten wiederholt sich ohne nachhaltige Verständigung. An gewichtige Ereignisse aus den vorausgegangenen Wochen, etwa an den kürzlich eingetretenen Tod des Ehegatten, besteht keine Erinnerung. Alte Daten oder seit Jahren unveränderte Verhältnisse und selbst banale Jugenderinnerungen sind dagegen präsent. Die Kenntnis der örtlichen und räumlichen Situation bleibt meist erhalten, während die zeitliche Orientierung weitgehend gestört ist. Es ist schwer zu schätzen, wieweit den einzelnen Betroffenen diese episodischen Amnesien bewußt wer-

Deutsche Medizinische Wochenschrift

den. Vermutlich hängt es auch von Unterschieden des Wesens oder der Temperamente ab, wenn die einen gelassen oder nur etwas ratlos und abwartend wirken, andere dagegen dranghaft suchend, fragend und ängstlich reagieren. Die meisten bleiben aber besonnen und irren nicht desorientiert umher, denn sie finden in der Regel den richtigen Rückweg zu ihrer Wohnung. Die amnestischen Episoden beginnen plötzlich und enden ebenso unvermittelt. Dem Patienten fällt nachträglich sofort eine Erinnerungslücke auf, die sich über die Episodendauer von durchschnittlich 3 bis 6 Stunden erstreckt und die ihn beunruhigt zum Arzt führt, obwohl er sich nach wie vor gesund fühlt. Aus seltenen längeren, fast 24stündigen Episoden können nachträglich einzelne Erinnerungsfragmente auftauchen. Bis jetzt kann man grob schätzen, daß 10 bis 20% der Patienten eine zweite oder dritte Episode erleiden werden (2, 6, 7, 9). Internistisch und neurologisch findet man meist nichts Krankhaftes. Das Elektroenzephalogramm kann während der Episode normal sein (3, 4). Es kann in anderen Fällen aus noch nicht genügend klaren Gründen selbst nach den Episoden flüchtige Allgemein- oder Herdveränderungen zeigen (8, 12). Soweit arteriographische Befunde vorliegen, hatten sich bisher keine diagnostisch typischen Störungen des Hirnkreislaufs dargestellt.

Ober die Ursachen Toxische, epileptische oder durch metabolische Störungen begründbare Ausnahmezustände sind leicht auszuschließen, wenn Bewußtseinstrübung, Verwirrtheit, affektive oder psychotische Symptome fehlen und eine >'rein amnestische« Zeitspanne plötzlich beginnt und ebenso rasch endet. Als Ursache vermuten die meisten Autoren eine vorübergehende Mangeldurchblutung von Strukturen des limbischen Funktionssystems, nämlich einen Sonderfall der intermittierenden vertebro-basilären Insuffizienz. Auch wir vertreten diese Hypothese und legen daher Wert auf kasuistische Beispiele dafür, wie unsicher sie noch ist. Fall 1: Es handelt sich um zwei amnestische Episoden, die beide unter vergleichbaren körperlichen Belastungen während des Arbeitens in gebückter Haltung auftraten. Dabei dürfte die am Abgang stenotische linke A. vertebralis eine jeweils längere Drosselung erfahren haben. Obwohl wegen zeitweiliger labiler Hypertonie mit hämodynamischen Zusatzbedingungen unter Kreislaufbelastung zu rechnen war, mag die Vertebralisstenose im Hinblick auf die wiederholte Manifestation als auslösender Faktor wahrscheinlich sein. Fall 2: Eine amnestische Episode trat bei körperlicher Arbeit in gebeugter Kopf- und Rumpfhaltung auf. Dabei kam es offenbar zu einer Drosselung der in Höhe des Atlas geknickten linken A. vertebralis, während die vorübergehende Bradykardie als hämodynamische Zusatzbedingung gelten kann. Diese Knickbildung bestand aber zweifellos schon lange, bevor wir sie arteriographisch sahen, und sie machte dem Patienten weder früher noch später Beschwerden. Es ist also nicht mehr als möglich, daß eine Knickung der A. vertebralis die amnestische Episode auslöste.

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Fall 3: eine völlig »spontane« amnestische Episode, ein nachträglich nicht mehr beweisbarer Hochdruck und eine hypoplastische rechte A. vertebralis. Die Hypoplasie einer A. vertebralis ist so oft hämodynamisch irrelevant, daß ihr Zusammenhang mit der amnestischen Episode dieses Patienten als unklar zu bezeichnen ist. Zwar gibt es über das sogenannte limbische System in der Hirnpathologie des Menschen mehr Spekulationen als gesichertes Wissen. Dieses Wissen mag aber ausreichen, um zur Auslösung amnestischer Episoden zeitlich begrenzte und bilaterale Ischämien anzunehmen, die auf eng umschriebene Strukturen, wie Hippocampus, Fornix oder Corpus mamillare, beschränkt bleiben. Eine vorübergehende hämodynamische Insuffizienz in den Endstromgebieten der dünnen Aa. praemamillariae und Aa. pedunculares (beiderseits Äste der A. communicans posterior bzw. A. cerebri posterior) könnte zu solchen Ischämien führen. Dies wäre eine vorläufige einseitige Deutung. Entgegen der modischen Oberbewertung regionaler Gefäß- und Strömungsanomalien gewinnt man verläßliche und vollständige Antworten auf hirnpathologische Fragen aber nur aus den exakt analy-

Leicht, Baler: Hyperthyreose mit Hypercalciämie-Syndrorn

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sierten Struktur- und Funktionsbedingungen der gestörten Systeme. Literatur Barbizet, J.: Pathologie de la Mémoire (Presses Universitaires de France: Paris 1970). Bolwig, E. G.: Transient global amnesia. Acta neurol. scand. 44 (1968), 101.

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Prof. Dr. A. E. Adams Neurologische Klinik des Nordwest-Krankenhauses 6000 Frankfurt 90, Steinbacher Hohl 2-26

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[On amnesic episodes (author's transl)].

Amnesic episodes occur suddenly out of full health and pass off spontaneously after about three to six hours. Consciousness and customary speech and a...
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