1292.

Wolf: Nichr-epileprische Anfälle bei multipler Sklerose

Deutsche Medizinische Wochenschrift

Aktuelle Diagnostik

Redaktion: Prof. Dr. H. Hombostel, Hamburg Prof. Dr. W. Kaufmann, Köln Prof. Dr. W. Slegenthaler, Zürich

Dtsch. med. Wschr. 104 (1979), 1292-1294

Nicht-epileptische Anfälle bei multipler Sklerose

Hinweis darstellen. Im übrigen ergibt sich die Diagnose aus der Begleitsymptomatik und dem Verlauf. Tonische Anfälle

P. Wolf Neurologlsçhe Klinik Im UnlversltOtskllnlkurn Charlottenburg der Freien UniversitOs Berlin

Daß Patienten mit multipler Sklerose manchmal epileptische Anfälle haben

als solche die Diagnose einer multiplen Sklerose nahelegen, wenn nicht sogar

können - teils als zufälliges Zusammentreffen, teils aber auch als Symptom der

beweisen.

risch zu sein, während das Bein bei manchen Patienten eine Streckung, bei manchen eine Beugung vollzieht. Der

kannt, ebenso die gelegentliche Verursachung einer Trigeminusneuralgie durch diese Krankheit. Dagegen ist die Kenntnis der fünf übrigen nicht-epileptischen Anfallstypen bei multipler Sklerose (Ta-

Trigeminusneuralgie

belle 1) noch wenig verbreitet. Diese

Trigeminusneuralgie und nicht gegen

weil mindestens zwei von ihnen schon

Krampf beginnt plötzlich und breitet Sie wird als weitgehend typischer Tic douloureux beschrieben, so daß die Differentialdiagnose gegen idiopathische

andere symptomatische Formen zu stel-

len ist. Ein ungewöhnlich frühes Erkrankungsalter kann einen ätiologischen

Tab. 1. Die Trigeminusneuralgie tritt immer isoliert auf, während sich die übrigen fünf Anfalisarten in 41 von 73 Fällen untereinander kombinierten. 95°/o der Kombinationen gehören zu den drei mit Klammern versehenen Typen. Nur die paroxysmale Dysarthrie und Ataxie ist häufiger isoliert als kombiniert (14 : 10)

paroxysmale Parästhesien 23°/o

paroxysmale Dysarthrie und Ataxie paroxysmale Sehstörungen

tion auszulösen und dauert um 30 Sekunden, nur ausnahmsweise über eine Minute. Das Bewußtsein ist nie beeinträchtigt. Die Anfälle wiederholen sich häufig, in den meisten Fällen mehrmals täglich. Bei vier Fünftel der Patienten

ist der Krampf von Paästheslen und (oder) Schmerzen begleitet, üblicherwei-

se in den verkrampften Gliedmaßen.

1

Minuten

J

variabel

sind wichtig

Dauer

Trigeminusneuralgie tonische Anfälle Schmerzanfälle

sich rasch aus, ist nicht selten durch bestimmte Bewegungen und sensible Reize, manchmal auch durch Hyperventila-

Vereinzelt gibt es aber auch einen kontralateralen brennenden Schmerz, der die Beschrelber veranlaßt hat, von einem umgekehrten Brown-Séquard-Phänomen zu sprechen. In Einzelfällen soll auch der tonische Krampf doppelseitig gewesen sein. Die Beschreibungen hierzu sind unzureichend. Die Schmerzen

Anfailsart

67°/n

einbezogen ist. Die Bewegungen des Ar-

mes scheinen fast ausnahmslos flekto-

multiplen Sklerose -, Ist allgemein be-

Anfälle sind zwar nicht sehr häufig, aber doch ist es nötig, sie zu kennen,

Matthews (6) hat sie 1958 zum ersten Mal abgegrenzt: Die Anfälle sind fast immer halbseitig, wobei Arm und Bein so gut wie Immer, das Gesicht häufig

Sekunden um 30 s

>10°/n

5-15 s

variabel

für die Differentialdiagnose, die sich einerseits gegen epileptische Anfälle, andererseits gegen die paroxysmale Choreoathetose stellt (Tabelle 2).

0012-0472/79

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J Georg Thieme Verlag, Stuttgart

MW Praxis-Forum

Nr. 37, 14. September 1979, 104. Jg.

Tab. 2. Differentialdiagnose zwischen paroxysmaler Choreoathetose, tonischen Anfällen bei multipler Sklerose und fokal tonischen epileptischen Anfällen paroxysmale Choreoathetose

tonische Anfälle bei multipler Sklerose

fokal tonische epileptische Anfälle

Versivbewegung

nein

nein

üblich

dystone Bewegung

immer

nein

nein

Kloni

nein

nein

möglich

Schmerzen

nein

häufig

nein

Auslösbarkeit

üblich

üblich

selten

Hemmbarkeit Wiederholung

häufig

nein

möglich

täglich

täglich

sporadisch

neurologischer Befund

meist normal

meist pathologisch

meist normal

familiäres Auftreten

üblich

nein

nein

1Z93

sion ausheilen. Defekte nach tonlschen Anfällen sind üblicherweise Enthemmungsphänomene (Tonusstelgerung, Refiexvermehrung, Babinski) und nicht Parese. Demnach scheinen die Läsionen weniger die Pyramidenbahn als die extrapyramidalen Hemmsysteme zu betreffen.

Da derselbe Patient verschiedene An-

fälle haben kann, ist eine einheitliche Pathogenese zu vermuten, obwohl sich ein durch reine Ausfälle (paroxysmale Dysarthrie und Ataxie) und ein durch pathologische Entladungen (tonische Krämpfe) charakterisierter Typus unter-

scheiden ließen. Auf einen gemeinsamen Nenner sind sie zu bringen, wenn man den »Entladungstyp« durch den Wegfall von Hemm-Mechanismen erklärt. Hierfür spricht, daß diese Anfälle

Paroxysmale Dysarthrie und Ataxie Die Patienten klagen darüber, daß sie aus unauffälligem Intrvallzustand plötzlich für Sekunden »schwach werden«, »in den Beinen einknicken«, »ausfahrende Bewegungen bekommen«. Meist klärt erst die gezielte Befragung,

Paroxysmale Sehstörungen Über sie ist noch am wenigsten bekannt. Isoliert scheinen sie kaum vorzukommen. Da manchmal eindeutige

sehr häufig durch afferente Reize ausge-

Doppelbilder

gang in Enthemmung statt Parese im

daß es sich um eine ataktische Unsicherheit der Bewegungen handelt, die

sein.

von einem Undeutlichwerden der Sprache begleitet Ist. Die Beobachtung deckt eine wenige Sekunden dauernde schwere Ataxie bei Gang-, Stand- und Zielbe-

das Elektroenzephalogramm normal.

gebiet und Sehstörungen, die manchmal als Doppeltsehen bezeichnet, manchmal

aber auch nicht beschrieben werden können.

Paroxysmale Parästhesien Sie treten außer in Kombinationen auch isoliert auf, sind ein- oder beidseitig in Individuell verschiedenen Bezirken lokalisiert, haben manchmal brennenden Charakter; Ihre Dauer ist variabel, von wenigen Sekunden bis einigen Minuten. Daß sie bisher fast nur bei Patienten beschrieben wurden, die außerdem noch andere Arten von Anfällen hatten, legt die Vermutung nahe, paroxysmale Senslbilitätsstörungen seien In Wirklichkeit häufiger, entgingen aber als rein subjek-

tives Phänomen meist der Aufmerksamkeit des Arztes. Schmerzanfälle

Auch für sie gilt vermutlich das zuletzt Gesagte. Sie wurden isoliert nur von der Arbeitsgruppe von Espir erwähnt (2).

Bel Ihren Patienten waren sie auf ein Glied beschränkt und dauerten einige Minuten;

werden,

Während aller dieser Anf'äile bleibt

Klinik und Pathogenese Die tonischen Anfälle des beschriebenen Typus kommen fast nur bei multipler Sklerose vor, jedoch sind einzelne Fälle von Tumoren beschrieben worden

Die paroxysmale Dysarthrie und Ataxie wurde bisher nur bei multipler Sklerose beobachtet, die drei anderen Anfallsformen ebenfalls, doch ist über diese noch nichts Verbindliches zu sa(4).

gen. Bei multipler Sklerose fanden sich die Anfälle nur bei Verläufen mit Schüben und Remissionen, und hier gehören sie in die Anfangsphase des Schubes. In

inaktiven Krankheitsphasen - abklingender Schub, Intervall - hören die Anfälle meist spontan auf. Sie sind nicht selten die erste Manifestation der Krankheit - darin liegt ihre diagnostische Bedeutung - und beginnen im allgemeinen in frühen Schüben, können aber in späteren erneut auftreten. Deshalb und weil sich bei nicht weniger als einem Achtel der Patienten im Krankheitsverlauf verschiedene Anfallstypen entwickeln, könnte man dies sogar als einen besonderen Verlaufstyp der multiplen Sklerose bezeichnen.

Im Verlauf eines Schubes können sich anhaltende Ausfälle in den an den Anfällen beteiligten Systemen entwikkeIn; dies ist nicht obligat, und der Schub kann wie auch sonst bei der multiplen Sklerose mit Defekt oder Remis-

anderen

Enthemmungsphänomenen (Spasmen bei Querschnittslähmungen, beim Mittelhirnsyndrom) und der AusFalle eines Defektes.

Zur Entstehung der Anfälle wird vermutet (2), daß sie dann auftreten, wenn in einem frischen Entmarkungsherd die Leitungsfunktion der betroffenen Strukturen am Rande des Zusammenbruchs steht. In einem solchen labilen Funktionszustand ist vorstellbar, daß leichte physiologische Veränderungen des inne-

ren Milieus, zum Beispiel des Sauerstoffdrucks, des pH, der Membran-Elektrolyte zu einem vorübergehenden Aus-

fall führen können. Aus der weiteren Entwicklung der Plaque ergibt sich dann der Ausgang in Remission oder bleibenden Ausfall. Diese Hypothese ist einleuchtend und wahrscheinlich zutreffend, zumal immer wieder

Anfälle

durch Hyperventilation, Sauerstoffman-

gelatmung oder definierte körperliche Belastungen auslösbar waren. Die paroxysmale Dysarthrie und Ataxie ist vermutlich auf beidseits paramediane Herde in der kaudalen Brückenhaube zurückzuführen (7), während die tonischen Anfälle auf verschiedenen Niveaus des Hirnstamms und Rücken-

marks entstehen können. Zwei autoptisch untersuchte Fälle (mit umgekehrtem Brown-Séquard-Syndrom [1, 5fl erwiesen sich als fast ausschließlich spinale Lokalisationstypen der multiplen Sklerose. Therapie. Alle diese Anfallssyndrome scheinen zu einem gewissen Grade auf

Phenobarbital und Phenytoin, ganz aus-

gezeichnet jedoch auf Carbamazepin (Tegretal®,

Timonll®) anzusprechen. 400-800 mg Carbamazepin täglich sind

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wegungen auf, daneben eine schwere bulbäre Dysarthrie. Nystagmus gehört nicht dazu. Fakultative Begleitsymptome sind Parasthesien Im Trigeminus-

angegeben

manchmal auch eindeutig keine, scheinen sie pathogenetisch uneinheitlich zu

löst werden, ferner die Analogie zu

I Z94

Steuerrecht in der Praxis

im allgemeinen ausreichend, um die Anfälle, zum Verschwinden zu bringen.

Der Wirkungsmechanismus ist noch unklar, jedoch könnte es sich um einen Stabilislerungseffekt durch Drosselung der synaptischen Tätigkeit handeln (7).

Deutsche Medizinische Wochenschrift

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Literatur

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1292. Wolf: Nichr-epileprische Anfälle bei multipler Sklerose Deutsche Medizinische Wochenschrift Aktuelle Diagnostik Redaktion: Prof. Dr. H. Homb...
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