© Klaus Rüschhoff, Springer Medizin

Anaesthesist 2014 · 63:347–364 DOI 10.1007/s00101-014-2314-y Online publiziert: 4. April 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Neue orale  Antikoagulanzien in der  perioperativen Medizin Zusammenfassung

Die neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) hemmen direkt den Faktor Xa (Stuart-ProwerFaktor) oder den Faktor IIa (Thrombin). Sie werden zur Thromboseprophylaxe bei elektivem Hüft- oder Kniegelenkersatz, zur Therapie der tiefen Venenthrombose und zur Schlaganfallprophylaxe bei Vorhofflimmern als Behandlungsalternative zu den Vitamin-K-Antagonisten eingesetzt. Patienten mit langfristiger NOAK-Einnahme stellen alle Beteiligten in der perioperativen Phase vor medizinisch-logistische Herausforderungen. Bei geplanten Operationen ist zur individuellen Festlegung der perioperativen hämostaseologischen Strategie, insbesondere des optimalen Operationszeitpunkts, die frühzeitige Vorstellung der Patienten beim Anästhesisten zu fordern. Die zeitliche Dringlichkeit bei „Notoperationen“ muss interdisziplinär gegen das Blutungsrisiko unter NOAK abgewogen werden. Die Bestimmung der Medikamentenspiegel erlaubt hierbei eine Abschätzung der aktuellen Antikoagulation. Ursächlich koagulopathisch bedingte Blutungsnotfälle werden mit Blutprodukten und Gerinnungsfaktorenkonzentraten unspezifisch therapiert.

Schlüsselwörter

Direkte Thrombininhibitoren · Perioperative Phase · Blutung · Notfallbehandlung · Therapieerfolg Der Anaesthesist 4 · 2014  | 

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CME

Lernziele Nach der Lektüre des vorliegenden Beitrags F kennen Sie die wesentlichen pharmakologischen Eigenschaften der neuen oralen Antikoagulanzien (NOAK) und deren Bedeutung für das perioperative Management. F können Sie Möglichkeiten und Grenzen der Gerinnungsdiagnostik unter Behandlung mit NOAK beurteilen. F sind Sie in der Lage, eine sinnvolle perioperative Risikostratifizierung von Patienten unter Antikoagulation vorzunehmen. F können Sie die Indikation zur Durchführung einer Regionalanästhesie, einschließlich Kathetertechnik, abwägen. F erkennen Sie die Bedeutung der frühzeitig geplanten Operationsvorbereitung als wegweisende und sichere Maßnahme für Patienten mit dauerhafter Antikoagulation. F können Sie eine rationale Strategie bei Blutungsnotfällen unter NOAK-Therapie erarbeiten.

Wirkungsweise und Pharmakokinetik

Die neuen oralen Antikoagulanzien hemmen direkt die aktiven Zentren der Gerinnungsenzyme

Vitamin-K-Antagonisten (VKA) und Heparine sind als Antikoagulanzien weit verbreitet. Beim Einsatz von VKA wird die Bildung der Vitamin-K-abhängigen Gerinnungsfaktoren beeinträchtigt und damit das Gerinnungspotenzial reduziert. Der gerinnungshemmende Effekt tritt durch die Synthese­ störung verzögert ein. Heparine verstärken durch Bindung an Antithrombin dessen Wirkung. Die Hemmung setzt unmittelbar nach Applikation ein. Beide Substanzgruppen entfalten ihre Wirkungen indirekt. Die Wirkung der NOAK basiert dagegen auf der direkten Hemmung der aktiven Zentren der Gerinnungsenzyme, wie Faktor Xa (Rivaroxaban, Apixaban) oder Thrombin (Dabigatran; . Abb. 1). Durch die  hohe Bindungsaffinität direkt an das aktive Zentrum der Enzyme wird die Substratumsetzung verhindert. Die Wirkung der NOAK ist daher sofort nach Einnahme und Resorption verfügbar. Die Wirkung ist reversibel und hat eine dem niedermolekularen Heparin (NMH) vergleichbare (kurze) Halbwertszeit (HWZ; . Tab. 1; [1, 2, 3]). Weitere Ähnlichkeiten zwischen NOAK und NMH finden sich in folgenden Eigenschaften: F Es besteht eine lineare Korrelation zwischen dem Plasmaspiegel und der Hemmung der plasmatischen Gerinnung. F Die maximalen Wirkspiegel werden wenige Stunden nach Applikation gemessen.

New oral anticoagulants in perioperative medicine Abstract

New oral anticoagulants (NOAC) inhibit factor Xa (Stuart-Prower factor) or factor IIa (thrombin) and are alternatives to vitamin K antagonists. Perioperative indications are deep vein thrombosis prophylaxis for prosthetic hip and knee replacement, therapeutic anticoagulation for deep vein thrombosis as well as the prophylaxis of stroke for patients with atrial fibrillation. Patients on NOACs pose multiple perioperative challenges for all medical disciplines involved. For non-emergency surgery, patients should be evaluated by an anesthesiolgist as early as possible to assess an optimal appointment for surgery and bridging strategy. Management of emergency procedures for patients on NOACs requires an interdisciplinary approach. The individual risk for uncontrolled bleeding versus the urgency for surgery needs to be evaluated on an individual basis. The determination of drug serum levels enables a rough estimation of anticoagulant activity. Emergency procedures in coagulopathy due to active bleeding are treated with the unspecific administration of blood products and coagulation factor concentrates.

Keywords

Direct thrombin inhibitors · Perioperative period · Hemorrhage · Emergency treatment · Treatment outcome

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Der Anaesthesist 4 · 2014

CME Antikoagulanzien

Abb. 1 7 Klinisch gebräuchliche Antikoagulanzien (NOAK). DTI direkter Thrombininhibitor, NMH niedermolekulares Heparin, UFH unfraktioniertes Heparin

Indirekte Antikoagulanzien Vitamin K-Antagonisten Heparin und Analoga NMH, UFH Heparinoid (Orgaran®) Pentasaccharid (Arixtra®)

Direkte Antikoagulanzien NOAK (DTI) Dabigatranetexilat (Pradaxa®) NOAK (Xa-Inhibitoren) Rivaroxaban (Xarelto®) Apixaban (Eliquis®) Parenterale DTI Argatroban (Argatra®) Bivalirudin (Angiox®)

Gerinnungstests Gerinnungsphysiologische Untersuchungen werden in der perioperativen Situation häufig durchgeführt. Dabei werden in der Regel Gerinnungsparameter wie Thromboplastinzeit (TPZ), Quick-Wert, International Normalized Ratio (INR) und aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT) bestimmt, um das plasmatische Gerinnungssystem global zu beurteilen. Die Dauer bis zur Bildung eines messbaren Gerinnsels ist die Basis für die Messergebnisse. Gerinnungsaktive Substanzen (v. a. Antikoagulanzien) beeinflussen Gerinnungsuntersuchungen. Veränderte globale Gerinnungsparameter sind nicht zwangsläufig geeignet, um quantitative oder qualitative Aussagen zum Vorliegen einer NOAKWirkung zu machen. Nur unter geeigneten Bedingungen können diese Untersuchungen zum Monitoring von Antikoagulanzien verwendet werden ([10, 11, 12, 13, 14, 15, 16]). Die neuen direkten Faktor-Xa- und -IIa-Inhibitoren beeinflussen in entsprechender Konzen­ tration nahezu alle funktionellen Untersuchungen der globalen und speziellen Gerinnung. Für eine Interpretation der Befunde ist es unumgänglich zu wissen, wann der Patient welches NOAK zuletzt eingenommen hat [3, 8]. Ohne diese Therapieinformationen besteht die Gefahr einer Fehlinterpretation der Befunde z. B. als VKA-Effekt oder  Verbrauchskoagulopathie.

Veränderte globale Gerinnungs­ parameter sind zum Vorliegen einer NOAK-Wirkung nicht aussagekräftig Direkte Faktor-Xa- und -IIa-Inhi­ bitoren beeinflussen funktionelle Untersuchungen­ der Gerinnung

Globalparameter Thromboplastinzeit

Die TPZ, ein Globalparameter der Gerinnung, wird verwendet, um die  extrinsische Gerinnungskaskade, die Faktoren II, V, VII, X und die gemeinsame Endstrecke zu untersuchen. Daher ist er auch geeignet, um die Therapie mit VKA zu überwachen. Die TPZ-Messung wird über die Aktivierung des Gerinnungsfaktors VII durch Gewebsthromboplastin gestartet. Die TPZ ist für Dabigatran wenig sensitiv. Unter Rivaroxaban oder Apipaxaban treten  dosisabhängige Veränderungen der TPZ auf. Damit ist notfallmäßig eine qualitative und quantitative Einschätzung der (Rest-)Plasmaspiegel möglich (. Abb. 2).

Mithilfe der TPZ kann die VKATherapie­ überwacht werden

Aktivierte partielle Thromboplastinzeit

Die aPTT, ebenfalls ein Globalparameter, wird eingesetzt, um den intrinsischen Teil der Gerinnungskaskade, die Faktoren II, V, VIII, IX, XI, XII und die gemeinsame Endstrecke zu untersuchen. Das Monitoring der  UFH-Therapie ist ein wichtiges Einsatzgebiet. Die aPTT-Messung wird über die Aktivierung des Gerinnungsfaktors XII durch Aktivatoren wie Kaolin und Silikate gestartet. Veränderungen der aPTT unter Dabigatran verlaufen nicht linear mit der Konzentration der Substanz, allerdings weist ein normaler aPTT-Befund auf einen geringen Dabigatranplasmaspiegel hin. Unter dem Einfluss von Rivaroxaban oder Apixaban sind dosisabhängig variable Veränderungen der aPPT möglich; die quantitative Einschätzung der Medikamentenwirkung ist nicht möglich (. Abb. 2).

Eine normaler aPTT-Befund weist auf einen geringen Dabigatranplas­ maspiegel hin

„Activated clotting time“

Die „activated clotting time“ (ACT), als  „Point-of-care“-Methode im Vollblut gemessen, entspricht einer aPTT-Messung im Vollblut. Der Einsatz beschränkt sich meist auf das Monitoring von periDer Anaesthesist 4 · 2014 

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CME Tab. 1  Pharmakologisches Kurzprofil der neuen oralen Antikoagulanzien im Vergleich zum niedermole-

kularen Heparin Enoxaparin. (Nach [4, 3, 5, 6, 7, 8, 9, 10])   Bioverfügbarkeit (%) Maximaler Wirkspiegel nach ... h Halbwertszeit (h) Renale Elimination (%) Eiweißbindung (%) Pro-Drug

Dabigatran 6–7 1–2 12–15 85 35 +

Rivaroxaban 80–100 2–4 7–12 33 90 −

Apixaban 50 3–4 8–14 27 87 −

Enoxaparin Ca. 100 3–5 4–7 40   −

Tab. 2  Erwartete Plasmaspiegel unter Gabe von neuen oralen Antikoagulanzien. (Nach [5, 6, 7, 10, 15, 20,

21])

Dabigatran

Ø Cmax, ca. 2 h nach EinnahØ Cthrough, ca. 10–16 h nach Einnahme (bzw. vor me (ng/ml) nächster Einnahme; ng/ml) 1-mal 220 mg/Tag 71 (35–162) 22 (13–36) 2-mal 150 mg/Tag 175 (117–275) 91 (61–143) 2-mal 110 mg/Tag 126 (85–200) 65 (43–102) Dringliche Intervention möglich: Plasmaspiegel 200 ng/ml Rivaroxaban Ø Cmax, ca. 2 h nach EinnahØ Cthrough, ca. 10–16 h nach Einnahme (bzw. vor me (ng/ml) nächster Einnahme; ng/ml) 1-mal 10 mg/Tag 125 (91–196) 9 (1–38) 1-mal 20 mg/Tag 270 (189–419) 26 (6–87) Dringliche Intervention möglich: Plasmaspiegel 200 (535) ng/ml Apixaban „Anti-FXa-Aktivität im Fließ-   gleichgewicht“   Höchste Tiefste 2-mal 2,5 mg/Tag 1,84 IE/ml (1,02–3,29) 1,18 IE/m (0,51–2,42) 2-mal 5 mg/Tag 2,55 IE/ml (1,36–4,79) 1,54 IE/ml (0,61–3,43) Cmax maximaler Plasmaspiegel, Cthrough Tal- bzw Plasmaspiegel vor nächster Einnahme.

operativen Heparin- und Bivalirudingaben. Die Veränderungen der ACT unter Dabigatran, Rivaroxaban und Apixaban sind ähnlich wie die der aPTT (. Abb. 2).

Spezifische Spiegelbestimmung Spiegelbestimmungen können wichtige Informationen über den Zustand des Hämostasesystems ­liefern

Auch wenn in der klinischen Routine die Bestimmung der Medikamentenspiegel nicht vorgesehen ist, können Labortests zum Monitoring der NOAK in der perioperativen Phase wichtige zusätzliche Informationen über den Zustand des Hämostasesystems liefern und damit die Risikoeinschätzung sowie die Entscheidungsfindung erleichtern [11, 17, 18]. Die Bestimmung von Plasmaspiegeln ist hilfreich bei: F Patienten mit akutem oder chronischem Leber- oder Nierenversagen, F fraglicher Patienten-Compliance (Über- oder Unterdosierung), F vor Notfallinterventionen, F Blutungen unter NOAK oder Entgleisungen der Hämostase. Die individuelle Interpretation von Plasmaspiegeln in verschiedenen Konstellationen ist oft schwierig und verlangt Kenntnisse der zu erwartenden  substanzanhängigen Spitzen- und Talspiegel. Aus aktuell veröffentlichen Daten [19] über die Anwendung von Dabigatranetexilat lassen sich folgende Nutzen-Risiko-Überlegungen für die klinische Praxis ableiten: F Mit einer Zunahme der Dabigatranwirkspiegel steigt das Blutungsrisiko ohne Effektivitätssteigerung (d. h. keine weitere Reduktion thrombembolischer Ereignisse). F Die Dabigatranetexilatdosierung sollte daher „titriert“, mit Kontrolle der Wirkspiegelkonzentration erfolgen („individuelle Optimaldosis“).

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CME Dabigatranetexilat

Rivaroxaban

Apixaban

Nicht empfohlen

Dosisabhängige Veränderung, variable Sensitivität

Dosisabhängige Veränderung, niedrige Sensitivität

Variable Sensitivität, (nicht linear)

Dosisabhängige Veränderung, niedrige Sensitivität

Dosisabhängige Veränderung, niedrige Sensitivität

"Activated clotting time" (ACT)

Variable Sensitivität

Niedrige Sensitivität

Niedrige Sensitivität

"Ecarin clotting time"

Sensitive Quantifizierung des Plasmaspiegels

Nicht empfohlen

Nicht empfohlen

Sehr sensitiv, in verdünnter Variante: sensitive Quantifizierung des Plasmaspiegels

Nicht empfohlen

Nicht empfohlen

Nicht empfohlen

Sensitive Quantifizierung des Plasmaspiegels

Sensitive Quantifizierung des Plasmaspiegels

Thrombinzeit (TZ)

Anti-XaBestimmung

Spezifische Spiegelmessung

Aktivierte partielle Thromboplastinzeit (aPTT)

Globalparameter

Thromboplastinzeit (TPZ, Quick-Wert, INR)

Abb. 2 8 Bestimmungsmethoden zur Gerinnung bei Therapie mit neuen oralen Antikoagulanzien. Grau stark eingeschränkt interpretierbare Ergebnisse, rot nichtinterpretierbare Ergebnisse, grün derzeit genaueste Ergebnisse. (Adaptiert nach [8, 9])

F Dies gilt v. a. bei Vorliegen folgender Risikofaktoren: Patientenalter >75 Jahre, Körpergewicht Rivaroxaban > Apixaban). Auswahl und Dosierung der NOAK erfolgen unter Berücksichtigung der Nierenfunktion anhand: F Kreatinin-Clearance (CrCl) oder F geschätzter glomerulärer Filtrationsrate (eGFR).

Rasche Schwankungen der Nieren­ funktion erschweren die NOAK-Do­ sierung

In der Praxis erschweren rasche Schwankungen der Nierenfunktion abhängig von der Hämodynamik und unterschiedliche Bestimmungsmethoden der eGFR die Dosierung. Bei bekannter oder vermuteter Beeinträchtigung der Nierenfunktion kann eine Bestimmung der aktuellen Wirkspiegel daher wesentlich besser zur Risikostratifizierung beitragen [22, 23, 24].

Geplante Operationen Folgende Fragen müssen präoperativ frühzeitig im  interdisziplinären Team besprochen und für jeden Patienten individuell abgearbeitet werden: F Antikoagulation und Medikation: 1 Indikation für die Antikoagulation (Thrombose und Blutung) 1 Art der Gerinnungshemmung 1 Ist der Patient im kritischen Zeitfenster? 1 Ist ein Wechsel der Methode der Antikoagulation („Switching“) sinnvoll? 1 Ansprüche an die postoperative gerinnungshemmende Therapie F Patientenseitig: 1 Komorbidität (Nieren, Leber, Knochenmark) 1 Komedikation [Plättchenhemmstoffe, nichtsteroidale Antirheumatika (NSAR)] F Prozedurale Erfordernisse: 1 medizinische Dringlichkeit der Operation 1 Erscheint die Durchführung einer Regionalanästhesie sinnvoll? 1 Blutungsrisiko durch die geplante Operation

Medizinische Dringlichkeit der Operation unter Antikoagulation Absolute Arrhythmien bei Vorhof­ flimmern sind die Behandlungs­ ursache der mit Abstand größten Gruppe der antikoagulierten Pa­ tienten

Etwa 1% der Bevölkerung in Industrienationen ist zur Verhinderung arterieller und venöser Thrombo­embolien dauerhaft antikoaguliert [25]. Dabei stellen die Patienten mit absoluter Arrhythmie bei Vorhofflimmern die mit Abstand größte Gruppe dar. Durch eine frühzeitige präoperative Vorstellung dieser Patienten – z. B. in einer Prämedikationsambulanz – kann bereits zu einem frühen Zeitpunkt eine  individuelle Risikostratifizierung erfolgen.

Indikation für die Antikoagulation, Risikoprofil für Thrombose und Blutung Das thrombogene Risiko ist für die Patienten potenziell lebensbedroh­ lich

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Die dauerhafte Therapie mit Plättchenaggregationshemmern und/oder Hemmstoffen der plasmatischen Gerinnung führt im klinischen Alltag häufig zur Konfusion. Das thrombogene Risiko stellt für die Patienten einen potenziell lebensbedrohlichen Faktor dar. In . Tab. 3 werden häufige, klinisch relevante Konstellationen der gerinnungshemmenden Therapie zusammengefasst. Bei Patienten mit Vorhofflimmern erscheint eine Risikostratifizierung mithilfe des CHA2DS2VASc-Score hilfreich (. Tab. 4; [26]). Die Indikation zur Antikoagulation ist nach oben genanntem Score großzügig zu stellen. Demgegenüber steht das  individuelle Blutungsrisiko der Patienten vor Beginn einer Antikoagulation (. Tab. 5).

CME Tab. 3  Notwendigkeit einer dauerhaften gerinnungshemmenden Therapie Indikation KHK Zustand nach koronarer Stent-Implantation (DES/BMS)

Wirkort Primäre Hämostase

Therapie Duale Plättchenhemmung

Nichtvalvuläres Vorhofflimmern

Plasmatische Gerinnung, arterielle Thrombosen

Vitamin-K-Antagonisten oder NOAK

Perioperative Thromboseprophylaxe

Venöse Thrombosen

NMH

Therapiedauer Abhängig vom implantierten Stent 6 Wochen bis 12 Monate ASS, 100 mg, lebenslang Lebenslang

Perioperativ Abhängig von operativem Eingriff und Immobilisation

Perioperativ ASS, 100 mg

Zeitgerechtes Absetzen der NOAK-Therapie Ggf. „switching“ mit NMH/ unfraktioniertem Heparin Thromboembolieprophylaxe, ggf. pneumatische Kompressionsstrümpfe

ASS Acetylsalicylsäure, BMS „bare metal stent“, DES „drug-eluting stent“, NMH niedermolekulares Heparin, NOAK neue orale Antikoagulanzien, KHK koronare Herzkrankheit.

Tab. 4  Schlaganfallrisikoabschätzung bei

Patienten mit Vorhofflimmern nach dem CHA2DS2-VASc-Score (maximal 9 Punkte) C H A2 D S2

V A Sc

Chronische Herzinsuffizienz Arterielle Hypertonie Alter ≥75 Jahre Diabetes mellitus Vorangegangener Schlaganfall, transitorische ischämische Attacke, Embolie Periphere arterielle Verschlusskrankheit Alter 65 bis 74 Jahre Weibliches Geschlecht

1 1 2 1 2

1 1 1

≥2 Punkte hohes Schlaganfallrisiko: orale Antikoagulation empfohlen, 1 Punkt orale Antikoagulation empfohlen, 2. Wahl Acetylsalicylsäure (ASS) 100 mg, 0 Punkte ASS 100 mg.

Tab. 5  HAS-BLED Score zur Einschätzung

des Blutungsrisikos vor Beginn einer Antikoagulation (maximal 9 Punkte) H A

S B L E D

Arterielle Hypertonie Pathologische Nieren- und/ oder Leberfunktion (jeweils 1 Punkt) Schlaganfall Blutung Instabiler Wert in der International Normalized Ratio Alter ≥65 Jahre Drogen oder Alkohol (jeweils 1 Punkt)

1 1 oder 2

1 1 1 1 1 oder 2

≥3 Punkte hohes Blutungsrisiko, engmaschige Kontrollen empfohlen.

Ein HAS-BLED Score ≥3 Punkte führt selten zum Verzicht einer indizierten Gerinnungshemmung. Er liefert aber einen Hinweis auf das erhöhte individuelle Blutungsrisiko des Patienten vor Beginn einer gerinnungshemmenden Therapie. Zusätzlich eingenommene gerinnungshemmende Medikamente (z. B. Plättchenhemmer, NSAR), anamnestisch stattgehabte gastro­ intestinale Blutungen oder Thrombozytopenie lassen den Einsatz von NOAK fraglich erscheinen. Eine  Dosisreduktion ist obligat [27].

Komedikation, Komorbidität P-Glykoproteine und die Zytochromoxigenasen (Zytochrom P450, CYP) können von Medikamenten inhibiert bzw. induziert werden. Alle NOAK werden als Substrate der P-Glykoproteine aktiv vom Zellinneren nach außen transportiert. Rivaroxaban und Apixaban sind Substrate der CYP3A4 und weiterer CYP-Isoenzymen. Eine Zusammenstellung von Substanzen, die durch ihre starke Induktion bzw. Inhibition der P-Glykoproteine und/oder der CYP3A4 zu einer klinisch relevanten Zu- bzw. Abnahme der NOAK-Plasmaspiegel führen, bietet . Tab. 6 [6, 7, 10, 28]. Die NOAK selbst haben keinen Einfluss auf den Plasmaspiegel anderer Medikamente. Patientenseitige Risikofaktoren, die ebenfalls zu einer Wirkspiegelzunahme führen, sind Alter ≥75 Jahre, Körpergewicht 2

10–15

50–75 3–4

Wichtigste Einflussgrößen sind für Dabigatran die Nierenfunktion sowie für Rivaroxab und Apixaban das Alter des Patienten.2 HWZ: 75%ige, 3 HWZ: 88%ige, 4 HWZ: 94%ige, 5 HWZ: 97%ige Medikamentenelimination. Zur Berechnung wurden die oberen Limits für die HWZ herangezogen.

Prothrombinkomplexkonzentrat.  Durch die Zufuhr von nichtaktivierten Gerinnungsfaktoren steht mehr Substrat für die Gerinnung zur Verfügung. Ohne die Aktivierung selbst zu beeinflussen, wird so, vermutlich durch die Gleichgewichtsverschiebung, das Gerinnungspotenzial verstärkt. Das Thromboserisiko bei der Reversierung von VKA mit PPSB ist gering (1,8%). Thrombotische Zwischenfälle haben sich v. a. bei hoher Dosierung (>50 IE/kgKG) und Patienten mit schwerer Leberinsuffizienz ereignet. Daher betragen die Dosierungsempfehlungen bei akuten NOAK-Blutungen für PPSB 25–50 IE/kgKG. Aktiviertes Prothrombinkomplexkonzentrat.  Factor eight inhibitor bypassing activity enthält die Gerinnungsfaktoren II, IX, und X vorwiegend in inaktiver Form sowie Faktor VII vorwiegend in aktiver Form. Die Wirkkomponenten von FEIBA sind noch immer Thema wissenschaftlicher Debatten. Wahrscheinlich spielen auch weitere aktive Formen – z. B. Faktor Xa – eine Rolle. Möglicherweise ist damit nicht nur die Gleichgewichtsverschiebung durch die Zufuhr von Gerinnungsfaktoren ein zentraler Wirkmechanismus. Die vorgeschlagene Dosierung von 30–50 IE/kgKG entspricht der halbierten Dosis zur Hämophiliebehandlung. Rekombinanter aktivierter Faktor VII.  Rekombinater Faktor VIIa (Novoseven®) kann in Verbindung mit dem Gewebsthromboplastin Faktor X zu Faktor Xa aktivieren. Zudem erfolgt eine Aktivierung von Faktor IX zu Faktor IXa. Faktor Xa wandelt Prothrombin in Thrombin um. Durch die

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CME Tab. 12  Empfohlene Therapiepausen von neuen oralen Antikoagulanzien vor und nach Katheteranlage/

-entfernung

NOAK-Dosierung zur Thrombo­ embolieprophylaxe Rivaroxaban, 10 mg Apixaban, 2,5 mg Dabigatran, 150–220 mg

Zeitpunkt vor Punktion/Katheter­ anlage oder -entfernung 22–26 h 26–20 h Kontraindiziert

Zeitpunkt nach Punktion/Kathe­ teranlage oder -entfernung 4–6 h 4–6 h 6 h

Tab. 13  Studien zur medikamentösen Reversierung der Wirkung der neuen oralen Antikoagulanzien.

(Adaptiert nach [36])   Aktivkkohle, oral Hämodialyse „Fresh FROZEN PLASMA“ Prothrombinkomplexkonzentrat

Dabigatran In vitro Gesunde Freiwillige Maus Gesunde Freiwillige, Ratte

Rekombinanter aktivierter Faktor VII

Ratte

Tab. 14  Vorschlag zur Reversierung der

Wirkung von neuen oralen Antikoagulanzien   Aktivkohle, oral Hämodialyse „Fresh frozen plasma“ Rekombinanter aktivierter Faktor VII Prothrombinkomplexkonzentrat „Factor eight inhibitor bypassing activity“

Dabi­ gatran Ja

Rivaro­ xaban Ja

Apixa­ ban Ja

Ja Nein

Nein Nein

Nein Nein

Unklar

Unklar

Unklar

Möglich

Möglich

Möglich

Möglich

Möglich

Möglich

Rivaroxaban Keine Daten Keine Daten Keine Daten 12 gesunde Freiwillige Ratte und Pavian

Apixaban Keine Daten Keine Daten Keine Daten Keine Daten Keine Daten

nachfolgende Umwandlung von Fibrinogen zu Fibrin erfolgen die Bildung eines  Fibringerinnsels und somit die lokale Blutstillung. Der rFVIIa scheint wenig effektiv bei der Reversierung von Rivaroxaban und Dabigatran zu sein. Desmopressin/Antifibrinolytika.  Für den Einsatz von Desmopressin und/oder Antifibrinolytika liegen keine Erfahrungen vor. Der therapeutische Nutzen ist fraglich. Die aktuellen Empfehlungen beruhen auf experimentellen Kleintiermodellen, In-vivo- und Ex-vivoStudien bei einer geringen Anzahl gesunder Freiwilliger und Fallberichten. Experimentelle Daten zum Vorgehen bei NOAK-Überdosierung liegen derzeit nicht vor (. Tab. 13, 14).

Spezifische Therapie mit NOAK-Antidota

Xa-Inhibitoren.  Zur schnellen Reversierung der NOAK-Wirkung bei starken akuten Blutungen läuft derzeit eine Phase-2-Machbarkeitsstudie mit einem modifizierten, rekombinanten Faktor Xa ( Andexanet alfa). Dessen antagonistische Wirkung wird über eine Komplexbildung mit dem Xa-Inhibitor erreicht („Bindungsfalle“). Nach einer Bolusdosis konnte damit die Aktivität von Apixaban um 92% reduziert werden. Eine kontinuierliche Gabe war anschließend zur Aufrechterhaltung des Effekts notwendig. Eine vergleichbare Wirkung wird aktuell bei anderen Xa-Inhibitoren untersucht. Die Markteinführung ist frühestens in 2 Jahren zu erwarten. Dabigatran.  Bereits 2011 wurde ein  monoklonaler Antikörper gegen Dabigatran in einer Phase1-Studie erprobt. Die Wirksamkeit konnte im Kleintiermodell gezeigt werden. Der Zeitpunkt seiner klinischen Verfügbarkeit ist derzeit nicht absehbar.

Dringende Operation mit Blutungsrisiko Von einer französischen Arbeitsgruppe wurden 2013 Vorschläge zum perioperativen Management von Patienten unter NOAK-Therapie und deutlich erhöhtem perioperativen Blutungsrisiko erarbeitet (. Tab. 15). Neben der aktuellen CrCl, dem Patientenalter und -körpergewicht, der letzten Der Anaesthesist 4 · 2014 

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CME Tab. 15  Dringende Operation (

[New oral anticoagulants in perioperative medicine].

New oral anticoagulants (NOAC) inhibit factor Xa (Stuart-Prower factor) or factor IIa (thrombin) and are alternatives to vitamin K antagonists. Periop...
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