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Klinik und Poliklinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie, Universitätsspital & Zentrum für Zahnmedizin, Universität Zürich^ Surgical Planning Laboratory, Brigham and Women's Hospital, Harvard University Boston (USA)^ ^Heinz-Theo Lubbers, ^Felix Matthews, ^Astrid L. Kruse

Moderne Technologien in der Mund-, Kieferund Gesichtschirurgie Modern Technologies in Cranio-Maxillofacial Surgery

Zusammenfassung Moderne Verfahren halten zunehmend Einzug in die Medizin. Die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie als Schnittstellenfach zwischen Medizin und Zahnmedizin implementiert diese aus beiden Bereichen. Der vorliegende Artikel gibt einen Überblick über die für das Fach typischen Technologien, die sich zum heutigen Zeitpunkt schon in der klinischen Alltagsanwendung befinden. Es wird das Prinzip mit seinen Indikationsbereichen dargestellt und Vor- und Nachteile werden gegeneinander abgewogen. Auf Basis der digitalen Volumentomografie werden die dreidimensionale Bildfusion und Spiegelung genauso dargestellt wie patientenspezifische Modelle und Implantate, schienengeführte und freie Navigation mit und ohne dreidimensionale intraoperative Bildgebung. Eine Gesamtwürdigung zeigt gleichzeitig noch weiteren Forschungsbedarf bezüglich der Indikationsstellung auf. Schlüsselwörter: Digitale Volumentomographie - Computernavigation - Dreidimensionale Fotografie - Implantologie

Einleitung Wie unser Alltag auch wird die Medizin zunehmend von modernen Technologien geprägt [1]. Dies gilt aus drei ©2014Verlag Hans Huber, HogrefeAG, Bern

Gründen in besonderem Mass für die Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie (MKG-Chirurgie): Erstens stellt der dreidimensional (3D) komplexe Gesichtsschädel den Chirurgen vor besondere Herausforderungen bezüglich Vorstellungsvermögen, Planung und operativer Umsetzung [2]. Zweitens besteht der Anspruch, operative Zugänge im sichtbaren Bereich wann immer möglich zu vermeiden und bei hierdurch reduzierter Übersicht in einer Region mit vielen vitalen Strukturen zu arbeiten. Drittens prädestinieren die beiden Standbeine der MKG-Chirurgie in der Medizin und Zahnmedizin dazu, technologische Entwicklungen aus beiden Bereichen aufzugreifen. Der vorliegende Artikel soll einen Überblick darüber geben, welche Technologien in der modernen MKG-Chirurgie eingesetzt werden. Allerdings bleibt diese Übersicht zwangsläufig unvollständig und für den Spezialisten vielleicht auch zu wenig detailliert. Es wird auf etablierte und routinemässig im klinischen Alltag eingesetzte Verfahren fokussiert, die bis zu einem gewissen Grad eine Spezialität der MKG-Chirurgie und allenfalls noch angrenzender Fachgebiete darstellen. Technologien in Entwicklung oder klinischer Erforschung (z.B. Mikrodialyse oder photodynamische Therapie) bleiben bewusst «aussen vor», um auf der einen Seite den Umfang des Artikels nicht zu sprengen und auf der anderen Seite zu gewährleisten, dass die dargestellten Methoden nicht nur einen kurzfristigen

Trend darstellen, der in wenigen Jahren wieder obsolet ist. Ferner bleiben Technologien unerwähnt, die in vielen Bereichen der Medizin regelmässig zum Einsatz kommen und als geläufig angenommen werden können (z.B. arthroskopische oder endoskopische Eingriffe, Laseranwendungen).

Technologien im Detail Dreidimensionales Röntgen/ Digitale Volumentomographie Conditio sine qua non für eine erfolgreiche Chirurgie ist die präzise Kenntnis der Anatomie. Lange Zeit war das Wissen begrenzt auf die allgemeine Anatomie und Informationen zum individuellen Patienten lagen nicht vor. Wilhelm Conrad Röntgen [3,4] hat dies 1895 grundlegend geändert. Fortan bestand die Möglichkeit des «Einblicks» in den einzelnen Patienten schon vor einem operativen Eingriff. Die Einführung der Computertomographie (CT) im Jahr 1972 - massgeblich beeinflusst durch Ambrose, Cormack und Hounsfield [5-7] - hat das Tor zur individuel-

Im Artikel verwendete Abkürzungen: 3D Dreidimensional CAS Computerassistierte Chirurgie CT Computertomographie DVT Digitale Volumentomographie MKC-Chirurgie Mund-, Kiefer-und Gesichtschirurgie DOl 10.1024/1661-8157/a001570

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Abb. 1: Mit einem digitalen Volumentomogramm erreichte Bildqualität am Beispiel einer retromolaren Region nach Weisheitszahnentfernung: erkennbare Knochenapposition im Bereich der Extraktionsalveole und deutlich erkennbarer Knochenkanal des Nervus alveolaris inferior sowie seines Astes zum letzten Molaren. Weiterhin kariöse Läsion an ebendiesem Molaren mit unterminierender Ausbreitung im Dentin.

len Beurteilung unserer Patienten dann endgültig geöffnet [ 1 ]. Für zahnmedizinische Fragestellungen hahnhrechend war die Vorstellung der digitalen Volumentomographie (DVT) im Jahre 1998 [8] .Während die CT durch Aufwand, Verfügharkeit und Strahlenbelastung auf spezielle und eher medizinische Fragestellungen heschränkt hlieh, ist die DVT gleichsam das CT des Zahnarztes und auch des MKG-Chirurgen. Es ermöglicht hei deutlich reduzierter Strahlenhelastung (verglichen mit dem CT) die 3D-Darstellung von Hartgewehen mit Ortsauflösungen von unter 0,1mm [9]. Ahhildung 1 zeigt anhand der Extraktionsalveole eines Weisheitszahnes die erreichte Bildqualität. Die DVT stellt heute die Grundlage für viele diagnostische und therapeutische Entscheidungen in der MKG-Chirurgie dar [10,11] und ist gleichzeitig immer öfter auch Datengrundlage für die in den folgenden Kapiteln aufgezeigten Technologien. Es stehen also mit der verfügbaren 3DBildgehung hervorragende Methoden zur Erfassung der Anatomie des individuellen Patienten vor und nach einem

operativen Eingriff zur Verfügung. Allerdings vcrhleiht die schwierigste Aufgahe heim hehandelnden Arzt seihst: Die Zusammenführung aller Einzclinformationen zu einem Gesamtbild. Alle Visualisierungsverfahren können die Aufgabe erleichtern, nehmen sie dem Behandler jedoch nicht ah. Teilweise führen sie - wie z.B. das Rendering von 3D-ModeUen - aus technischen Gründen neue Unsicherheiten ein. Ahhildung 2 zeigt ein solches 3D-Oherflächenmodell eines linksseitigen Unterkiefergelenkfortsatzes. Eine Fraktur ist nicht erkennbar, allenfalls im Bereich der Inzisur zu erahnen. Hingegen zeigt die sagittale Schnittehene rekonstruiert aus dem gleichen Datensatz (Ahh. 3) eindeutig eine Frakturlinie. Offensichtlich wurde diese Information vom oherflächenerzeugcnden Rechenalgorithmus der 3D-Darstellung «unterschlagen».

Fusion und Spiegelung von Datensätzen Regelmässig stellt sich die Frage nach der Tendenz eines Prozesses. Ist die Zyste nach Zystostomie planmässig regredient

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Abb. 2: Dreidimensionales Oberflächenmodell eines frakturierten Unterkiefergelenkfortsatzes. Bruchlinie aufgrund der Parametrisierung des Softwarealgorithmus kaum mehr erkennbar.

Abb. 3: Sagittale Schnittbilddarstellung des gleichen Datensatzes wie in Abbildung 2 mit deutlich erkennbarer Frakturlinie.

oder ehen nicht? Selbstverständlich kann ein Augenschein oder das Vermessen des grössten Durchmessers hier häufig eine Antwort liefern. Jedoch schöpfen heide Methoden die zur Verfügung gestellten Informationen eines dreidimensionalen Datensatzes nur unvollständig aus. Diese Minimalinformationen zu heurteilen ist jedoch zusätzlich erschwert: 3D-Datensätze sind zwar geometrisch korrekt, aher hei der Betrachtung spielt die Ausrichtung der Schnittehenen eine massgehliche Rolle. Besser wäre, die 3DDatensätze exakt zu üherlagern, um kor-

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(knöcherne Symmetrie) entspricht, ist aber selbst jetzt (Abb. 4) mit Augenschein oder Messungen alleine nicht zufriedenstellend zu beurteilen. Zur Beurteilung fehlt die Referenz. Die Gegenseite ist zwar abgebildet, jedoch ist ein deflnitiver Entscheid schwierig und erneut abhängig von der Orientierung der Schnittebene. Die Lösung für die objektive Beurteilung solcher Fälle liegt in der Spiegelung der Information von der gesunden Seite. Abbildung 5 zeigt die Spiegelung von der gesunden Seite, die eine adäquate Deckung mit dem postoperativen Ergebnis aufweist. Für vergleichende Fragestellungen sind also einfache und gleichzeitig äusserst hilfreiche Technologien verfügbar.

Abb. 4 : Dreidimensionale Bildfusion von prä- und postoperativem CT-Datensatz eines Patienten mit posttraumatischer Jochbeinfehlstellung und entsprechender Korrektur mittels Jochbeinosteotomie. (blau=präoperative Situation, orange=postoperative Situation, weiss=keine Differenz zwischen prä- und postoperativer Bildgebung)

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Abb. 5: Postoperative Situation mit eingeblendetem Operationsziel der Symmetrie. (grün=Spiegelbild des Jochbeinkomplexes der gesunden Seite)

respondierende Regionen beurteilen zu können. Abbildung 4 zeigt beispielhaft die Fusion zweier CT-Datensätze eines Patienten vor und nach Jochbeinosteo-

tomie zur Korrektur einer posttraumatisehen Asymmetrie des Gesichtsschädels, Ob das erreichte Operationsergebnis dem ursprünglichen Operationsziel

Patientenspezifische Modelle/ Implantate Ein zusätzliches Hilfsmittel zur Operationsplanung und -durchführung stellen patientenspezifische Modelle und Implantate dar. Am Beispiel eines zu resezierenden Ameloblastoms im rechtsseitigen Unterkiefer veranschaulicht Abbildung 6, wie das im selective laser siníen'n^-Verfahren erstellte Patientenmodell dazu dient, eine lasttragende Osteosyntheseplatte entlang des Unterkieferunterrandes vorzubiegen. Nach Sterilisation kann diese Platte in der Operation direkt verwendet werden. Präzision und Vorhersagbarkeit des Ergebnisses steigen bei gleichzeitig reduzierter Operations- und Narkosezeit. Patientenspeziflsche Implantate hingegen sind individuell hergestellte «Ersatzteile», welche in der MKG-Chirurgie routinemässig zu Einsatz koinmen um Asymmetrien z.B. im Bereich der Schädelkalotte zu camouflieren. Aufgrund der hohen Vorhersagbarkeit des Ergebnisses (erneut bei gleichzeitig drastisch reduziertem operativem Aufwand) sind sie für viele MKG-Chirurgen heute Methode der Wahl. Die Abbildungen 7 und 8 illustrieren einen solchen Behandlungsfall am Beispiel eines Patienten mit

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Abb. 6: Patientenspezifisches Unterkiefermodell mit präoperativ angepassterOsteosyntheseplatte.

Abb. 8: Patient vor und nach Einsetzen der patientenspezifischen Implantate aus Abbildung 7. (links=präoperativ, rechts=postoperativ)

Abb. 7: Virtuelle Modelle von Patient und zwei individuell anzufertigenden patientenspezifischen Implantaten zur Korrektur eines Defektes der Schädelkalotte rechts parietal und zur Camouflage eines temporal hollowing links.

einer Schädelkalottenasymmetrie hochparietal rechts sowie einem temporal hollowing der Gegenseite. Schabionengeführte Chirurgie Wenn es um exakte Positionierung und Orientierung geht, hedient sich die MKG-Chirurgie gerne der schahlonengeftihrten Chirurgie. Diese ist inshesondcre hekannt aus dem Bereich der zahnärztlichen Implantologie. Basierend auf einem 3D-Datensatz wird ein Oherflächenmodell errechnet, in welchem die Zahnimplantate hezüglich Position, Angulation und Dimension geplant werden. Allfällige vitale Strukturen werden

Abb. 9: Screenshot einer dentalen Implantatplanung bei einem Patienten nach Trümmerfraktur durch Kriegsverletzung, (weiss =3D-Modell aus DVT-Datensatz, blau =3D-Modell aus zahnärztlicher Abformung, gelb=errechnete Führungsschiene)

hierhei ebenso herücksichtigt wie die spätere Zahnkrone, die vom Implantat getragen werden soll. So wird schneO erkennhar, was direkt oder gegehenenfalls mit entsprechenden Knochenaufhauverfahren umsetzhar ist. Der Computer errechnet aus der finalen Planung eine Schiene, die in der Operation als Führung für den Bohrer dient. Eine präzise Umsetzung der Planung ist somit gewährleistet. Die Ahhildungen 9 und 10 illustrieren eine solche Planung und die resultierende Schiene.

Abb. 10: Aus dem Planungsprozess resultierende (in diesem Fall zahngetragene) Schiene zur geführten Implantation.

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Unabhängig von der Implantatologie eignet sich das schienenbasierte Vorgehen auch für Knochenbiopsien oder ähnliche Eingriffe, die auf hohe Präzision bezüglich Ort, Winkel und Tiefe angewiesen sind.

Intraoperative Computernavigation Wann immer mehr intraoperative Dynamik erforderlich ist, stellt die freie intraoperative Computernavigation oder auch computerassistierte Chirurgie (CAS) die Methode der Wahl dar. In Weiterentwicklung der Stereotaxie [12] kann der Operateur hierbei Instrumente innerhalb des Operationssitus frei bewegen und an Livebildern verfolgen, wo innerhalb eines Datensatzes er sich befindet. In Kombination mit einer präoperativen virtuellen Planung kann er stets exakt beurteilen, ob ein erreichtes Ergebnis mit der präoperativen Planung übereinstimmt. Eine direkte Visualisierung von Operationssitus oder Vergleichsstrukturen kann so entfal-

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len. Abbildung 11 zeigt den Screenshot einer solchen Computernavigation im Rahmen der Rekonstruktion der Orbitawände bei ausgedehnter Fraktur des Orbitabodens und der medialen Orbitawand. Deutlich erkennbar steht das - intraoperativ auf der rekonstruierten Orbitawand platzierte - Evaluationsinstrument (in diesem Fall ein simpler Pointer) im Datensatz auf der virtuellen Planung. Die intraoperative Computernavigation erlaubt es, eine intraoperative Situation beliebig oft und innert weniger Sekunden mit dem Datensatz einer präoperativen BUdgebung abzugleichen. Dies kann aus vielen Gründen sinnvoll sein: Zur Identifikation von Strukturen (z.B. des im knöchernen Unterkiefer verlaufenden Nervus alveolaris inferior), zur Orientierung bei schlecht einsehbarem oder unübersichtlichem Situs (Orbitachirurgie [13,14], Nebenhöhlenchirurgie, Resektion von Tumoren [15], komplexe Rekonstruktionen [13,16]) oder auch zum Abgleich eines Zwischen- oder

Abb. 11: Screenshot einer intraoperativen Computernavigation während das Evaluationsinstrument im OP-Situs auf der rel

[Modern technologies in cranio-maxillofacial surgery].

Les technologies modernes influencent la médecine chaque jour. La chirurgie orale et maxillofaciale sont à disposition tant de la médecine que de la d...
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