PRAXIS
M in i-R e v ie w
Praxis 2014; 10B (22): 1 3 2 3 -1 3 2 9
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Service de N eurochirurgie, H öpitaux U niversitaires de Geneve et Faculte de Medecine, U niversite de Geneve, Geneve'; Klinik fü r N eurochirurgie, Kantonsspital St. G allen 2 'O liv e r P. G au tsch i, 2M a r tin N. S tie n e n , 'M a rc o V. C o rn io la, 'Karl Schalter
M in im al-in vasive lum bale W irb elsäu len chirurgie: historischer Rückblick, a k tu e lle r Stand und Ausblick M in im a l Invasive Surgery: H is to ric al R eview , C u rren t S tatu s a nd P erspective
Z u s a m m e n fa s s u n g
Die lumbale Wirbelsäulenchirurgie ist seit Jahrzehnten von sogenannten «offenen dorsalen Zugängen» geprägt, die - obwohl etabliert - mit z.T. erheb lichen Kollateralschäden im Bereich des operativen Zugangsweges assozi iert sind. Seit über zehn Jahren gibt es zunehmend minimal-invasive spinale Operationsmethoden (minimal inva sive spine surgery, MISS), die deutlich weniger destruktiv und weniger trau matisch sind. Zu den Vorteilen zählen unteren anderem kleinere Hautinzisi onen, geringeres Weichteil- und Mus keltrauma, geringerer perioperativer Blutverlust, erniedrigte Infektionsrate, raschere Mobilisierung, kürzerer Spi talaufenthalt und raschere postope rative Arbeitsfähigkeit. Diese Vorteile müssen jedoch gegenüber potenziellen Nachteilen abgewogen werden, zu wel chen unter anderem eine erschwerte Orientierung für den Chirurgen, stei lere Lernkurve sowie eine vermehrte Strahlenbelastung gehören. Dieser Ar tikel gibt einen Überblick über die Evo lution und die aktuellen Möglichkeiten der MISS. Schlüsselwörter: minimal-invasive spinale Chirurgie - MISS - PLIF TLIF - selektive Dekompression
© 2014 Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern
E in le itu n g
Seit vielen Jahrzehnten gilt der dorsale mediane «offene» Zugang als Methode der Wahl für einen Grossteil lumbaler Operationen bei degenerativen Wirbel säulenerkrankungen. Diese «offenen» Wirbelsäulenzugänge gehen, je nach Operation, mit einer erheblichen Schä digung der im Zugangskorridor gele genen Strukturen einher, zu welchen u.a. die paraspinale Rückenmuskulatur, Ligamente, Sehnen, Gelenkkapseln, Fazettengelenke und ossäre Bestandteile der Wirbelsäule zählen. Diese konven tionellen Zugänge sind v.a. bei älteren Patienten mit einem substanziellen Blut verlust, einer erhöhten Komplikationsra te und einem verlängerten Spitalaufent halt, also insgesamt mit einer erhöhten peri- und postoperativen Morbidität vergesellschaftet [1], Entsprechend der Entwicklung innerhalb der meisten an deren operativen Disziplinen kam es seit den 1990er Jahren auch im Bereich der Wirbelsäulenchirurgie zur Implemen tierung sogenannter minimal-invasiver gewebeschonender Verfahren (MISS, mi nimal invasive spine surgery) [2,3]. In der lumbalen Wirbelsäulenchirurgie wurden minimal-invasive Operationstechniken über endoskopische Zugänge, Zugänge über kleine Tuben oder selbsthaltende Retraktorsysteme und/oder perkutane Zugänge entwickelt (Abb. 1 und 2) [4]. Damit eine MISS-Operation zu gleich guten postoperativen Ergebnissen führt
wie eine klassische «offene» Operati on, muss der Kernpunkt der Operati on, z.B. die suffiziente Dekompression des Spinalkanals, des Rezessus und der Nervenwurzel im Bereich des Neuroforamens im Rahmen einer selektiven Dekompression bei lumbaler Spinalka nalstenose (SKS), ebenso effektiv sein. Der Zugangsweg zur Wirbelsäule durch die Haut und Weichteile (v.a. paraspi nale Rückenmuskulatur) soll hingegen maximal gewebeschonend und deutlich weniger traumatisierend sein. Als Vorteile eines minimal-invasiven Zugangs werden in der aktuellen Litera tur kleinere Hautinzisionen und somit kleinere Narben, ein geringeres Weich teil- und damit Muskeltrauma, weniger perioperative Muskelretraktion, ein ge ringerer perioperativer Blutverlust, eine erniedrigte Infektionsrate, eine raschere postoperative Mobilisierung, weniger postoperative Wundschmerzen und so mit geringerer postoperativer Schmerz mittelbedarf, kürzere Spitalaufenthalte sowie eine raschere postoperative Ar beitsfähigkeit und Rückkehr zu den Ak tivitäten des täglichen Lebens genannt [5,6]. Die MISS-Methode muss jedoch auch vor dem Hintergrund gewisser Im Artikel verwendete Abkürzungen: MISS M inim al invasive spine surgery PLIF Posterior lumbar interbody fusion SKS Spinalkanalstenose TLIF Transforaminal lum bar interbody fusion DOI 10.1024/166l-8l57/a001832
P R A X IS
Mini-Review
A b b . 1: M ISS-TU F-O peration. Links: B ild w a n d le r-g e s tiitz te Y am shidi-N adel-E inlage. M itte : Perku ta n ü b er e ine i cm kle in e Inzision p la tz ie rte Y am shidi-N adel. Rechts: P erkutanes In s tru m e n ta riu m d e r neue ste n G eneration.
A b b . 2 : Beispiel e in e r M ISS-PLIF-Operation. Links: S e lbstha lten des D ila ta tio n s - und R etraktorsystem fü r eine M ik ro s k o p -u n te rs tü tz te PLIF-Operation. M itte : Laterale bild g e b e n d e K on tro lle eines üb er eine n M in i-o p e n -Z u g a n g e in g e fü h rte n Probe-Cages. Rechts: In s tru m e n ta riu m fü r eine « p e rku ta n e » Kom pression v o r der S ta b fix ie ru n g .
Nachteile, bzw. zusätzlicher Herausfor derungen für das Operationsteam be trachtet werden. Diese beinhalten u.a. eine erschwerte Orientierung für den Chirurgen, eine steilere Lernkurve sowie eine vermehrte intraoperative Strahlen belastung für Patient und Personal [7,8]. Die steilere Lernkurve ist anfänglich mit einer längeren Operationsdauer verge sellschaftet, die sich jedoch mit zuneh mender Erfahrung des Operationsteams wieder verkürzt [9,10]. Mit einem er fahrenen MISS-Operationsteam ist die gesamte Anästhesie- und Operations zeit schliesslich deutlich kürzer, da der Grossteil der anatomischen Wirbelsäulen-Präparation entfällt [10-12]. G e s c h ic h te
Die erste lumbale Laminektomie zur Behandlung einer Bandscheibenerkran kung datiert zurück ins Jahr 1829, wäh rend die erste lumbale Laminektomie für die Behandlung einer SKS im Jahre 1893 beschrieben wurde. Die erste kombi nierte Laminektomie und Diskektomie
wurde von Oppenheim und Krause im Jahre 1906 durchgeführt [13]. In der Li teratur werden jedoch häufig Mixter und Barr genannt, die 1934 die erste lumbale Diskektomie durchgeführt haben [14]. Später wurde die erste PLIF (posterior lumbar interbody fusion)-Operation von Cloward im Jahre 1952 beschrieben und die erste TLIF(transforaminal lumbar interbody /hsion)-Operation von Harms im Jahre 1982 [3]. Die Entwicklung hin zur minimal-invasiven Operationstech nik wurde nachfolgend massgeblich von der Einführung des Operationsmikroskopes geprägt. Im Bereich der Wirbel säulenchirurgie gehörten dabei Caspar, Yasargil und Williams zu den Pionie ren, welche die ersten mikroskopisch assistierten Operationen für lumbale Bandscheibenoperationen durchführten [15-17]. Yasargil praktizierte diese Ope rationsmethode bereits im Jahre 1967 am Universitätsspital Zürich [3], Im Jahr 1988 wurde erstmals über einen unilate ralen Zugang für eine bilaterale selektive Dekompression bei lumbaler SKS be richtet (sog. «undercutting» oder «over
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the top» Technik) [18]. Im weiteren Ver lauf beschrieben Faubert und Caspar 1991 erstmals die Verwendung eines Tu bus als gewebeschonendes Zugangsinst rumentarium [19]. Der Bericht über die erste mikroendoskopische Diskektomie von Foley und Smith folgte schliesslich im Jahre 1997 [20], und ab 2002 hiel ten selbsthaltende Dilatations- und Re traktionssysteme mit Unterstützung des Operationsmikroskopes Einzug in den klinischen Alltag. Die erste Beschreibung einer perkutanen Pedikelschraubeneinlage von Magerl da tiert zurück auf das Jahr 1982 [3]. Eine stetige Optimierung dieser Operations methode, kombiniert mit raffinierten selbsthaltenden Dilatations- und Re traktionssystemen, führte zu einer Er weiterung des Angebotes an Techniken für lumbale Fusionsoperationen, u.a. PLIF und TLIF, die heute in MISS-Technik durchgeführt werden können. Die erste MISS-PLIF-Operation wurde von Khoo im Jahre 2002 beschrieben [21]. Kurze Zeit später wurden von Schwender und Mitarbeitern erste Resultate ei ner Serie von MISS-TLIF-Operationen publiziert [22]. Neben den posterioren Fusionsoperationen für degenerative Bandscheibenerkrankungen kann die MISS-Technik heute für eine Reihe an derer Erkrankungen und Prozeduren mit und ohne Instrumentation ange wendet werden (Tab. 1 und 2). Aufgrund der kleineren Hautschnitte bei einer perkutanen Operationstechnik ist die Übersicht des Situs für den Chi rurgen beschränkt (Abb. 4). Neben fun dierten anatomischen Kenntnissen hilft der Einsatz des intraoperativen Rönt gens bei der Orientierung und Planung weiterer Operationsschritte. Durch den vermehrten Einsatz des Bildwandlers ist die perkutane Operationstechnik somit für Patienten und OP-Personal mit ei ner erhöhten Strahlenbelastung verge sellschaftet. Aufgrund dieser Erkenntnis kommt in der heutigen Zeit immer häu figer die spinale Neuronavigation zur Anwendung (Abb. 3). Eine wesentliche Weiterentwicklung auf diesem Gebiet
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Mini-Review
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führt [6]. Zudem gibt es einen Trend hin zu einer Verbesserung der postoperati ven Rücken- und Beinschmerzen sowie einem verbesserten funktionellen Ergeb nis.
Perioperativer Blutverlust
Abb. 3: Bild des Operations-Setup bei einer MISS-Operation m ittels spinaler Neuronavigation und 3D-C-Bogen.
auch die Präzision der Schraubenlage erhöht werden [24-26], D is k u s s io n
Aus der aktuellen Literatur geht hervor, dass eine MISS-Operation im Bereich der lumbalen Wirbelsäule zu einem ver minderten perioperativen Blutverlust, einem verminderten paraspinalen Mus kelschaden, einer rascheren postope rativen Mobilisation, einer geringeren Infektionsrate (oberflächliche und tiefe Wundinfektionen), einem geringeren postoperativen Schmerzmittelbedarf und zu einem kürzeren Spitalaufenthalt
Bei insgesamt 27 Studien, welche die MISS-PLIF/TLIF-Operation (n=895 Pa tienten) mit der klassischen offenen PLIF/TLIF-Operation (n=858 Patien ten) verglichen, wurde der periope rativ gemessene Blutverlust analysiert [5,27-30], Der mittlere perioperative Blutverlust betrug 51-496 ml in der MISS-Gruppe, resp. 125-1147 ml in der offenen Gruppe. Die mittlere Differenz zwischen MISS- und offener Operati onstechnik lag bei 289 ml (-2 bis 921 ml) zugunsten der MISS-Methode. Bei 22 Studien war der perioperative Blut verlust in der MISS-Gruppe signifikant geringer, verglichen mit der offenen Gruppe.
Perioperativer Muskelschaden
Fan und Mitarbeiter untersuchten Pa tienten nach einer 1-Höhen-MISSPLIF-Operation (n=41) und Patienten nach einer klassischen offenen PLIFOperation (n=50) im Hinblick auf Un-
Abb. 4: Bild einer 27-jährigen Patientin bei der am bulanten Nachkontrolle sechs Wochen nach perkutaner MISS-Operation einer Fraktur
Tab. 1: Erkrankungen, die heutzutage u.a. m itte ls MISS-Technik behandelt werden können.
des W irbelkörpers Li (perkutane posterolate-
• Degenerative Bandscheibenerkrankungen (engl. DDD=degenerative disc disease)
rale Fixierung Thi2-L2) m it vier kleinen Narben
• Zervikale, thorakale und lum bale Diskushernien
der Hautinzisionen.
• Zervikale und lum bale Spinalkanalstenosen (SKS) • Spinale Deform itäten (z.B. Skoliose)
brachte 2007 die Einführung des 3D-CBogens [23] sowie eines mobilen, int raoperativen 3D-Bildgebungssystemes auf der Basis eines konventionellen Bildwandlers. Nach Durchführung einer Röntgenserie zu Beginn der Operation können grosse Teile der nachfolgenden Operation ohne Durchleuchtung er folgen. Mit Hilfe derartiger 3D-Bildgebungssysteme kann sowohl die periope rative Strahlenbelastung für Patienten und Chirurgen deutlich reduziert, als
• Spinale Infektionen (z.B. Spondylodiszitis) • Spinale Instabilitäten (z.B. Spondylolisthese) • Thorako-Iumbale W irbelkörperfrakturen • Tumore im Bereich der W irbelsäule
Tab. 2: Prozeduren, die heutzutage u.a. m ittels MISS-Technik du rchgeführt werden können. • Fusionsoperationen (z.B. PLIF,TLIF, AUF, DLIF, XLIF) • Zervikale, thorakale und lum bale M ikrodiskektom ie • Zervikale posteriore Foram inotom ie • Kostotransversektomie • Posterolaterale zervikale, thorakale und lum bale Fixation m it und ohne Fusion • Thorako-Ium baler W irbelkörperersatz • Lumbale Bandscheibenprothese • Aufrichtungsspondylodese bei Skoliose • Vertebra- und Kyphoplastie
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terschiede bei der Verletzung der para spinalen Rückenmuskulatur infolge der Operation [31]. Die Resultate zeigen, dass die MISS-Technik verglichen mit der offenen Operationstechnik zu si gnifikant geringeren Verletzungen der paraspinalen Rückenmuskulatur führte und die Inzidenz der postoperativen Rü ckenschmerzen gesenkt werden konn te. Kim und Mitarbeiter verglichen in einer anderen Studie die postoperative Atrophie des Musculus multifidus sowie dessen Muskelkraft von Patienten nach perkutaner Pedikelschraubenfixierung und Patienten nach klassischer offener Pedikelschraubenfixierung [32]. Die Au toren folgerten, dass die perkutane Pedi kelschraubenfixierung weniger paraspi nalen Muskelschaden verursachte und einen positiven Einfluss auf die post operative Muskelkraft der paraspinalen Muskulatur hatte.
P o s to p e ra tiv e M o b ilis a tio n
Bei insgesamt neun Studien, welche die MISS-PLIF/TLIF-Operation (n=305 Pa tienten) mit der klassischen offenen PLIF/ TLIF-Operation (n=300 Patienten) ver glichen, wurde die Dauer bis zur ersten postoperativen Mobilisation verglichen [5,28,29]. Die mittlere Dauer bis zur ers ten Mobilisation betrug 0,9 bis 3,8 Tage in der MISS-Gruppe, respektive 1,3 bis 13,4 Tage in der offenen Gruppe. In al len neun Studien konnten die Patienten der MISS-Gruppe verglichen mit der of fenen Gruppe signifikant früher mobili siert werden.
In fe k tio n s r a te
Parker und Mitarbeiter untersuchten anhand der Daten von 30 publizierten Studien die Inzidenz postoperativer Wundinfektionen bei Patienten nach MISS-TLIF-Operationen (n=362) und offenen TLIF-Operationen (n=1133) [33]. Die kumulative Inzidenz postope rativer Wundinfektionen war signifikant geringer in der MISS-TLIF-Gruppe, ver glichen mit der offenen TLIF-Gruppe
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