Pro und Kontra Nervenarzt 2014 · 85:630–631 DOI 10.1007/s00115-014-4060-4 Online publiziert: 30. April 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

F. Jessen Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) , Bonn

„Mild neurocognitive disorder“ – eine Erkrankung? Pro Im DSM-5 wird die „mild neurocognitive disorder“ anhand folgender Kriterien definiert: 1. Kognitive Verschlechterung mit Sorgen („concern“) beobachtet durch das Individuum selber, eine informierte andere Person oder den Arzt und eine durch neuropsychologische Untersuchung nachgewiesene kognitive Beeinträchtigung. 2. Die kognitiven Defizite interferieren nicht mit der unabhängigen Durchführung von Alltagsaktivitäten, wie z. B. dem Bezahlen von Rechnungen, aber größere Anstrengungen oder Kompensationsstrategien sind hierfür erforderlich. Zusätzlich soll eine ätiologische Spezifizierung vorgenommen werden, z. B. „mild neurocognitive disorder“ durch Alzheimer-Erkrankung.

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Die Diagnose eröffnet die Möglichkeit der Ursachenklärung Gründe, die für die Kategorisierung der „mild neurocognitive disorder“ als Erkrankung sprechen, sind die Beeinträchtigung der kognitiven Funktionen über das altersbezogene Normalmaß hinaus und die damit einhergehende psychosoziale Beeinträchtigung durch diese Funktionsbeeinträchtigung [2]. Beides bezieht sich auf Veränderungen im Vergleich zur Altersnorm und bildet daher nicht die normale Altersvergesslichkeit ab [3]. Der Umstand, dass es sich um eine leichte Be-

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einträchtigung handelt, widerspricht nicht der Kategorisierung als Krankheit und ist im Einklang mit zahlreichen psychiatrischen und somatischen diagnostischen Kategorien. Auch der Umstand der Reversibilität in vielen Fällen und der fehlenden Spezifität des Syndroms sind ebenfalls keine grundsätzlichen Argumente gegen die Diagnose und treffen auch für zahlreiche andere psychische Störungen, wie z. B. die depressive Episode, zu. Im Vergleich zu akzeptierten affektiven Störungen spricht die Argumentation gegen die „mild neurocognitive disorder“ als Erkrankung in erster Linie für eine Bagatellisierung kognitiver Dysfunktion. Die Diagnose „mild neurocognitive disorder“ hingegen wird der Beeinträchtigung des Betroffenen gerecht und eröffnet die Möglichkeit einer Ursachenklärung als Grundlage einer möglichen Behandlung potenziell reversibler Ursachen (z. B. „mild neurocognitive disorder“ bei Schilddrüsenfunktionsstörungen). Zu dem Syndrom der „mild neurocognitive disorder“ soll eine Ätiologie spezifiziert werden (z. B. „mild neurocognitive disorder“ durch Alzheimer-Krankheit). Die Assoziation mit der AlzheimerKrankheit ist nach DSM-5 allerdings nur wahrscheinlich („probable“), wenn Hinweise auf eine kausale genetische Ursache vorliegen, sonst ist die Assoziation als möglich („possible“) zu kodieren. Hierdurch wird die diagnostische Unsicherheit der heute verfügbaren Biomarker ausgedrückt. Trotz dieser Unsicherheit besteht der konzeptuelle Fortschritt im Fall der Alz-

heimer-Krankheit darin, ein klinisches Prodromalsyndrom über biologische Marker einer Krankheit zuzuordnen, bevor das volle klinische Bild (Demenz) erreicht ist [1]. Dies ist die notwendige Grundlage für erfolgreiche Frühintervention und indizierte Prävention. Im Fall der Alzheimer-Krankheit ist dies von besonderer Wichtigkeit, da eine Therapie mit dem Ziel der Rückführung einer Demenz in einen gesunden Zustand nicht absehbar ist [4]. Es ist aber wahrscheinlich, dass in den nächsten Jahren Therapien zur Verfügung stehen werden, die den Beginn einer Demenz verzögern können, wenn die Therapie vor der Demenz beginnt. Die Voraussetzung hierfür ist die Konzeptualisierung der Erkrankung vor dem vollen klinischen Bild, welches aktuell noch zur Definition der Erkrankung verwendet wird. Wie erfolgreich für die Betroffenen die Kombination aus frühem Behandlungsbeginn bei mildesten Symptomen in Verbindung mit Biomarkern sein kann, wird am Beispiel der heutigen Behandlung der Multiplen Sklerose deutlich.

Fazit für die Praxis Die leichte kognitive Beeinträchtigung soll ernst genommen werden. Sie ist häufig mit Funktionsbeeinträchtigungen und Leid assoziiert und erfordert eine diagnostische Klärung. Die Aufklärung von Patienten mit „mild neurocognitive disorder“ im Kontext neurodegenerativer Erkrankungen ist anspruchsvoll. Gleichzeitig liegt hier aber auch die Chance für die Psychiatrie, Krankheiten

Leitthemenübersicht

© Künstlerin: SSandra Obel, "Little Coffee" (Ausschnitt) Fotograf: Klaus Rüschhoff, Springer Medizin

vor dem Erreichen der vollen und irreversiblen Symptomatik zu definieren und zukünftig zu behandeln.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. F. Jessen Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, Deutsches Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE) Sigmund-Freud-Str. 25, 53105 Bonn [email protected]

Interessenkonflikt.  F. Jessen gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur 1. Dubois B, Feldman HH, Jacova C et al (2010) Revising the definition of Alzheimer’s disease: a new lexicon. Lancet Neurol 9:1118–1127 2. Goldberg TE, Koppel J, Keehlisen L et al (2010) Performance-based measures of everyday function in mild cognitive impairment. Am J Psychiatry 167:845–853 3. Petersen RC (2004) Mild cognitive impairment as a diagnostic entity. J Intern Med 256(3):183–194 4. Vellas B, Andrieu S, Sampaio C et al (2007) Diseasemodifying trials in Alzheimer’s disease: a European task force consensus. Lancet Neurol 6:56–62

Pro und Kontra In der Rubrik „Pro und Kontra“ werden offene oder strittige Fragen aus den Bereichen Dia­gnostik, Therapie oder Versorgung psychischer und neurologischer Erkrankungen kontrovers diskutiert. In einem Pro- und einem Kontra-Beitrag beziehen zwei Experten Position zur Fragestellung.

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