Pro und Kontra Nervenarzt 2014 · 85:632–634 DOI 10.1007/s00115-014-4061-3 Online publiziert: 26. April 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

L. Frölich Abteilung Gerontopsychiatrie, Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim

„Mild neurocognitive disorder“ – eine Erkrankung? Kontra In den 1990er Jahren wurde das Konzept des „mild cognitive impairment (MCI)“ als ein Zwischenstadium zwischen normaler kognitiver Alterung und Demenz geprägt, welches jetzt in kaum abgewandelter Form in der neuesten Version des DSM-5 als „minor neurocognitive disorder“ in die Praxis der psychiatrischen Diagnostik und Versorgung eingehen soll. Die Diagnose „MCI“ kann im ICD-10 mit F06.7 hilfsweise verschlüsselt werden, obwohl für das dort kodierte Syndrom ursprünglich eine extrazerebrale Genese gefordert wurde. Die Diagnose „MCI“ fußt auf klinischen und anamnestischen Befunden sowie auf neuropsychologischen Kriterien und stellt einen Risikozustand für die Entwicklung einer Demenz in den nachfolgenden Jahren dar [12]. Wichtig zur Abgrenzung gegenüber einer Demenz ist das Fehlen von Funktionseinbußen in Alltagsaktivitäten, die für eine Demenz definitionsgemäß erforderlich sind. Allerdings wurde schon bald klar, dass auch bei „MCI“ Einbußen in komplexen Alltagsaktivitäten regelhaft vorkommen [10].

»

Prädiktiv ist das Syndrom für den einzelnen Patienten unbrauchbar Diese Definition des MCI erwies sich in den letzten Jahren aus mehreren Gründen als praxisuntauglich: 1. Im Querschnitt ist das Syndrom zu unscharf definiert, v. a. wegen neuro-

632 | 

Der Nervenarzt 5 · 2014

psychologischer Cut-off-Grenzen und wegen der unklaren Einbußen in (komplexen) Alltagsaktivitäten. 2. Prädiktiv ist das Syndrom für den einzelnen Patienten unbrauchbar, weil der Anteil der Betroffenen, bei denen dieses Syndrom zur Demenz voranschreitet, mit ca. 18–38% 10-fach gegenüber der altersentsprechenden Norm zwar erhöht ist, dies aber für eine Einzelfalldiagnose doch zu unsicher ist [3, 11] und weil eine phänotypische Anreicherung des Syndroms wegen ätiologischer Heterogenität nicht gelingt [3]. 3. Das übergeordnete Ziel der verlässlichen Frühdiagnose der AlzheimerErkrankung wird wesentlich besser durch Anwendung von biologischen Markern erreicht. Allerdings hat das Konzept „MCI“ für die Charakterisierung von Biomarkern für die Frühdiagnose der Alzheimer-Krankheit den wichtigsten Anstoß geliefert [6]. Inzwischen ist klar, dass Biomarker für eine wahrscheinliche Diagnose der Alzheimer-Krankheit sowohl bei leichteren Symptomen (d. h. im Stadium des „MCI“) als auch bei schwereren Symptomen (d. h. im Stadium der Demenz) am einzelnen Patienten diagnostisch nutzbar sind [1, 7]. In den Kriteriensystemen werden zwar „sperrige“ Begriffe für dieses frühsymptomatische Krankheitsstadium verwendet, nämlich „MCI due to Alzheimer’s disease“ [1] oder „prodromal Alzheimer’s disease“ [4], aber so wird die Einheitlich-

keit des neurodegenerativen Krankheitsprozesses betont. Die zwei konkurrierenden diagnostischen Kriteriensysteme (amerikanische NIA-AA [National Institute on Alcohol Abuse and Alcoholism] -Gruppe und internationale Arbeitsgruppe [IWG]) lassen sich durchaus miteinander harmonisieren [8]. Derzeit gelten diese neuen diagnostischen Kriterien für die Alzheimer-Krankheit primär für Forschungszwecke [5]. Aber ca. 90% der Patienten mit pathologischen CSF („cerebrospinal fluid“) -Biomarkern und leichten „MCI“-artigen Symptomen entwickeln spätestens nach 9 bis 10 Jahren eine Alzheimer-Demenz [2]. Die derzeitige Aufgabe besteht darin, praktisch valide und brauchbare Kriterien für „Alzheimer-Krankheit ohne Demenz“ zu entwickeln, wobei man v. a. auf biologische Befunde baut. Die Alzheimer-Krankheit sollte als eine Hirnerkrankung unabhängig vom klinischen Status definiert werden, alle klinischen Manifestationen einschließlich der prodromalen Stadien sollten als symptomatische AlzheimerKrankheit benannt werden und dies sollte auch nichtamnestische atypische Manifestationen einschließen. Das entscheidende Kriterium sind hierfür relevante Biomarkerbefunde [8]. Ein möglicher neuer Begriff hierfür ist „symptomatische Alzheimer-Krankheit“.

Fazit für die Praxis Der Terminus „mild neurocognitive dis-  order“ oder „leichte kognitive Beein-

Lesetipp trächtigung“ ist für die medizinische Praxis inzwischen mehr schädlich als nützlich und somit verzichtbar, da er suggeriert, dass die Alzheimer-Krankheit im Stadium leichter Symptome eine andere Krankheitsentität darstellt als im Stadium der Demenz. Was mit diesem Begriff versucht wurde konzeptuell zu erfassen, ist ein „Frühstadium der Alzheimer-Krankheit, das (noch) nicht zum Symptombild der Demenz geführt hat“. Die Umsetzung des Konzepts in die Praxis gelang aber nur unzureichend, und die therapeutische Anwendung dieses Konzepts, dem Patienten dieses als einen Risikozustand mit einer Präventionsempfehlung zu vermitteln, ist schwierig. Weitere therapeutische Konsequenzen hat das MCI-Konzept auch nicht gebracht, die neuen großen präventiv orientierten Therapiestudien gehen eher von Biomarker-definierten Patientenpopulationen aus als von diesem Phänotyp, und frühere Therapiestudien mit MCI-Patienten waren negativ.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. L. Frölich Abteilung Gerontopsychiatrie, Medizinische Fakultät Mannheim, Universität Heidelberg, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit J5, 68159 Mannheim [email protected]

Interessenkonflikt .  L. Frölich gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Literatur   1. Albert MS, DeKosky ST, Dickson D et al (2011) The diagnosis of mild cognitive impairment due to   Alzheimer disease: recommendations from the   National Institute on Aging-Alzheimer’s Association workgroups on diagnostic guidelines for Alzheimer’s disease. Alzheimers Dement 7:270–279 (PMCID: PMC3312027)   2. Buchhave P, Minthon L, Zetterberg H et al (2012) Cerebrospinal fluid levels of β-amyloid 1–42, but not of tau, are fully changed already 5–10 years before the onset of Alzheimer dementia. Arch Gen Psychiatry 69(1):98–106   3. Damian M, Hausner L, Jekel K et al (2013) Singledomain amnestic mild cognitive impairment identified by cluster analysis predicts Alzheimer’s   disease in the European prospective DESCRIPA   study. Dement Geriatr Cogn Disord 36:1–19   4. Dubois B, Feldman HH, Jacova C et al (2007) Research criteria for the diagnosis of Alzheimer’s   disease: revising the NINCDS-ADRDA criteria. Lancet Neurol 6:734–746

  5. Frisoni GB, Hampel H, O’Brien JT et al (2011) Re-  vised criteria for Alzheimer’s disease: what are the lessons for clinicians? Lancet Neurol 10:598–601   6. Jack CR Jr, Knopman DS, Jagust WJ et al (2013)   Tracking pathophysiological processes in Alzheimer’s disease: an updated hypothetical model of dynamic biomarkers. Lancet Neurol 12:207–216   7. McKhann GM, Knopman DS, Chertkow H et al (2011) The diagnosis of dementia due to Alzheimer’s disease: recommendations from the National Institute on Aging and the Alzheimer’s Association workgroup. Alzheimers Dement 7:263–269 (PMCID: PMC3312024)   8. Morris JC, Blennow K, Frölich L et al (2013) Harmonized diagnostic criteria for Alzheimer disease: a recommendation. J Intern Med 275(3):204–213   9. Mullard A (2012) Sting of Alzheimer’s failures offset by upcoming prevention trials. Nat Rev Drug Discov 11:657–660 10. Pernetzky R, Pohl C, Sorg C et al (2006) Complex activities of daily living in mild cognitive impairment: conceptual and diagnostic issues. Age   Ageing 35:240–245 11. Visser P, Verhey FJ (2008) Mild cognitive impairment as predictor for Alzheimer’s disease in clinical practice: effect of age and diagnostic criteria. Psychol Med 38:113–122 12. Winblad B, Palmer K, Kivipelto M et al (2004) Mild cognitive impairment – beyond controversies,   towards a consensus: report of the International Working Group on Mild Cognitive Impairment.   J Intern Med 256:240–246

Depression im Alter Depressionen stellen die häufigste psychische Störung bei alten Menschen dar. Nach einer aktuellen Metaanalyse beträgt die Punktprävalenz behandlungsbedürftiger depressiver Syndrome in der Bevölkerung bei über 75-Jährigen etwa 7%. Bei alten Menschen mit ausgeprägter somatischer Komorbidität und daraus resultierenden Behinderungen ist von deutlich höheren Prävalenzen in einer Größenordnung von 15–25% auszugehen. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich die Zeitschrift für Gerontologie und Geriatrie in der Ausgabe 2/13 mit der Depression im Alter in unter anderem folgenden Beiträgen: F Neurobiologische Subtypen der Altersdepression F Pharmakotherapie der Altersdepression F Psychotherapie der Altersdepression F Depression beim gebrechlichen Alterspatienten Bestellen Sie diese Ausgabe zum Preis von 35,- EUR zzgl. Versandkosten bei Springer Customer Service Center Kundenservice Zeitschriften Haberstr. 7 69126 Heidelberg Tel.: +49 6221-345-4303 Fax: +49 6221-345-4229 E-Mail: [email protected] Suchen Sie noch mehr zum Thema? Mit e.Med, dem Online-Paket von Springer Medizin, können Sie schnell und komfortabel in über 500 medizinischen Fachzeitschriften recherchieren. Weitere Infos unter springermedizin.de/ eMed.

Der Nervenarzt 5 · 2014 

| 633

[Mild neurocognitive disorder - a disease? Against].

[Mild neurocognitive disorder - a disease? Against]. - PDF Download Free
199KB Sizes 2 Downloads 3 Views