Originalarbeit

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Inanspruchnahme ambulanter psychiatrischer Versorgung bei vietnamesischen Migranten der ersten Generation in Deutschland

Autoren

Thi Minh Tam Ta1, Andres H. Neuhaus1, Ronald Burian2, Georg Schomerus3, Anita von Poser4, Albert Diefenbacher2, Birgitt Röttger-Rössler4, Michael Dettling1, Eric Hahn1

Institute

Die Institute sind am Ende des Artikels gelistet.

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

" Migration ● " vietnamesische Migranten ● " Inanspruchnahme ● " Migranten 1. Generation ● " muttersprachliche ●

psychiatrische Versorgung Keywords

" Vietnamese migration in ●

!

Anliegen: Vietnamesische Migranten nehmen psychiatrische Versorgungsangebote vermindert in Anspruch. Methoden: Die Inanspruchnahme eines muttersprachlich-vietnamesischen Versorgungsangebots wurde über 2,5 Jahre analysiert.

Ergebnisse: Es stellten sich zumeist vietnamesische Patientinnen der 1. Generation mit geringen Deutschkenntnissen vor. Im Verlauf zeigte sich eine Zunahme der erstmaligen Inanspruchnahme, insbesondere bei depressiven Störungen. Schlussfolgerungen: Ein muttersprachliches Angebot mit aktiver Vernetzung in den Communities kann die Versorgung schwer erreichbarer Migrantengruppen verbessern.

Germany

" mental health care utilization ● " first generation Vietnamese ●

migrants

" specialized psychiatric ●

outpatient clinic

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1370008 Online-Publikation: 23.5.2014 Psychiat Prax 2015; 42: 267–273 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0303-4259 Korrespondenzadresse Eric Hahn Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin Eschenallee 3 14050 Berlin [email protected]

Einleitung !

Die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Menschen mit Migrationshintergrund, aktuell etwa 19 % der deutschen Bevölkerung, ist in Bezug auf die Zugangswege und das Inanspruchnahmeverhalten verbesserungsbedürftig [1]. Bei Menschen mit Migrationshintergrund hängt das gesundheitsbezogene Inanspruchnahmeverhalten von sprachlichen, kulturellen und migrationsbezogenen Faktoren sowie dem Einfluss der Herkunftskultur auf das Krankheitsverständnis ab [2, 3]. Epidemiologische Untersuchungen fanden, verglichen mit der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund, eine mindestens gleich hohe Prävalenz für psychische Erkrankungen, die von der Migrantengeneration, den Migrationserfahrungen, dem Geschlecht, dem Alter, dem sozioökomischen Status und der Herkunftskultur abhängt [4 – 7]. Bei einer unspezifischen Betrachtung ist das gesundheitsbezogene Inanspruchnahmeverhalten von Menschen mit Migrationshintergrund nicht grundsätzlich geringer als bei einer deutschen Vergleichsgruppe [8]. Ebenso ist ein Migrationshintergrund, unabhängig von der Herkunftskultur, nicht prädiktiv für eine geringere Inanspruchnahme von stationär-psychiatrischen Behandlungen [9]. Dagegen fällt bei Migranten der 1. Generation, verglichen mit der 2. Generation, eine geringere Inanspruchnahme ambulanter und psychosozialer Versor-

gungsstrukturen auf [2, 10 – 13]. Aufgrund der Heterogenität der epidemiologischen Daten ist zu fordern, dass die Analyse des Inanspruchnahmeverhaltens von Versorgungsangeboten auch für einzelne Herkunftskulturen erfolgen sollte [2, 3, 8, 12 – 14]. Die vorliegende Arbeit greift diese Forderung erstmals für die psychiatrische Versorgung vietnamesischer Migranten auf. Vietnamesische Migranten gehören, insbesondere in ostdeutschen Großstädten, zu den zahlenmäßig bedeutenden Migrationsgruppen, deren psychiatrische Morbidität und Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgungsangebote in der deutschsprachigen und europäischen Literatur bisher nicht untersucht wurde. In wenigen Arbeiten nichtpsychiatrischer Fachdisziplinen wurden vietnamesische Migrationsprozesse allenfalls aus soziologischer, politikwissenschaftlicher und ethnologischer Perspektive analysiert [15, 16]. Die vietnamesische Migration nach Deutschland ist durch die komplementäre Geschichte der Teilung und Wiedervereinigung in Vietnam (1976) und Deutschland (1989) geprägt [17]. Migranten südvietnamesischer Herkunft flüchteten ab 1976 nach der kommunistischen Übernahme ihres Staatsgebiets als sog. „Boatpeople“ aus Vietnam. Etwa 38 000 Südvietnamesen wurden meist als Familien zwischen 1979 und 1985 als „Kontingentflüchtlinge“ auch in der BRD aufgenommen. Nahezu zeitgleich wurden zwischen 1979 – 1989 etwa 80 000 durch die vietnamesische Regierung

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Mental Health Care Utilization of First Generation Vietnamese Migrants in Germany

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ausgewählte Arbeitsmigranten, meist nordvietnamesischer Herkunft, als „Vertragsarbeiter“ in der ehemaligen DDR eingesetzt, die zum Großteil nach der Wiedervereinigung in den neuen Bundesländern verblieben. Eine dritte vietnamesische Migrationsströmung hält seit 1990 an und setzt sich aus vietnamesischen Migranten ehemaliger Ostblockländer oder Zuwanderern im Rahmen von Familienzusammenführungen zusammen [15 – 17]. Es gibt somit innerhalb der vietnamesischen Migrationsströmungen ungleiche Herkunfts- und Ankunftsbedingungen. Die unterschiedlichen „Mobilitätsregime“, wie ein kommunistisches oder westlich orientiertes Herkunftsregime, sowie der Ankunftsstatus als Flüchtling oder Vertragsarbeiter können die Diagnostik, Ausprägung und das emotionale Erleben psychischer Störungen sowie das Inanspruchnahmeverhalten beeinflussen [18]. In Berlin lebten im Jahr 2012 21 120 Menschen mit vietnamesischem Migrationshintergrund, die damit die siebtgrößte Migrantenpopulation darstellen. Die regionale Verteilungsdichte ist historisch geprägt, wobei über 50 % der vietnamesischen Migranten, zumeist ehemalige Vertragsarbeiter, in nur 2 östlichen Bezirken Berlins (Lichtenberg und Marzahn-Hellersdorf) leben. Zur Inanspruchnahme medizinischer und psychiatrischer Versorgung sind keine Daten für Menschen mit vietnamesischem Migrationshintergrund veröffentlicht. Eine retrospektive Analyse aus dem Evangelischen Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge (KEH) weist jedoch auf eine deutlich verminderte Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgung hin. Das KEH versorgt einen Bezirk, der mit 14,2 % den höchsten Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund aller Berliner Ostbezirke hat, wobei die größten Migrantengruppen einen ehemals sowjetischen (35,1 %) oder vietnamesischen Migrationshintergrund (16,2 %) aufweisen. Eine Nachanalyse von Daten der interdisziplinären Patientenaufnahme des KEH aus dem Jahr 2012 erfasste den Migrationshintergrund bei 3393 Patienten, bei denen eine psychiatrische Mitbehandlung erfolgte. 16,7 % aller psychiatrisch vorgestellten Patienten hatten einen Migrationshintergrund. Von dieser Patientengruppe hatten 37,5 % einen sowjetischen Migrationshintergrund, womit ihr Anteil an allen psychiatrisch Versorgten prozentual dem Bevölkerungsanteil ehemals sowjetischer Migranten entsprach. Dagegen entsprach der psychiatrische Versorgungsanteil bei Patienten mit vietnamesischem Migrationshintergrund nur 3,2 % und war demnach entsprechend ihres Bevölkerungsanteils unter Migranten 5-fach vermindert. Die Inanspruchnahme der Psychiatrischen Institutsambulanz (PIA) war 10-fach vermindert und lag bei 0,3 % aller behandelten Patienten. Die Unterrepräsentation vietnamesischer Migranten in der PIA ist vor dem Hintergrund, dass in Deutschland bedeutende Migrantengruppen, insbesondere türkischer und osteuropäischer Herkunft, die Behandlung in PIAs besonders häufig in Anspruch nahmen, bedeutsam [19]. Auch eine epidemiologische Untersuchung ergab, dass Menschen mit Migrationshintergrund bei psychosozialen Problemen besonders häufig Notfalleinrichtungen aufsuchen [20]. Dies zeigt, dass allgemeine Erkenntnisse zur Versorgungsinanspruchnahme durch Migranten nicht ohne Weiteres auf alle Migrantengruppen übertragbar sind. Vietnamesische Migranten sind als eine durch das bestehende psychiatrisch-psychosoziale Versorgungssystem schwer zu erreichende Migrationsgruppe zu betrachten, bei der es sinnvoll ist, die Versorgung zielgruppengerecht anzubieten und aktive Zugehstrukturen einzusetzen [3]. Das Fehlen von migrantenspezifischen Behandlungsangeboten ist eine zentrale Barriere für die Inanspruchnahme psychosozialer Versorgung. Zum Abbau von Kommunikationsbarrieren wer-

den die Einbindung muttersprachlicher Mitarbeiter und Vertrauenspersonen sowie eine persönliche Ansprache in der Muttersprache gefordert [3, 11, 14]. Im Rahmen der aktuellen Diskussion, ob eine adäquate psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Migranten eher durch Integration in die Regelversorgung oder durch Schaffung von Spezialangeboten zu erzielen ist, gingen wir vor dem Hintergrund einer anhaltend geringen Inanspruchnahme vietnamesischer Migranten, davon aus, dass mit der Eröffnung einer Spezialambulanz ein vernetztes zielgruppenorientiertes Angebot zunächst leichter und effektiver umsetzbar sein sollte. Bei Akzeptanz war das mittelfristige Ziel eine weitere Integration in die Berliner Versorgungslandschaft. Im April 2010 eröffnete an der Klinik für Psychiatrie der Charité, CBF, eine Spezialambulanz, in der eine muttersprachliche in Vietnam und Deutschland approbierte Ärztin, ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie mit Vietnamesischkenntnissen, eine vietnamesische Sozialpädagogin und kulturell sensibilisierte Pflegekräfte zusammenarbeiten. Da für eine bessere Versorgung von Migranten die Nutzung vorhandener Netzwerke und die Weiterbildung von Schlüsselpersonen aus Migrationsgruppen sinnvoll sind [3], erfolgte eine Kooperation mit Vereinen der vietnamesischen Communities und wissenschaftlich begleitend eine Kooperation mit Ethnologinnen mit dem Schwerpunkt Südostasien. Das Angebot der Spezialambulanz umfasst muttersprachliche psychosoziale Beratung, Diagnostik, Konsiliartätigkeit, Einzel- und Gruppentherapien, medikamentöse und vollstationäre Behandlung sowie regelmäßige Mitarbeiter- und Multiplikatorenschulungen. Ziel der vorliegenden Arbeit war es, nach Eröffnung der Spezialambulanz das Inanspruchnahmeverhalten und mögliche darauf Einfluss nehmende Faktoren zu analysieren. Dabei wurden 2 Hypothesen zugrunde gelegt: 1. Ausgehend von Studien zu Behandlungslücken bei psychischen Störungen, die international im Median am geringsten für psychotische Störungen (32 %), gefolgt von depressiven Störungen (56 %) und am größten für Alkoholabhängigkeit (78 %) sind, war unsere Hypothese, dass die Spezialambulanz direkt nach der Eröffnung zunächst vor allem von Migranten mit psychotischen Störungen genutzt würde, die häufiger eine psychiatrische Vorbehandlung aufweisen sollten [21]. Im Zeitverlauf sollte es hypothetisch zu einer Veränderung der relativen Diagnosenhäufigkeit bei Erstvorstellung, verbunden mit einer häufigeren Vorstellung von Migranten mit depressiven Störungen kommen, da insbesondere bei einer schwer erreichbaren Migrantengruppe die Behandlungslücke bei Depression, abgebildet durch eine geringere Anzahl psychiatrischer Vorkontakte als bei psychotischen Störungen, größer sein sollte. 2. Die zunehmende Akzeptanz und Vernetzung innerhalb vietnamesischer Communities sollte über die Zeit zu einer Zunahme „nichtprofessioneller Zuweisungen“ bei Erstvorstellung führen.

Methoden !

Die ausgewerteten Daten basieren auf einer muttersprachlich erhobenen Basisdokumentation von Patienten mit vietnamesischem Migrationshintergrund, die sich vom 1.4.2010 (Eröffnung) bis 30.9.2012 erstmals in der neuen Spezialambulanz vorstellten. Alle Patienten stimmten schriftlich einer Veröffentlichung der erhobenen Daten in anonymisierter Form zu. Die Basisdokumenta-

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Originalarbeit

Ergebnisse !

Innerhalb des Erhebungszeitraums stellten sich 102 Patienten mit vietnamesischem Migrationshintergrund erstmals vor. 97 Patienten (95 %) waren vietnamesische Migranten der 1. Genera" Tab. 1). tion, von denen die meisten (86 %) weiblich waren (● Aufgrund des geringen Anteils von Migranten der 2. Generation erfolgte die weitere Auswertung nur für Migranten der 1. Generation. Obwohl die Aufenthaltsdauer in Deutschland meist mehr als 10 Jahre betrug, schätzten über 75 % aller Patienten ihre deutschen " Tab. 2). NaSprachkenntnisse als gering oder sehr gering ein (● hezu 70 % aller Patienten waren vor dem 30. Lebensjahr nach Deutschland migriert und weniger als 20 % waren zum Zeitpunkt der Erstvorstellung sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Das kulturspezifische Versorgungsangebot wurde von vietnamesischen Migranten aus allen 3 zuvor dargestellten Migrationsströmungen angenommen. Während sich die Patienten in den untersuchten 15-monatigen Teilzeiträumen nicht signifikant hinsichtlich des Alters, des Geschlechts oder der psychiatrischen Vorbehandlung unterschieden, zeigte sich in Bezug auf die psychiatrische Hauptdiagnose eine signifikante Abnahme des Anteils schizophrener Störungen sowie eine Zunahme des Anteils depressiver Störungen bei Erst" Tab. 3). Der HAMD-17-Mittelwert, der sich zwischen kontakt (●

Tab. 1 Soziodemografische Daten von vietnamesischen Migranten der 1. Generation (n = 97) im Gesamterhebungszeitraum. Geschlecht weiblich, n (%)

83 (85,6)

Alter in Jahren, Mittelwert/Standardabweichung (Range)

42,0 /12,7 (16 – 81)

Familienstand, n (%) – – – – –

verheiratet, zusammenlebend verheiratet, getrennt lebend geschieden ledig verwitwet

41 (42,3) 9 (9,3) 22 (22,7) 10 (23,7) 2 (2,1)

aktuelle Partnerschaft, n (%) – vietnamesischer Partner – deutscher Partner – kein Partner

63 (64,9)

leibliche Kinder, n (%)

82 (84,5)

12 (12,4) 22 (22,7)

Erwerbsstatus, n (%) – – – – – – –

Vollzeit Teilzeit nicht berufstätig (Hausarbeit) Arbeitslosigkeit keine Berufserlaubnis Erwerbunfähigkeitsrente Altersrente/Pension

6 (6,2) 11 (11,3) 7 (7,2) 48 (49,5) 19 (19,6) 2 (2,1) 4 (4,1)

Versicherungsstatus, n (%) – – – –

gesetzliche Versicherung private Versicherung Ausländerbehörde/Sozialamt Versicherung in anderem EU-Land

84 (86,6) 2 (2,1) 9 (9,3) 2 (2,1)

Wohnort, n (%) – – – –

in Berlin in Brandenburg unter 300 km von Berlin entfernt über 300 km von Berlin entfernt

83 (85,6) 2 (2,1) 4 (4,1) 8 (8,2)

den erstmals vorstelligen Patienten im Vergleich beider Zeiträume nicht signifikant unterschied, entsprach einer mittelschweren depressiven Symptomatik. Bei zwei Dritteln aller Patienten war die Erstbehandlung in der Spezialambulanz der erste Kontakt mit einem psychiatrischen Hilfsangebot überhaupt. Vietnamesische Patienten mit schizophrenen Störungen hatten über beide Erhebungszeiträume signifikant häufiger psychiatrische Vorkontakte (70,6 %) als depressive Patienten (29,6 %) (p = 0,009). Hinsichtlich der Vermittlungswege in die psychiatrische ambulante Versorgung zeigte sich eine signifikante Zunahme von mündlichen Empfehlungen unabhängig von professionellen Netzwerken vietnamesischer Migranten sowie eine Abnahme von Zuweisungen durch niedergelassene Ärzte, die häufiger im 1. Untersuchungszeitraum Patienten mit der Diagnose einer Schizophrenie zuwiesen. " Abb. 1 zeigt die Entwicklung über 30 Monate bei halbjährlicher ● Betrachtung. Vergleiche der Werte des 1. Halbjahrs mit den Werten des 5. Halbjahrs ergaben in Post-hoc-Analysen signifikante Unterschiede. Während im 1. Halbjahr 33,3 % aller in diesem Zeitraum erstmals vorgestellten vietnamesischen Migranten die Diagnosekriterien einer Schizophrenie erfüllten, waren es für das 5. Halbjahr 7,7 % (p = 0,044). Eine gegenläufige Entwicklung zeigte sich bei den depressiven Episoden. Hier erfüllten im 1. Halbjahr 25 % der Patienten mit Erstkontakt die Diagnosekriterien, während im 5. Halbjahr die Diagnose bei 69,2 % aller Erstkontakte gestellt wurde (p = 0,011). Zudem zeigte sich eine Zunahme der Vermittlung durch mündliche Empfehlungen von 8,3 % im 1. Halbjahr auf 53,8 % im 5. Halbjahr (p = 0,008).

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tion war vietnamesisch adaptiert, angelehnt an den „Mindestindikatorensatz zur Erfassung des Migrationsstatus“ und umfasste soziodemografische Daten (Alter, Geschlecht, Familienstatus, Familienstand, Erwerbsstatus, Versicherungsstatus, Schulabschluss, in Deutschland anerkannter Bildungsstand) sowie migrationsbezogene Daten (Geburtsort, Einreisejahr, Muttersprache, Migrationsgründe, Deutschkenntnisse, Aufenthaltsstatus) [22]. Die psychiatrische Hauptdiagnose wurde nach den Kriterien des ICD-10 bestimmt, das in deutscher und vietnamesischer Übersetzung vorlag. Mit dem Mini International Neuropsychiatric Interview (M.I.N.I. 6.0) wurde ein strukturiertes psychiatrisches Interview auf Basis von DSM-IV und ICD-10 verwandt, von dem ebenfalls eine deutsche und vietnamesische Übersetzung vorlag [23]. Zusätzlich wurden psychiatrische Vorkontakte und Zuweisungsbzw. Empfehlungswege erfasst. Für die Analyse der Inanspruchnahme im Zeitverlauf wurde die psychiatrische Hauptdiagnose (Achse-1-Störungen), die zur erstmaligen Vorstellung führte, verwendet. Bei depressiven Episoden wurde zudem der Schweregrad bei Erstvorstellung erhoben und zur Verlaufskontrolle die Hamilton-Depressions-Skala (HAMD-17) in einer vietnamesischen Übersetzung eingesetzt. Die statistische Analyse erfolgte mit PASW für Windows 18.0. Zur Untersuchung der zeitlichen Entwicklung wurden 2 Analysezeiträume von jeweils 15 Monaten gebildet (Split-half-Analyse). Unterschiede zwischen den Zeiträumen bezüglich erstmals vorstelliger Patienten, des Patientenalters und klinischer Skalen wurden mit t-Tests für unabhängige Stichproben untersucht. Unterschiede hinsichtlich der Verteilung von Hauptdiagnosen, psychiatrischen Vorkontakten und Vermittlungswegen wurden mit ChiQuadrat-Tests geprüft. In einer Post-hoc-Analyse erfolgte eine weitere Aufteilung des Untersuchungszeitraums in 5 Abschnitte von jeweils 6 Monaten und Post-hoc-Berechnungen mit Chi-Quadrat-Tests, insbesondere im Vergleich für das 1. und 5. Erhebungshalbjahr. Das Signifikanzniveau wurde mit α < 0,05 festgesetzt.

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Tab. 2 Migrationsspezifische Daten von vietnamesischen Migranten der 1. Generation (n = 97) im Gesamterhebungszeitraum. aktueller Aufenthaltsstatus, n (%) – – – – –

deutsche Staatsangehörigkeit Niederlassungserlaubnis befristeter Aufenthalt laufendes Asylverfahren anderes EU-Land (Tschechien, Polen)

15 (15,5) 35 (36,1) 27 (27,8) 18 (18,6) 2 (2,1)

Aufenthaltsdauer in Deutschland in Jahren, n (%) – 0–3 – 4 – 10 – 11 – 20 – 21 – 30 – > 30

15 (15,5) 24 (24,7) 19 (19,6) 32 (33,0) 7 (7,2)

Alter in Jahren bei Migration aus Vietnam, n (%) – – – –

16 – 29 30 – 39 40 – 49 50 – 59

67 (69,1) 24 (24,7) 3 (3,1) 3 (3,1)

deutsche Sprachkenntnisse, n (%) – – – – –

sehr gut gut mittelmäßig gering sehr gering

3 (3,1) 3 (3,1) 17 (17,5) 51 (52,6) 23 (23,7)

Schulabschluss in Vietnam, n (%) – Grundschulabschluss (5. Klasse) – Sekundärschulabschluss (10. Klasse) – Oberschulabschluss (12. Klasse)

21 (21,6) 48 (49,5) 28 (28,9)

Bildungsstand Vietnam, n (%) – keine anerkannte Ausbildung – anerkannte Ausbildung – Abschluss eines Studiums

68 (70,2) 20 (20,6) 7 (7,2)

Bildungsstand Deutschland, n (%) – keine anerkannte Ausbildung – anerkannte Ausbildung – Abschluss eines Studiums

89 (91,7) 6 (6,2) 2 (2,1)

Migrationsgrund, n (%) – – – – – – –

Vertragsarbeiter (ehemalige DDR) Kontingent-Flüchtlinge (West-Berlin, BRD) Familienzusammenführung Heirat ökonomische Gründe nach 1989 Studium andere

26 (26,8) 14 (14,4) 12 (12,4) 12 (12,4) 27 (27,8) 3 (3,1) 3 (3,1)

Religionszugehörigkeit, n (%) – katholisch/evangelisch – Buddhismus – keine

10 (10,3) 48 (49,5) 38 (40,2)

Diskussion !

In der vorliegenden Arbeit wurde die Inanspruchnahme eines zielgruppenspezifischen Versorgungsangebots für Menschen mit vietnamesischem Migrationshintergrund untersucht. Insgesamt wurde bei den vietnamesischen Migranten der 1. Generation am häufigsten die Diagnose einer depressiven Episode gestellt. Andere Autoren fanden bei Migranten der 1. Generation im Vergleich zu Migranten der 2. Generation ebenfalls signifikant häufiger die Diagnose einer affektiven Störung [7, 10]. In einer weiteren nichtklinischen Stichprobe konnten ebenfalls erhöhte Angstund Depressionswerte, sowohl bei vietnamesischen als auch bei polnischen Migranten der 1. Generation im Vergleich zu einer deutschen Stichprobe nachgewiesen werden [24].

Im Einklang mit unserer Hypothese zeigte sich im Zeitverlauf eine signifikante Zunahme der Erstkontakte vietnamesischer Patienten mit Depressionsdiagnose bei gleichzeitiger relativer Abnahme der Erstkontakte aufgrund schizophrener Störungen. Patienten mit schizophrenen Störungen waren wie erwartet, möglicherweise aufgrund einer migrationsunabhängig bestehenden geringeren Behandlungslücke deutlich häufiger bereits psychiatrisch vorbehandelt [21]. Aus bisher unveröffentlichten qualitativen Untersuchungen in psychiatrischen Kliniken in Vietnam ist den Autoren bekannt, dass auch aktuell in Vietnam ganz überwiegend „externalisierende“, also in der Gesellschaft auffällige Störungen, wie Schizophrenien, klinisch versorgt werden, während die Versorgungsquote bei den häufigeren affektiven Störungen geringer ist. Patienten mit psychotischen Störungen wurden zudem häufiger als Patienten mit Depression durch professionelle Kontakte, wie niedergelassene Ärzte oder Mitarbeiter sozialer Dienste, zugewiesen. Das relativ rückläufige Überweisungsverhalten durch niedergelassene Ärzte könnte sich in diesem Kontext so erklären, dass vorbehandelte vietnamesische Patienten mit Schizophrenie und oft geringen Deutschkenntnissen häufiger bereits innerhalb der ersten 15 Monate nach der Eröffnung erstmalig zugewiesen wurden. Ärztliche Kollegen und soziale Dienste konnten durch Flyer und E-mail-Verteiler initial bereits erreicht werden. Ein Teil dieser Zuweisungen erfolgte zur muttersprachlichen Überprüfung der Diagnose und zur konsiliarischen Behandlungsempfehlung. Vietnamesische Migranten mit Depression waren dagegen deutlich seltener psychiatrisch vorbehandelt und wurden relativ selten von niedergelassenen Ärzten überwiesen. Im 2. Untersuchungszeitraum war die erstmalige Inanspruchnahme, insbesondere bei affektiven Störungen, durch nicht professionelle Zuweisung nach mündlicher Empfehlung gekennzeichnet. Die im Zeitverlauf gegenläufige Entwicklung der Erstkontakte wegen Schizophrenien und Depressionen ergab in Post-hoc-Analysen einen signifikanten Unterschied zwischen dem 1. und 5. Halbjahr. Auch die kulturspezifisch unterschiedliche Wahrnehmung von Symptomen bzw. der Symptomschwere sowie kulturelle Einflüsse auf das Hilfesuchverhalten bei leichteren Krankheitsausprägungen oder häufigeren psychiatrischen Störungen könnten die störungsabhängig divergierende Inanspruchnahme erklären [12, 25]. Wir interpretieren die Ergebnisse so, dass eine Empfehlung untereinander, wahrscheinlich durch in den Communities aktiv vernetzte Patientinnen bzw. deren Angehörige die Inanspruchnahme bei einer schwer erreichbaren Migrantengruppe asiatischer Herkunft, insbesondere für die häufigeren affektiven Störungen verbessern konnte. Gleichzeitig könnte auf diesem Weg eine Reduktion der Stigmatisierung einer psychiatrischen Behandlung bei vietnamesischen Migranten in Deutschland stattgefunden haben [2, 3]. Sorgen wegen Stigmatisierung und Diskriminierung innerhalb der kulturellen Communities wurden insbesondere bei US-Amerikanern asiatischer Herkunft als ein mögliches Hindernis einer Inanspruchnahme professioneller Versorgung identifiziert [25]. Auch die kulturell bedingte Attribution der Ursachen psychischer Störungen könnte die Inanspruchnahme medizinischer Versorgung beeinflussen [14]. So zeigte sich in einer repräsentativen deutschen Bevölkerungsstichprobe eine Abnahme der Stigmatisierung, wenn psychischen Störungen nicht in erster Linie biologische Ursachen zugeschrieben wurden, sondern eher eine Kontinuität zwischen psychischer Gesundheit und Krankheit angenommen wurde [26, 27].

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Tab. 3 Hauptdiagnosen, psychiatrische Vorkontakte und Vermittlungswege bei vietnamesischen Migranten der 1. Generation, getrennt nach 2 Erhebungszeiträumen von jeweils 15 Monaten.

Gesamtzeitraum

Zeitraum 1

Zeitraum 2

p-Wert

(30 Monate)

(15 Monate)

(15 Monate)

(ZR1 vs. ZR2)

erstmalige Patienten, n (%)

97 (100)

41 (42,3)

56 (57,7)

n.s.

Alter in Jahren, Mittelwert (Standardabweichung)

42,0 (12,7)

42,5 (13,5)

41,6 (12,4)

n.s.

Geschlecht weiblich, n (%)

83 (85,6)

37 (90,2)

46 (82,1)

n.s.

Suizidversuch in Anamnese, n (%)

19 (19,6)

8 (19,5)

11 (19,6)

n.s.

4 (4,1)

2 (4,9)

2 (3,6)



1 (1,0)

0 (0)

1 (1,8)



2 (2,1)

1 (2,4)

1 (1,8)



17 (17,5)

11 (26,8)

6 (10,7)

0,039

51 (52,6)

16 (39,0)

35 (62,5)

0,022

20 (20,6)

10 (24,4)

10 (17,9)



1 (1,0)

1 (2,4)

0 (0)



1 (1,0)

0 (0)

1 (1,8)



psychiatrische Hauptdiagnose, n (%) – – – – – – – –

keine F0x F1x F2x F31x–F33x F4x F7x F8x

Schweregrad bei Depression HAMD-17, Mittelwert (Standardabweichung) leichte Episode, n (%) mittelgradige Episode, n (%) schwergradige Episode, n (%)

23,2 (4,7)

24,3 (4,0)

6 (6,2)

0 (0)

22,7 (4,9)

n.s.

6 (10,7)



18 (18,6)

9 (22,0)

14 (25,0)



27 (27,8)

7 (17,1)

15 (26,8)



36 (37,1)

17 (41,5)

19 (33,9)

n.s.

12 (70,6)

8 (72,2)

4 (66,7)

n.s.

15 (29,4)

5 (37,5)

10 (25,7)

n.s.

psychiatrische Vorkontakte – gesamt – Erstkontakt mit Diagnose F2x – Erstkontakt mit Diagnose F3x Vermittlungswege – – – – – – –

mündliche Empfehlung soziale Dienste niedergelassene Ärzte andere Kliniken Internet Jugendamt sonstige (z. B. Anwälte, Justiz)

32 (33,0)

8 (19,5)

24 (42,9)

0,016

27 (27,8)

14 (34,1)

13 (23,2)

n.s.

10 (10,3)

8 (19,5)

2 (3,6)

0,011

10 (10,3)

5 (12,2)

5 (8,9)



8 (8,2)

5 (12,2)

3 (5,4)



6 (6,2)

1 (2,4)

5 (8,9)



4 (4,1)

0 (0)

4 (7,1)



Anmerkungen: Zeitraum 1 (ZR1): 1.4.2010 – 30.6.2011. Zeitraum 2 (ZR2): 1.7.2011 – 30.9.2012. HAMD-17 = Hamilton Gesamtscore 17-Item Version. n.s. = nicht signifikant. – = keine Signifkanztestung durchgeführt

100 %

Abb. 1 Kumulative Erstkontakte, Anteil schizophrener und depressiver Störungen an den Erstkontakten sowie Vermittlungshäufigkeit durch mündliche Empfehlungen über 5 Halbjahre.

90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0%

1. Halbjahr

2. Halbjahr

3. Halbjahr

4. Halbjahr

5. Halbjahr

kumulative Anzahl der Erstkontakte in %

12 %

29 %

49 %

73 %

100 %

Diagnose F2.x bei Erstkontakten in % je Halbjahr

33 %

25 %

20 %

13 %

8%

Diagnose F3.x bei Erstkontakten in % je Halbjahr

25 %

44 %

50 %

56 %

69 %

mündliche Empfehlung der Erstkontakte in % je Halbjahr

8%

13 %

35 %

35 %

54 %

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Originalarbeit

Trotz einer meist langen Aufenthaltsdauer in Deutschland gaben über drei Viertel aller erstmals vorstelligen Patienten geringe deutsche Sprachkenntnisse an. Anhand dieser Zahlen gehen wir davon aus, dass nicht in erster Linie politische oder ökonomische migrationsgeschichtliche Bedingungen, sondern mangelnde deutsche Sprachkompetenzen bzw. ein fehlendes muttersprachliches Angebot eine zentrale Barriere der Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgung bei vietnamesischen Migranten der 1. Generation darstellten. Konträr zu dem in den Medien betonten bildungspolitischen Integrationserfolg vietnamesischer Migranten, wiesen in der Inanspruchnahmepopulation 1. Generation weniger als 10 % der Patienten einen auch in Deutschland anerkannten Studien- bzw. Berufsabschluss auf. Unzureichende Sprachkenntnisse, eine mangelnde Gesundheitsbildung und ein niedrigerer Bildungsstatus können als weitere Einflussfaktoren auf das Inanspruchnahmeverhalten angesehen werden [2, 3, 14, 28, 29]. Überraschend war der hohe Anteil weiblicher Patienten und die geringe Inanspruchnahme psychiatrischer Versorgung durch Patienten mit Abhängigkeitserkrankungen. Das Gender-Ungleichgewicht könnte durch herkunftsbedingte Geschlechterrollen ostasiatischer Kulturen, eine genderabhängige unterschiedliche Bewertung psychiatrischer Behandlung, einer weiblichen muttersprachlichen Ärztin oder durch Empfehlungen vietnamesischer Frauen untereinander bedingt sein [30, 31]. Die allgemeine Unterrepräsentation männlicher Patienten könnte mit der Unterrepräsentation von Abhängigkeitserkrankungen zusammenhängen. Abhängigkeitserkrankungen treten im Herkunftsland Vietnam häufiger bei Männern auf und könnten mit einem möglichen Verlust von sozialem Status bei einer ursprünglich patriarchalischen Herkunftskultur in Zusammenhang stehen [30 – 33]. Als Risikofaktoren für ein vermehrtes Auftreten von Depressionen bei vietnamesischen Migrantinnen in den USA wurden intergenerationale Konflikte, unerfüllte Erwartungen an das Verhalten der Kinder, das Fehlen sozialer Unterstützung, traumatische Ereignisse sowie Beziehungskonflikte durch die Veränderung kultureller Rollenerwartungen diskutiert [30, 32 – 34]. Aufgrund der besonderen Geschichte vietnamesischer Migration nach Deutschland sind diese Studienergebnisse, die sich meist auf südvietnamesische Flüchtlinge beziehen, jedoch nicht direkt übertragbar [17, 18]. Die vorliegende Untersuchung gibt wichtige Hinweise darauf, dass sprach- und kultursensitive Angebote einen Beitrag zur Verbesserung der Versorgung von schwer erreichbaren und unterversorgten Migrationsgruppen leisten können. Durch Empfehlungen innerhalb der Communities wird Patienten mit häufigen psychiatrischen Störungen und möglicherweise hoher Stigmatisierung die Inanspruchnahme einer psychiatrischen Behandlung erleichtert. Im Untersuchungszeitraum wurde eine Zunahme psychiatrischer Versorgungserwartungen beobachtet, die sich in häufigen Anfragen aus anderen Bundesländern und einer relativen Unterrepräsentation von vietnamesischen Migranten aus Berliner Ostbezirken bemerkbar machte. Die Autoren wiesen deshalb auf die Notwendigkeit einer lokalen und kulturell angepassten interkulturellen Öffnung des Angebots innerhalb des bestehenden gemeindenahen psychiatrischen Versorgungssystems hin. Um diesem Anspruch gerecht zu werden, wurde eine Kooperation mit dem relevanten Versorgungskrankenhaus (KEH) etabliert, das seit Ende 2012 ein kultursensibles psychiatrisches Angebot mit Sprachmittlung durch vietnamesische Sozialarbeiterinnen bereitstellt. Künftige Studien sollten die Inanspruchnahme mutter-

sprachlicher Versorgungsangebote mit sprachvermittelten Angeboten vergleichen, um daraus weitere Erkenntnisse über Möglichkeiten zur Integration von kulturspezifischen Angeboten in die Regelversorgung zu gewinnen.

Konsequenzen für Klinik und Praxis

▶ Vietnamesische Migranten, insbesondere der 1. Generation, sind eine für das psychosoziale Versorgungssystem schwer erreichbare Migrantengruppe. ▶ Neben kulturspezifischen und sprachsensitiven Maßnahmen können persönliche Empfehlungen und aktive Vernetzung innerhalb der kulturellen Communities einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Inanspruchnahme leisten. ▶ Ein muttersprachliches Versorgungsangebot erhöht die Inanspruchnahme insbesondere bei häufiger auftretenden psychiatrischen Störungen, wie Depressionen, und ermöglicht im Verlauf durch die Einbindung nichtärztlicher muttersprachlicher Berufsgruppen die Integration in das gemeindenahe Versorgungssystem.

Interessenkonflikt !

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Abstract

Mental Health care Utilization of First Generation Vietnamese Migrants in Germany !

Objective: Vietnamese migrants underutilize and are a “hard to reach group” within the existing mental health care system in Germany. Methods: We analyzed migration related and clinical data for all first-time Vietnamese migrants seeking psychiatric help, within the first 30 months of a newly established outpatient clinic, offering culture-sensitive psychiatric treatment in native Vietnamese language. Results: Most first time patients were female, first generation Vietnamese migrants with poor German language skills. Only 1 /3 of all patients had a psychiatric history, while this number was higher in patients with schizophrenia. Over time, more first time patients with depression were seeking psychiatric care, accompanied with an increase of non-professional referrals within the Vietnamese communities. Conclusion: This first study on mental health care utilization in Vietnamese migrants in Germany points towards the fact that “migrants” cannot be considered as a homogeneous group. Mental health care utilization must be evaluated for specific migrant groups, and can be initially improved if offered in native language and when it is referred to by members of migrant communities.

Institute 1 Klinik und Hochschulambulanz für Psychiatrie und Psychotherapie, Charité Universitätsmedizin Berlin, Campus Benjamin Franklin 2 Abteilung für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik, Evangelisches Krankenhaus Königin Elisabeth Herzberge, Berlin 3 Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Greifswald am HELIOS-Hanseklinikum Stralsund 4 Institut für Ethnologie, Freie Universität Berlin

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