Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2015) 109, 79—80

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GLOBAL AFFAIRS

Medizin und Ökonomie — eine Perspektive aus der Schweiz Nikola Biller-Andorno ∗ Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich, Zürich, Schweiz

Um das Schweizer Gesundheitswesen ist es in vielerlei Hinsicht gut bestellt: Die Lebenserwartung ist die zweithöchste weltweit — nur japanische Frauen und isländische Männer werden älter. Gemäß dem International Health Policy Survey 2013 des Commonwealth Fund bezeichnen 87% der Bevölkerung ihren Gesundheitszustand als sehr gut oder gut, und immerhin 53% sind der Ansicht, dass das Schweizer Gesundheitswesen gut funktioniere und nur kleine Änderungen nötig seien. Alle in der Schweiz lebenden Personen haben eine soziale Krankenversicherung, welche ein umfassendes Leistungspaket bietet. Ein Wermutstropfen sind dabei die hohen Kosten, welche 11.5% des Bruttoinlandsprodukts ausmachen. Aber, so könnte man sagen, Qualität hat eben ihren Preis, und wenn der Gesundheitsmarkt floriert, ist dass doch letztlich für alle Beteiligten eine gute Sache. Dennoch wird das Schweizer Alpenpanorama durch ein paar Gewitterwolken getrübt: Wie sieht es aus mit dem ,,Value‘‘ — dem sogenannten Patientennutzen, den wir pro Franken generieren? Gibt es einen angemessenen ,,Return on Investment‘‘ aus gesellschaftlicher Perspektive? Haben wir wirklich ausreichend — transparente und vergleichbare — Daten, um Aussagen über die Behandlungsqualität machen



Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Dr. phil. Nikola BillerAndorno, Direktorin und Professorin für Biomedizinische Ethik, Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte, Universität Zürich, Pestalozzistrasse 24, 8032 Zürich, Schweiz E-Mail: [email protected]

http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2015.01.005 1865-9217/

zu können? Wie steht es um Überversorgung, welche nicht nur kostet, sondern den Patienten auch schaden kann? Lassen sich die Kosten für die Gesundheitsversorgung auch für künftige Generationen leisten, ist das System nachhaltig? [1,2] Mit Blick auf eine Dämpfung und bessere Kontrolle der Kosten, ohne dabei Qualität und Solidarität in der Versorgung zu gefährden, wurden in den letzten Jahren in der Schweiz eine Reihe von Maßnahmen ergriffen, darunter die Einführung der SwissDRG sowie ein Ausbau verschiedener Formen der Managed Care im ambulanten Bereich. Auch die Roadmap ,,Nachhaltiges Gesundheitssystem‘‘ der Akademien Schweiz, die Schaffung des Swiss Medical Board als einer unabhängigen HTA-Einrichtung wie auch die Smarter Medicine-Initiative der Schweizerischen Gesellschaft für Allgemeine Innere Medizin können als Anstrengungen in dieser Hinsicht verstanden werden. Mit einem verstärkten Akzent auf der Wirtschaftlichkeit gehen jedoch unweigerlich Spannungen einher. Während zum Beispiel Krankenhäuser in Aktiengesellschaften umgewandelt werden, über wachsendes Patientenvolumen und schwarze Zahlen berichten, fühlt sich die Ärzteschaft unter Druck gesetzt, ökonomisch motivierte klinische Entscheidungen zu treffen, auch wenn sie dem besten Interesse der Patienten zuwider laufen. Selektive Unter- und Überbehandlung, Fallsplitting und Rosinenpickerei sind die Folge [3]. Es steht also viel auf dem Spiel beim Versuch, ein effizientes, nachhaltig leistbares Gesundheitssystem zu gestalten, ohne die Versorgungsqualität und -gerechtigkeit und damit letztlich das Vertrauen der Patientinnen und Patienten

80 zu gefährden. Das Positionspapier ,,Medizin und Ökonomie - wie weiter?‘‘ der Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) [4] wendet sich eben dieser Problematik zu. Die SAMW hat bereits seit geraumer Zeit gemeinsam mit der Nationalen Ethik-Kommission regelmäßige Symposien zu Fragestellungen aus diesem Bereich durchgeführt und nun in einem Synthesepapier die wichtigsten Herausforderungen, aber auch Lösungsansätze dargestellt. Das Positionspapier versucht bewusst, einige Stolpersteine in den bisherigen Debatten zu vermeiden. Dazu zählt eine Romantisierung der Vergangenheit, in der die Medizin scheinbar von finanziellen Restriktionen unbelastet frei agieren konnte, verbunden mit dem Wunsch, diesen glückseligen Zustand wieder zu erreichen. Das Positionspapier geht hingegen davon aus, dass die Medizin öffentliche und private Ressourcen verwendet und diese verantwortungsvoll einsetzen muss. Eine weitere Problematik besteht darin, dass in Debatten mitunter alles, was mit Ökonomie zu tun hat, in einen Topf geworfen wird. Das Positionspapier hingegen differenziert zwischen betriebswirtschaftlicher und volkswirtschaftlicher Perspektive und fasst Ökonomisierung als Effizienzstreben, das dann problematisch wird, wenn es das übergeordnete Ziel einer qualitativ hochstehenden Versorgung für die gesamte Bevölkerung unterminiert. Davon wird die Kommerzialisierung unterschieden, die als Maximierung von Profit verstanden wird, welcher nicht im System bleibt, sondern privatisiert wird. Das Papier strebt eine Integration der Teilziele ,,Verbesserung der individuellen Patientenerfahrung‘‘, ,,Verbesserung des Nutzens für die Bevölkerung‘‘ und ,,Kosteneffektivität‘‘ an, ohne in Grabenkämpfen zwischen Medizin und Ökonomie zu verharren und ohne aber auch eine vordergründige Harmonie vorzugeben, die Spannungen und Konflikte eskamotiert. In diesem Sinne werden eine Reihe von sich überlappenden Problemfeldern benannt und mit Vignetten illustriert, die aus der klinischen Alltagspraxis generiert wurden. Zu diesen Problemfeldern zählen: - Qualitätseinbußen durch fehlgeleitete Effizienzsteigerung, zum Beispiel durch übermäßige Verdichtung von Arbeitsabläufen; - Interessenkonflikte, die durch betriebswirtschaftliche Anreize generiert und zu Unter-, Über- und Fehlversorgung führen können; - eine Aushöhlung des Fürsorgemodells in der Beziehung zum Patienten, welches im Verständnis vieler Ärzte das Wesen der Medizin ausmacht; - ein Verlust der intrinsischen Motivation, welcher zur Resignation oder zur Hinwendung zu sekundären Zielen wie

N. Biller-Andorno dem Erhalt von Boni für das Erreichen vorgegebener Leistungsparameter führen kann; - eine Deprofessionalisierung, die mit einer ,,Angestelltenmentalität‘‘ einhergehen kann, nach der Vorgaben von Seiten des Managements umgesetzt werden, ohne den Anspruch, im Zweifel für die Patienteninteressen einzustehen; - eine Verzerrung medizinischer Prioritäten entsprechend einer einseitigen betriebswirtschaftlichen Logik, welche kurzfristige Gewinne in den Vordergrund rückt; - ein Vertrauensverlust der Patienten, die sich nicht mehr sicher sind, ob sie nicht als Mittel zum Zweck (des Profits) gebraucht werden. Angesichts dieser Herausforderungen ist Fatalismus fehl am Platz; vielmehr ist eine proaktive Haltung gefordert. Als Ansatzpunkte für eine Integration medizinischer und ökonomischer Ziele identifiziert das Positionspapier einen verstärkten Einbezug der Patienten, um die Patientenorientierung und damit zugleich die Effizienz der Versorgung zu verbessern; die Schaffung einer ,,EthikKultur‘‘ in Gesundheitseinrichtungen, die Offenheit und kritische Reflexion fördert und einem simplen ,,Dienst nach Vorschrift‘‘ entgegenwirkt; eine Verbesserung der Vergütungs- und Anreizstrukturen, so dass Interessenkonflikte minimiert werden können; Zertifizierungsprozesse, die einen angemessenen Umgang mit dem Spannungsfeld Medizin - Ökonomie miterfassen; und last but not least die Erhebung von Daten, die ein lernendes System braucht, um seine Effizienz zu verbessern, ohne dabei die Qualität und Fairness der Gesundheitsversorgung zu kompromittieren. Das Positionspapier hat bereits viele positive Rückmeldungen erhalten. Es steht zu hoffen, dass es auch auf die Praxis einwirken kann.

Literatur [1] Gesundheit 2020. Die gesundheitspolitischen Prioritäten des Bundesrates. Bern: Eidgenössisches Departement des Inneren EDI; 2013. [2] Akademien der Wissenschaften Schweiz. Ein nachhaltiges Gesundheitssystem für die Schweiz: Roadmap. Bern: Akademien der Wissenschaften Schweiz; 2012. [3] Fässler M, Wild V, Clarinval C, Tschopp A, Faehnrich JA, Biller-Andorno N: Impact of the DRG-based reimbursement system on patient care and professional practice: perspectives of Swiss hospital physicians. Swiss Medical Weekly, im Druck. [4] Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften:. Medizin und Ökonomie — wie weiter? Positionspapier. Basel: SAMW; 2014 http://www.samw.ch/de/Projekte/ Oekonomisierung-der-Medizin.html

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