Leitthema: Mammadiagnostik Radiologe 2014 · 54:205–210 DOI 10.1007/s00117-013-2581-7 Online publiziert: 16. März 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

K. Bock1 · S. Heywang-Köbrunner2 · L. Regitz-Jedermann3  G. Hecht4 · V. Kääb-Sanyal5 1 Referenzzentrum Mammographie Südwest/Marburg, Marburg 2 Referenzzentrum Mammographie München, München 3 Referenzzentrum Mammographie Berlin, Berlin 4 Referenzzentrum Mammographie Nord/Oldenburg, Oldenburg 5 Kooperationsgemeinschaft Mammographie/Geschäftsstelle Berlin, Berlin

Mammographiescreening in Deutschland Aktuelle Ergebnisse   und zukünftige Herausforderungen

Grundsätzliche Fragen bei Früherkennungsuntersuchungen Im Gegensatz zu therapeutischen Maßnahmen ist bei Früherkennungsmaßnahmen die Mehrheit der Teilnehmer nicht von der untersuchten Krankheit betroffen. Dies gilt insbesondere für bevölkerungsbezogene Screeninguntersuchungen. Jedes Früherkennungsverfahren bringt Vorteile und potenzielle Risiken mit sich. Die Risiken der Untersuchungsmethode tragen alle Teilnehmer. Profitieren werden diejenigen, die vor dem Tod durch Brustkrebs bewahrt werden, und diejenigen, bei denen die Behandlung einer frühzeitig erkannten Krebserkrankung die Lebensqualität weniger einschränkt als die spätere Behandlung einer klinisch manifesten Krebserkrankung. Nachteile können diejenigen erfahren, bei denen die Entdeckung der Krebserkrankung durch Screening keinen Einfluss auf die Behandlungsintensität hat, bzw. deren Krebserkrankung ohne Screeninguntersuchung zu Lebzeiten nicht klinisch manifest geworden wäre. Das Verhältnis zwischen Vorteilen und Risiken entscheidet über den individuellen und den gesellschaftlichen Wert eines Screeningprogramms. Die Herausforderung besteht darin, einen größtmög-

lichen Nutzen mit geringstmöglicher Belastung der Programmteilnehmer sicherzustellen. Die europaweite Einführung des Mammographiescreenings beruht auf großen randomisierten Studien (RCTs) mit mehr als einer halben Million untersuchter Frauen, deren Ergebnisse gezeigt haben, dass ein bevölkerungsbezogenes Früherkennungsprogramm die Brustkrebssterblichkeit um 25–30% senken kann [21]. Dass der Nutzen der Brustkrebsfrüherkennung die Risiken deutlich überwiegt, wurde auch von Njor et al. [13] bestätigt, die Ergebnisse von 26 Screeningprogrammen in 18 europäischen Ländern untersuchten und 2012 die Daten von insgesamt 12 Mio. Frauen publizierten.

Herausforderungen im Deutschen Mammographiescreeningprogramm Als 2002 der Deutsche Bundestag parteiübergreifend beschlossen hatte, ein Mammographiescreeningprogramm nach dem Vorbild der europäischen Leitlinien in Deutschland einzuführen, waren andere bevölkerungsbezogene europäische Mammographiescreeningprogramme bereits seit Jahren etabliert (. Tab. 1; [12]). Das deutsche Gesundheitssystem stand vor der Herausforderung, flächendeckend ein standardisiertes, qualitätsgesichertes System der Früherkennung aufzubauen, das es so bislang in keinem Gesundheitssektor in Deutschland gegeben

Tab. 1  Charakteristika nationaler europäischer Screeningprogramme. (Adaptiert nach [12]) Länder (alphabetische Reihenfolge) Deutschland Finnland Frankreich Island Luxemburg Niederlande Norwegen Schweden UK Ungarn

Umsetzung (Gesamtbevölkerung) 2005 (2009) 1987 (1992) 1989 (2003) 1987 (1989) 1992 1989 (1997) 1995 (2004) 1986 (1997) 1988 (1995) 2002

Einwohnerzahl 2012 (Mio.) 82 5 66 0,1 0,5 17 5 10 63 10

Zielgruppe (Jahre) 50–69 50–59 (69) 50–69 (74) 40–69 50–65 50–74 50–69 40–74 50–70 45–65

Screening Intervall (Jahre) 2 2 2 2 2 2 2 1,5/2 3 2

Der Radiologe 3 · 2014 

| 205

Leitthema: Mammadiagnostik Tab. 2  Säulen der Qualitätssicherung im Deutschen Mammographiescreeningprogramm. (Adaptiert nach [10]) Strukturqualität Räumliche und apparative Ausstattung Nachweis fachlicher Befähigung Aufrechterhaltung und Weiterentwicklung der fachlichen Befähigung – Fortbildungen (radiologische Fachkraft,   Befunder, Pathologe) – Mindestfallzahlen (PVA, Befunder, Biopsieärzte, Pathologen, Krankenhausärzte) – Stichprobenprüfung (diagnostische Bildqualität, Abklärungsdiagnostik) – Fallsammlungsprüfung Technische Qualitätssicherung

Prozessqualität Doppelbefundung Fallkonferenzen zur fortlaufenden Kontrolle und   Verbesserung der Diagnostik und Abklärung – Konsensuskonferenz – Multidisziplinäre prä- und postoperative Fallkonferenz Verfahren zur Selbstüberprüfung (inkl. Fachgesprächen) – Diagnostische Bildqualität – Befunderqualität – Biopsiequalität – Qualität der histopathologischen Untersuchung – Methodenübergreifende Qualitätssicherung

Ergebnisqualität Krebsregisterabgleich zur Identifikation der Intervallkarzinome Regelmäßige Rezertifizierung alle 30 Monate Evaluation der Qualitätssicherungsmaßnahmen (Adressat: Partner der Bundesmantelverträge) Evaluation des Programms (Adressat: Gemeinsamer Bundesausschuss)

PVA programmverantwortlicher Arzt.

Tab. 3  Phasenmodell zur Evaluation des deutschen Mammographiescreeningprogramms. (Adaptiert nach [6]) Phasen 0

Eintritt Feststellbarkeit Frühestens nach (Jahre) (-5)-0 0

I

0–2

II III

IV

3–5

2–3 4–7

4–6 5–10

6–7

7–8

7–10

9–12

10–15



Effekt

Indikator

Datenquellen

Brustkrebshintergrundinzidenz und -Mortalität vor Einführung des Mammographiescreening-  programms Erwarteter Anstieg der Brustkrebsinzidenz in der Gesamtbevölkerung Erwartete günstigere Tumorstadien bei Teil-  nehmerinnen im Vergleich zu Nichtteilnehmerinnen Intervallkarzinome bei Teilnehmerinnen Erwartete Abnahme der Inzidenz von prognostisch ungünstigen Tumorstadien Erwartete Mortalitätssenkung aufgrund   Stadienverschiebung Erwartete Abnahme der bundesweiten Brustkrebsmortalität

Hintergrundinzidenz und Mortalitätsrate nach Einführung des Screenings Brustkrebsinzidenzrate

Krebsregister

Unterschiede in Lebensqualität und Morbidität, Kosteneffekte

TNM-Stadienverteilung Intervallkarzinomrate Inzidenzrate für fortgeschrittene Karzinome Mathematische   Prädiktionsmodelle Inzidenzbasierte   Brustkrebsmortalität im historischen Vergleich Relative Risiken

Tab. 4  Intervallkarzinomraten, Vorgaben der europäischen Leitlinien im Vergleich zu

gepoolten Evaluationsdaten europäischer Screeningnationen sowie Studienergebnissen aus Nordrhein-Westfalen Jahre nach regulärer Screeninguntersuchung

Vorgaben der EU-Leitlinien von 2006 (%)a

Gepoolte Evaluationsdaten europäischer Screeningnationen (%)b

1. Jahr 2. Jahr

≤30 ≤50

29 63

Studiendaten aus der Startphase des Screening-  programms in NordrheinWestfalen (%)c 27 58

aBezogen auf die ohne Screeninguntersuchungen zu erwartende jährliche Hintergrundinzidenz. b[20]. c[5].

hatte. Die Ärztliche Selbstverwaltung wurde mit der Umsetzung des Programms beauftragt, das von den gesetzlichen Krankenversicherungen getragen wird. Anforderungen bzgl. Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität (. Tab. 2) wurden nach dem Vorbild der EU-Richtlinien [14] erarbeitet und 2004 in der Krebsfrüherken-

206 | 

Der Radiologe 3 · 2014

nungsrichtlinie [4] und im Anhang 9.2 BMV-Ä/EKV (BundesmantelverträgeÄrzte/Ersatzkassen [7, 8]) publiziert. Nachfolgend wurde innerhalb eines vergleichsweise kurzen Zeitraums von 5 Jahren das mit rund 10. Mio. Anspruchsberechtigten größte europäische Mammographiescreeningprogramm mit bun-

Bevölkerungsbezogene Krebsregister und Mammographiescreening

Kohortenstudien mit ergänzenden Individualdaten

desweit 5 Referenzzentren und 94 Screeningeinheiten aufgebaut. Struktur- und Prozessqualität lassen sich mit etablierten Werkzeugen der Qualitätssicherung ohne relevanten Zeitverzug evaluieren. Die Evaluation der Ergebnisqualität hingegen ist wesentlich diffiziler und bedarf eines längeren Zeitraums. Dabei ist eine zeitliche Untergliederung in verschiedene Phasen sinnvoll (. Tab. 3; [6]).

Brustkrebsinzidenzrate und Tumorstadienverteilung (Phase I) Wie erwartet konnte ein deutlicher Anstieg der bundesweiten Brustkrebsinzidenzrate bereits festgestellt werden. Das Robert-Koch-Institut berichtete vor Einführung des Mammographiescreening-

Zusammenfassung · Abstract programms bundesweit noch von einer Brustkrebsneuerkrankungsrate von rund 50.000 Fällen jährlich. Nach Einführung des Mammographiescreeningprogramms wird vom Robert-Koch-Institut für 2012 eine gesteigerte Inzidenz von bis zu 74.000 Fällen angenommen. Gleichzeitig zeigen Vergleichsdaten von Screeningteilnehmerinnen mit Daten der bevölkerungsbezogenen Krebsregister vor Einführung des Mammographiescreeningprogramms auch eine günstigere Tumorstadienverteilung für Screeningteilnehmerinnen (. Abb. 1; [9]).

Intervallkarzinomraten (Phase II) Die Intervallkarzinomrate ist ein Maß für die Effektivität eines Screeningprogramms und abhängig von der Sensitivität der individuellen Mammographiebefundung wie auch von der allgemeinen Programmsensitivität. Grundsätzlich bezeichnet der Begriff „Intervallkarzinom“ die Diagnose eines Mammakarzinoms bei einer Screeningteilnehmerin außerhalb des Screeningprogramms. Darunter fallen Brustkrebsfälle unabhängig davon, ob sie nach einer unauffälligen Screeninguntersuchung neu entstanden sind (sog. echte Intervallkarzinome) oder ob sie zum Zeitpunkt der Screeninguntersuchung bereits apparatetechnisch nachweisbar gewesen wären (sog. Minimalzeichen bzw. falschnegative Befunde). Um eine Mammakarzinomerkrankung in der Zielbevölkerung als Intervallkarzinom zu identifizieren, bedarf es eines standardisierten Abgleichs zwischen Screeningprogramm und regionalen Krebsregistern auf der Basis eines komplexen Zusammenspiels unter Berücksichtigung der föderalen Krebsregister- und Datenschutzgesetze. Dem zeitlichen Ablauf zufolge müsste das Mammographiescreeningprogramm die Phase II (. Tab. 3) bereits erreicht haben, in der die Intervallkarzinomraten evaluiert werden können. Die für einen standardisierten Krebsregisterabgleich erforderlichen landesrechtlichen Grundlagen wurden jedoch erstmals 2012 für das Saarland geschaffen. Ende 2012 wurden erste Studienergebnisse zu Intervallkarzinomraten in NordrheinWestfalen als bevölkerungsreichstem

Radiologe 2014 · 54:205–210  DOI 10.1007/s00117-013-2581-7 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 K. Bock · S. Heywang-Köbrunner · L. Regitz-Jedermann · G. Hecht · V. Kääb-Sanyal

Mammographiescreening in Deutschland. Aktuelle Ergebnisse und zukünftige Herausforderungen Zusammenfassung Das Kernkonzept des Mammographiescreeningprogramms beruht auf der Erwartung, dass die Vorverlegung der Brustkrebsdiagnose in eine präklinische Phase eine geringer invasive Behandlung ermöglicht mit prognostisch günstigerem Krankheitsverlauf, als bei Diagnose in einem späteren Tumorstadium. Randomisierte kontrollierte Studien konnten vor Einführung europaweiter Screeningprogramme zeigen, dass durch ein bevölkerungsbezogenes Mammographiescreeningprogramm die Brustkrebssterblichkeit um 25–30% gesenkt werden kann. Die nachfolgenden etablierten Programme konnten inzwischen bestätigen, dass der Nutzen der Früherkennungsprogramme mit dem Pro-

gramm verbundene Risiken deutlich überwiegt. Auch wenn das vergleichsweise junge deutsche Mammographiescreeningprogramm noch vor der Herausforderung steht, die Wirksamkeit hinsichtlich der Mortalitätsreduktion nachzuweisen, bestätigen kontinuierliche Evaluationen und Optimierungen hinsichtlich Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität eine hohe Qualität des bundesweiten Programms. Schlüsselwörter Brustkrebsdiagnose · Mortalitätsevaluation · Intervallkarzinome · Überdiagnosen ·   Falsch-positiv

Mammography screening in Germany. Current results and future challenges Abstract The concept of mammography screening is based on the expectation that early diagnosis in a preclinical tumor stage enables less invasive treatment with a better prognosis than detection in advanced tumor stages. Mammography screening was implemented in European countries after results from large randomized controlled trials showed that regular screening led to a significant reduction in breast cancer mortality by 25-30%. Recently, a major review of breast cancer screening services in Europe concluded that the benefits of screening clearly outweighed the disadvantages. In comparison to other Europe-

Bundesland publiziert, für die Startphase des Programms aus den Jahren 2005– 2008 [5]. Über ein speziell anonymisiertes Verfahren zum Datenabgleich konnten vergleichbare günstige Intervallkarzinomraten gefunden werden (. Tab. 4) wie in anderen etablierten europäischen Mammographiescreeningprogrammen [20]. Inwieweit die bundesweite Evaluation der Intervallkarzinomraten zeitnah umgesetzt werden kann und ob diese positiven Ergebnisse bestätigt werden können, bleibt derzeit noch eine offene Herausforderung.

an screening nations the German mammography screening program is relatively new. The challenge to prove the effectiveness by reduction in mortality still has to be solved. Continuous evaluation and optimization concerning the quality of structure, processes and results already confirm the high quality of the nationwide German screening services. Keywords Breast cancer diagnosis · Mortality rate ·   Interval cancers · Overdiagnosis ·   False positive

Mortalitätsevaluation (Phase IV) Aufgrund der Größe in Zusammenhang mit der föderalen Struktur des deutschen Gesundheitssystems erfolgte eine schrittweise Einführung des flächendeckenden Mammographiescreeningprogramms über einen Gesamtzeitraum von 5 Jahren, sodass derzeit bundesweit vorliegende Daten aus unterschiedlichen Phasen des Programms stammen. Bei Einführung des bundesweiten Mammographiescreeningprogramms wurden nicht in allen Bundesländern regionale Krebsregister geführt, wodurch Angaben zur Hintergrundinzidenz, der Der Radiologe 3 · 2014 

| 207

Leitthema: Mammadiagnostik

100

0,3

18,8

Anteil von allen invasiven Kazinomen [%]

90

20,1

22,4 80

0,2

0,0

70

0,4

0,1

7,2

43,8

23,6

0,0 22,7

23,0

60

0,3

0,7 0,4

50

>50%**

2,3

40

22,2

21,9

34,9

34,5

2008–2009 Folgeuntersuchungen

2010 Folgeuntersuchungen

21,5

30

32,4

>30%*

20 31,8

10

14,4

0 2010 Erstuntersuchungen Zielbevölkerung Screening

2000–2005 Zielbevölkerung

T1ab (inkl. T1mic)

T1c

T1ab (inkl. T1mic)

T1c1,5×IR%*

1,5

1,0

0,5

0

0

0,5

1,0

1,5

2,0

2,5

3,0

3,5

4,0

4,5

Wiedereinbestellungsrate [%] Anzahl Folgeuntersuchungen: 40.000

208 | 

T2-4

[Mammography screening in Germany. Current results and future challenges].

The concept of mammography screening is based on the expectation that early diagnosis in a preclinical tumor stage enables less invasive treatment wit...
547KB Sizes 0 Downloads 3 Views