Editorial

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Maligne Hyperthermie - eine Systemerkrankung? J. Schulte am Esch

Seit der Erstbeschreibung der malignen Hyperthermie (MH) durch Denborough und Love11 (1960) (1) als ein spezielles Krankheitsbild mit einem eigenen pathogenetischen Prinzip wurde in den darauffolgenden 2 Jahrzehnten die Diagnostik der fulminanten MH-Krise und deren Soforttherapie mit Dantrolen Bestandteil des Grundwissens eines jeden Anästhesisten. Zu diesem Grundwissen gehört mittlerweile auch, daf3 es sich bei der M H um einen genetischen Defekt der Kalziumhomöostase mit einer begleitenden hypermetabolischen Stoffwechselentgleisung handelt, der durch klassische Trigger wie volatile Inhalationsanästhetika und depolarisierende Muskelrelaxanzien, aber auch durch andere Faktoren ausgelöst werden kann. Ungeklärt ist bislang noch die Frage nach der Initialzündung der der M H zugrundeliegenden Kalziumregulauonsstöning. Ohne an dieser Stelle auf die Fülle der heute zu diskutierenden Befunde (s. Übersichtsarbeit von Roewer [4]) eingehen zu wollen, ist eine interessante Erklärung für die Dysregulation des intrazellulären Kalziumspiegels die ,Second MessengerU-Theorie,nach der eine Inositolphosphat-induzierte Aktivierung der Kalziumfreisetzungskanäle des sarkoplasmatischen Retikulums (SR) erfolgt. In Skelettund Herzmuskulatur konnten Scholz und Mitarb. ( 5 ) einen höheren Inositolphosphat-Gehalt nachweisen. Diese Befunde weisen darauf hin, daß der Inositolphosphat-Stoffwechsel möglicherweise ursächlich an der Entstehung der M H beteiligt ist. Interessante Gesichtspunkte ergeben sich auch aus molekulargenetischen Untersuchungen, die beim Menschen und beim Schwein einen gemeinsamen Genlocus für den MH-Defekt nachweisen konnten, der identisch mit dem Ryanodinrezeptor sein soll. Der Ryanodinraeptor ist ein Kalziumfreisetzungskanal arn SR und kann daher eng in Zusammenhang mit pathogenetischen Betrachtungen der M H gebracht werden. Diese molekulargenetische Genlocusidentifikation wird möglicherweise auch dazu fuhren, daß im Rahmen einer DNA-Analyse peripherer Blutzellen eine nicht-invasive Methode zur MH-Diagnostik in Zukunft aufgebaut wird (4). Die Identifizierung der MH-Veranlagung stellt immer noch eine der größten Problemfragen im Zusammenhang mit der M H dar. Auch heute ist die präoperative Identifizierung durch in der Aussage eindeutige, einfach durchzuführende, nicht-invasive Screeningtests nicht möglich. Nach wie vor ist die Eigen- und Farnilienanarnnese des

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Patienten und damit die Erfassung von MH-Risikofaktoren von hoher Bedeutung. Feststellbar ist, daß alle in den vergangenen Jahren vorgeschlagenen Testmethoden, wie z. B. der Thrombozytentest, zum Nachweis der MH-Anlage nicht ausreichend aussagekriftig waren. Dies zeigt eindrucksvoll die Kasuistik von Hartung und Mitarb. (2). Derzeit ist der von der ,European Malignant Hyperthermia Group" definierte In-vitro-Kontrakturtest mit Halothan und Koffein die einzig verläi3liche diagnostische Möglichkeit, eine MH-Veranlagung nachzuweisen. In diesem Zusammenhang zeigt der Beitrag von Lenzen und Mitarb. (3) eine neue Perspektive auf: Die Autoren machen sich den möglicherweise gemeinsamen Genlocus für den MH-Defekt und den Ryanodinrezeptor zu Nutze und erzielen durch Ryanodinzugabe bei der in-vitro-Kontrakturtestung von Patienten-Muskelproben eine höhere Spezifität. Hieraus ergibt sich auch die Möglichkeit der eindeutigeren Zuordnung der MHE (MH-,,equivocalU)-Zwischengruppe in MHN (MH-„non-susceptible") oder MHS (MH-„susceptible"). Eine nach wie vor bestehende Herausforderung ist die pathogenetische Klärung der abortiven MH-Formen, des Masseterspasmus und MH-ähnlicher Krankheitsbilder. Es gilt, in der Zukunft eindeutige Aussagen darüber zu machen, ob Todesfälle nach extremer körperlicher Belastung, nach Alkohol- bzw. Kokainabusus sowie Fälle mit lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen bei MH-Disposition sowie plötzliche Herztodesfälle bei jungen herzgeSunden Patienten bis hin zum ,Sudden Infant Death Syndrome" (SIDS) dem grundsätzlichen Krankheitsbild M H zuzuordnen sind oder nicht. Dies hängt von der zukünftigen Weiterentwicklung nicht-invasiverMH-Tests ab. Eine immer noch kontrovers diskutierte Problematik stellt die präoperative Prophylaxe der M H mit Dantrolen dar. Es ist eine vertretbare Argumentation, bei bekannter MH-Gefahrdung eine Narkose ohne intravenöse Dantrolenprophylaxe durchzuführen, wenn eine angemessene Überwachung U. a. mittels Kapnometne und Pulsoximetrie sichergestellt und eine pharmakotriggerfreie Anästhesie durchgeführt wird. Eine dennoch durch andere Faktoren ausgelöste MH-Krise Iäßt sich durch dieses Monitoring frühzeitig erkennen und mit einer konsequent dosierten Dantrolentherapie sofort beherrschen. In Europa spricht man sich mittlerweile überwiegend gegen eine präoperative Dantrolenprophylaxe aus. Zu diesem Thema nimmt auch die Arbeit von SchulteSasse und Eberlein ( 6 )Stellung. Entgegen der Auffassung der letzten 30 Jahre, daß die M H überwiegend mit einer Abnormität der quergestreiften Skelettmuskulatur einhergeht, muß nach neueren Befunden eine zusätzliche primäre Beteiligung an-

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Abteilunghir~nästhesiologie, Universitits-KrankenhausEppendorf, Hamburg

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Nach wie vor ist die M H die facettenreichste Erkrankung, die durch anästhesiologische Tätigkeit ausgelöst werden kann, und deren Aufklärung für Anästhesisten eine besondere Herausforderung bleibt.

Literatur

' Denborough, M . A., R R H. Lovell: Anaesthetics deaths in a family.

'

Lancet I1 (1960) 45 Hartung, E., I. Preis, W . Engelhardt, R Krauqe: Fallbericht: Maligne Hyperthermie Diagnostik: Thrombocytentest versus In-vitro-Kontraktionstest (CHCT). Anästh. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 26 (1991) 472-475 Lenzen, Ch., N . Roewer,]. Scholz, E. Rumberger,]. Schulte um Esch: Ryanodininduzierte Kontrakturen zur Diagnose der Maligne-Hyperthermie-Veranlagung. Anästh. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 26 (1991) 459-464 Roewer, N.: Maligne Hyperthermie heute. Anästh. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 26 (1991) 431-449 Schok, J., N. Roewer, M . Patten, W.Schmitz, H. Scho&]. Schulteum Esch: ,Maligne Hyperthermie und Inositolphosphat-Stofhechsel in Her¿- und Skelettmuskulatur. Anästh. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 26 (1991) 450-453 Schulte-Sasse, U., H.-]. Eberkin: Ein Beitrag zur Beseitigung von Meinungsverschiedenheiten auf dem Gebiet der Malignen Hyperthermie. Anästh. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 26 (1991) 464-467

Prof Dr. J. Schulte am Esch Dir. d. Abt. f. Anästhesiologie Universitäts-Krankenhaus Eppendorf Martinistraße 52 D-2000 Hamburg 20

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derer Organ- und Zellsysteme als sehr wahrscheinlich angenommen werden. Die Hinweise auf eine Primärbeteiligung des Herzens, des zentralen Nervensystems und von Blutzellen bei der MH legen einen systemisch-genetischen Defekt in sämtlichen Körperzellen nahe. Nach dem heutigen Kenntnisstand ist aus der eingangs gestellten Frage ,,Maligne Hyperthermie - eine Systemerkrankung?" eine nach unserer Ansicht zulässige Feststellung geworden. Auf dieser Grundlage wird die zukünftige MH-Forschung unter Berücksichtigung molekulargenetischer und intrazellulärer Befunde neue Erkenntnisse und klinische Fortschritte im Bereich der Identifizierung der MH-Veranlagung, der Aufklärung MH-ahnlicher Krankheitsbilder und in der MH-Prophylaxe erbringen.

J. Schulte um Esch: Maligne Hyperthermie

[Malignant hyperthermia--a systemic disease?].

Editorial 429 Maligne Hyperthermie - eine Systemerkrankung? J. Schulte am Esch Seit der Erstbeschreibung der malignen Hyperthermie (MH) durch Denbo...
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