Rudolf Schiedermair

Rechts- und gesundheitspolitische Aspekte der Fhytotheraiie I

I.

Zu den wichtigsten, unverzichtbaren Hilfen in der Hand des Arztes gehoren die Arzneimittel, interessanterweise ist aber unser Arzneimittelgesetz ganz junges Recht. Sehr lange Zeit galt der Grundsatz, dai3 den Apotheker die volle Verantwortung fur das von ihm abgegebene Arzneimittel treffen mufl. Daher wurde fur regelungsbedurftig lediglich die Frage gehalten, welche Arzneimittel als toxikologisch unbedenklich auch auflerhalb der Apotheken vertrieben werden durften. Diese Regelung fand sich aufgrund einer Ermachtigung der Gewerbeordnung in einer Rechtsverordnung, fur die sich die Bezeichnung ,,Kaiserliche Verordnung" einburgerte. Diese Verordnung erhielt 1872 ihre erste und 1901 ihre letzte Fassung, die bis 30.9.1969 in Kraft war und somit nahezu ein Jahrhundert das deutsche arzneimittelrechtliche ,,Grundgesetz" bildete [I]. Daneben waren landesrechtlich lediglich die Bestimmungen uber die Herstellung von Seren und Impfstoffen von allgemeiner Bedeutung. Ein neuer Abschnitt in der Entwicklung des Arzneimittelrechts bahnte sich aber bereits 1928 an, als das damalige Reichgesundheitsamt den Entwurf fur ein allgemeines Arzneimittelgesetz vorlegte. Der damalige Entwurf wurde nicht Gesetz, es kam auf Reichsebene lediglich z u Teilregelungen, 2.B.: Opiumgesetz von 1929 [2], Regelung des Verkehrs mit verschreibungspflichtigen Arzneimit-

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teln [3] oder Ordnung des Heilmittel-Werberechts [4]. Auf den Entwurf von 1928 und seine spateren Verbesserungen von 1931, 1933 und 1938 wurde aber zuriickgegriffen, als 1952 der damals zustandige Bundesminister des Innern erneut daran ging, einen Entwurf fur ein Arzneimittelgesetz vorzubereiten. Die Arbeiten an diesem Entwurf wurden durch die Einfuhrung der Niederlassungsfreiheit im Apothekenwesen [5] unterbrochen, 1958 aber wieder aufgenommen. Noch im gleichen Jahr wurde das formliche Gesetzgebungsverfahren [6] eingeleitet, aber erst 1961 abgeschlossen. Das Gesetz erhielt die Bezeichnung ,,Gesetz uber den Verkehr rnit Arzneimitteln" (Arzneirnittelgesetz AMG) und ist - abgesehen von mehreren Sonderbestimmungen, vgl. 63 AMG - am 1.8. 1961 in Kraft getreten.

s

Das AMG von 1961 stellt das geltende Arzneimittelrecht dar. Das Gesetz ist nicht etwa als Gesetz zur staatlichen Forderung der Arzneimittelforschung oder -herstellung konzipiert, sondern als ein Sicherheitsgesetz, d. h. als ein Gesetz zur Abwehr von Gefahren, die von Arzneimitteln ausgehen konnen. Zu seinen wesentlichen Grundsatzen gehoren das Sachkundeerfordernis fur den Arzneimittelhersteller, die Eignung der Betriebsraume und Einrichtungen und damit verbunden die Einfuhrung der Herstellungserlaubnis. Ferner fuhrte das AMG die Registrierungspflicht fur Arzneispezialitaten ein. Das AMG von 1961 verzichtet aber bewuflt auf die Prufung der therapeutischen Wirksamkeit des einzelnen Praparats und legt den Schwerpunkt der staatlichen Einflugnahme auf die Oberwachung und die individuelle Repres-

[3] Verordnung uber den Verkehr mit Arzneimitteln, soweit sie der arztlichen Verschreibungspflicht unterliegen, vom 13. 3. 1941 (RGBI. I, S. 136). [4] Polizei-Verordnung uber die Werbung auf dem Gebiete des Heilwesens vom 29.9. 1941 (RGBI. I, S. 587).

[11 Einzelheiten bei Schiedermair, Die Kaiserliche Verordnung, in Pharm. Ztg. 114,1590 ff. (1969).

[5] Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 11.6.1958 (BVerfGE 7, 377); vgl. auch die umfassende Darstellung bei Schiedermair-Pie&, Apothekengesetz, Kommentar und Materialien, 2.Aufl. 1974, S.45 ff.

[2] Gesetz uber den Verkehr mit Betaubungsmitteln (Opiumgesetz) vom 10. 12. 1929 (RGB1. I, S. 215) rnit spateren Anderungen.

[6] Vgl. zum Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens Bernhardt, Arzneimittelgesetz, Kommentar, 1961, S. 38 ff.

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sion, die durch Verdachtsmomente ausgelost wird. Der Gesetzgeber des Jahres 1961 stellte sich auf den Standpunkt, dai3 die Arzneimittelsicherheit durch folgende Mafinahmen gewahrleistet werde: 1. durch das durch Strafbestimmungen abgesicherte Verbot, gesundheitsschadliche Arzneimittel in den Verkehr z u bringen, vgl. 5 6 iVm. 5 44 AMG, 2. durch das weitere, ebenfalls durch Strafandrohung bewehrte Verbot, Arzneimittel zu verfalschen oder unter irrefuhrender Bezeichnung, Angabe oder Aufmachung, also mit sachlich unzutreffenden Indikationen in den Verkehr zu bringen, vgl. 5 8 iVm. 5 44 AMG, und

3. durch die Beibehaltung der.fur die Abgabe an den Verbraucher bereits eingefuhrten drei Sicherungsstufen: Rezeptpflicht, Apothekenpflicht (ohne Rezeptzwang) und Freiverkauflichkeit. Das alles mui3 erwahnt werden, weil die jetzt geltende Regelung fur die Zulassigkeit neuer Bestimmungen, insbesondere fur die Ubergangsbestimmungen, von rechtlicher Bedeutung ist. Bei diesem nach der Kaiserlichen Verordnung fruher und nach dem AMG von 1961 jetzt geltenden arzneimittelrechtlichen System konnte das Problem J'hytotherapeutika" nicht auftreten. Es ergab sich aber de facto, dai3 die Phytotherapeutika weit uberwiegend aus den Pflanzen hergestellt werden, die in den sogenannten Pflanzenfreilisten aufgefuhrt sind [7], dai3 sie somit als ,,mild" wirkend eingestuft wurden und dafl sie folgerichtig nicht verschreibungspflichtig sind, d. h. der Gesetzgeber hat anerkannt, dai3 mit ihrer Anwendung kein ins Gewicht falfendes Sicherheitsrisiko fur den Patienten verbunden ist. Unter diese Gruppe von Praparaten fallen auch die Kneipp-Heilmittel. 11.

Das geltende AMG soll - veranlaat durch Richtlinien der E G - durch ein neues AMG [8] ersetzt werden. Der jetzt zustandige Bundesminister fur Jugend, Familie und Gesund-

[7] Vgl. die Verordnung uber die Zulassung von Arzneimitteln fur den Verkehr aui3erhalb der Apotheken vom 19.9.1969 (BGB1. I, S. 1651) und die dazu erlassenen Anlagen I c , I d und l e .

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heit (BMJFG) hat sich bei seinem Entwurf am synthetischen Arzneimittel, am klinischen Patienten und am ,,Contergan-Fall" orientiert. Der Kern des neuen AMG soll darin bestehen, dai3 ein Hersteller nicht wie bisher ein Arzneimittel in eigener Verantwortung in den Verkehr bringen kann, sondern dai3 das Arzneimittel einer besonderen behordlichen Zulassung bedarf. Die Erteilung der Zulassung soll davon abhangig sein, dai3 das Arzneimittel die erforderliche Qualit a t aufweist, dai3 es bei den vom Hersteller angegebenen Anwendungsgebieten ausreichende Wirksamkeit besitzt und dai3 im toxikologischen Sinn Unbedenklichkeit gegeben ist. Diese drei Erfordernisse werden unter dem Sammelbegriff Arzneimittelsicherheit zusammengefai3t. Der Arzneimittelbegriff, der rechtliche Ausgangsbegriff fur den Gesamtentwurf, baut auf dem Stoffbegriff im naturwissenschaftlichen Sinn auf. Dementsprechend gehoren nach 3 des Entwurfs zu den Stoffen auch Pflanzen, Pflanzenteile und Pflanzenbestandteile. Bereits hier ergibt sich ein rechtliches Problem und zwar fur die Pflanzen, die als Lebensmittel oder als Arzneimittel Verwendung finden konnen; so ware nach dem Entwurf 2.B. Pfefferminze in jedem Fall Arzneimittel und nicht mehr - wie jetzt meistens Lebensmittel. Es sollte daher im Gesetz bestimmt werden, dai3 Pflanzen, Pflanzenteile und -bestandteile erst dann Arzneimittel im Rechtssinne sind, wenn sie von einem Arzneimittelhersteller zur Verwendung als Arzneimittel bestimmt werden. 1st diese Bestimmung zum Arzneimittel vorgenommen, dann mussen sich aus dem Erfordernis des Wirksamkeitsnachweises weitere Rechtsprobleme ergeben; denn es steht fest, daf3 bei der Mehrzahl der Phytotherapeutika ein die Therapie bestimmender, reicher arztlicher Erfahrungsschatz zur Verfugung steht, dai3 sich aber die Naturwissenschaft bisher zu wenig mit diesen Arzneimitteln befafit hat. Besondere Schwierigkeiten ergeben sich dabei - trotz oft jahrhundertelanger erfolgreicher Erprobung, also trotz eines Langzeitversuchs am Menschen selbst fur die Praparate, die sich bereits im Verkehr befinden; fur sie hat sich die Bezeichnung ,,Alt-Praparate" eingeburgert. Zur Nachholung des Wirksamkeitsnachweises ist eine

[8] Vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Bundestagsdrucksache 713060.

Obergangsfrist von 12 Jahren vorgesehen. Gelingt dieser Nachweis bis dahin nicht, dann wird das Praparat gesperrt. Sollen Phytotherapeutika daher auch nach Ablauf der 12 Jahre dem Arzt und seinem Patienten zur Verfugung stehen, dann bedarf es bereits jetzt, d. h. in dem kommenden neuen AMG, bestimmter Sonderregelungen. Sie sollen nachfolgend skizziert werden: 1. Der Gesetzentwurf verwendet - in Art. 3 7 Abs. 4 - den Ausdruck ,,Phytotherapeutisches Arzneimittel", fugt aber keine Definition hinzu. Das ist ein echter, rechtserheblicher Mangel, denn er fuhrt zwangslaufig zu Rechtsunsicherheit, und diese ist ebenso bedenklich wie Arzneimittel-Unsicherheit. Obereinstimmung besteht daruber, dai3 es Arzneimittel pflanzlicher Herkunft sind. Begrifflich ebenso wichtig ist aber, dafi diese Arzneimittel mit ihren Wirkstoffen in ihrer von Natur aus komplexen Zusammensetzung in den Verkehr gebracht werden. Dazu kommt ein drittes Begriffselement: Gesetzliche Sonderregelungen werden nicht fur alle Arzneimittel pflanzlicher Herkunft erstrebt, sondern nur fur die Gruppe, die toxikologisch neutral, also unbedenklich im sicherheitsrechtlichen Sinne ist. Mit dieser Beschrankung wird die Verwendung der Bezeichnung ,,Phytotherapeutisches Arzneimittel" naturwissenschaftlich ungenau, denn in diesem Sinne sind Digitalis-, Cannabisoder Rauwolfia-Praparate in komplexer Zusammensetzung ebenso Phytopharmaka wie Folia Melissae, Fructus Foeniculi oder Herba Thymi. Da die fruher ubliche Aufgliederung in ,,mild-" und ,,starkwirkende" Mittel naturwissenschaftlich mehr und mehr aufgegeben wird, wird das Unterscheidungsmerkmal rechtlich gewonnen werden mussen. Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet kame die Bezeichnung verschreibungsfreie phytotherapeutische Arzneimittel [9] in Betracht, d.h. aus der Gesamtheit der Phytotherapeutika die Gruppe, bei der - wie sich der Gesetzentwurf in 934 Abs. 1 Nr.4 ausgedruckt - eine unmittelbare oder mittelbare Gefahrdung der menschlichen Gesundheit nicht zu befurchten ist. Eine dieser Abgrenzung entsprechende Definition sollte in das Gesetz ubernommen werden. 2. Das Grundgesetz (GG) erhebt in seinem Art. 3 das Gleichheitsprinzip zum Verfassungsgrundsatz. Dieser Grundsatz verpflich-

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tet den Gesetzgeber, Gleiches gleich zu behandeln [lo]. Damit ist ein rechtliches Kernproblem angesprochen, das in die Frage ausmiindet: 1st Arzneimittel gleich Arzneimittel? Der Gesetzgeber selbst hat diese Frage bereits an anderer Stelle beantwortet, denn er hat 2.B. die Opiate von den ubrigen Arzneimitteln abgetrennt und ein besonderes Betaubungsmittelgesetz [I 11 geschaffen; er hat ferner den in der Verschiedenheit des Sicherheitsrisikos begrundeten Unterschied zwischen rezeptpflichtigen, apothekenpflichtigen und freiverkauflichen Arzneimitteln eingefuhrt, und er hat im geltenden AMG von 1961 den Unterschied zwischen den Arzneispezialitaten und den Generics legalisiert. Damit stellt sich die weitere Frage: Besteht in verfassungsrechtlichem Sinne Gleichheit zwischen den Synthetika und den Phytotherapeutika? Diese fur die Zukunft der verschreibungsfreien Phytotherapeutika entscheidende Frage ist zu verneinen. In rechtlicher Hinsicht ist dabei an die Facta anzuknupfen. Der Unterschied besteht also in erster Linie in der pflanzlichen Herkunft in Verbindung mit der Anwendung in komplexer Zusammensetzung. Er besteht ferner in dem - bereits erwahnten - wissenschaftlichen Defizit, das es dem Hersteller 2.2. oft unmoglich macht, anderes als arztliches Erfahrungsmaterial einzureichen. Dazu kommt als weiterer Unterschied, dai3 dieses arztliche Erfahrungsmaterial, das auf der Anwendung am Menschen selbst beruht und oft Generationen zuriickreicht, fur das Fehlen toxischer Effekte und schadlicher Nebenwirkungen spricht. Und schliei3lich besteht der rechtserhebliche Unterschied, dai3 die Durchfiih-

[9] In ahnlicher Weise hat der Gesetzgeber ,,starkwirkend" durch ,,verschreibungspflichtig" ersetzt, vgl. Verordnung nach § 35 des Arzneimittelgesetzes uber verschreibungspflichtige Arzneimittel vom 7.8.1968 (BGBI. I, S. 914) mit spateren Anderungen. [lo] Art. 3 G G ist durch eine Reihe von Entscheidungen des BVerfG allgemeinverbindlich interpretiert, vgl. z. B. die systematische Ubersicht bei Leibholz-Rinck, Kommentar zum GG Rdnr. 1ff zu Art. 3 GG.

[ll] Gesetz uber den Verkehr mit Betaubungsmitteln (Betaubungsmittelgesetz) i. d. F. der Bekanntmachung vom 10.1.1972 (BGBI. I, s. 1).

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r u n g klinischer Versuche auf besondere Schwierigkeiten stofit, die bei den Synthetika nicht gegeben sind. Rechtlich ohne Bedeutung ist in diesem Zusammenhang, ob auch die - im Verhaltnis zu einem Synthetikum - anzunehmende Andersartigkeit der Einwirkung auf die Funktionen des menschlichen Korpers, die von einer Heilpflanze in komplexer Zusammensetzung ausgeht, wissenschaftlich erschopfend geklart ist oder nicht. Die aufgezeigten Unterschiede geniigen, um fur den Gesetzgeber Gleichheit der Ausgangsfakta auszuschlieflen. Das bedeutet im Ergebnis: Der Gesetzgeber ist durch den Gleichheitsgrundsatz nicht gehindert, in das kommende AMG Bestimmungen aufzunehmen, die sich nur auf die verschreibungsfreien Phytotherapeutika, nicht aber gleichzeitig auch auf die Synthetika beziehen. Damit mui3 aber gleichzeitig die zu Art. 3 GG entwickelte Grundregel zum Zuge kommen, dai3 der Gesetzgeber gehalten ist, Ungleiches seiner Eigenart entsprechend verschiedcn zu behandeln [12]. Das BVerfG spricht von dem ,,dem Gleichheitssatz immanenten Gebot, Ungleiches seiner Ungleichheit entsprechend verschieden zu behandeln" [13]. Der Gesetzgeber hat somit nicht nur verfassungsrechtlich die Moglichkeit, den Besonderheiten der verschreibungsfreien Phytotherapeutika Rechnung zu tragen, sondern er ist d a m verpflichtet, d. h. also, der Gesetzgeber mufl z. B. bei den gesetzlichen Bestimmungen uber den Wirksamkeitsnachweis das z. 2. noch gegebene Forschungsdefizit und ebenso die langjahrige Bewahrung eines Praparats berucksichtigen. Die fur die Phytotherapeutika bereits vorgesehene Ubergangsfrist ist daher verfassungskonform. Zum Wesen der verschreibungsfreien Phytotherapeutischen Arzneimittel gehort - wie dargelegt - die therapeutische Breite. In Verbindung mit dem arztlichen Erfahrungsmaterial, das sicherheitsrechtlich neutral ist, ware es wieder verfassungskonform, derartige Praparate, bei denen in der Sprache des Verwaltungsrechts ,,kein Anlai3 zum Eingreifen" besteht, von der Zulassungspflicht freizustellen. Gesetzestechnisch konnte das durch eine Erganzung der in 5 20 Abs. 1 des Entwurfs vorgesehenen Freiliste erreicht werden. Will der Gesetzgeber aber so weit nicht gehen, dann bedurfen die gegebenen Beson-

derheiten in zweifacher Hinsicht der Berucksichtigung : Der Entwurf sieht bereits vor - vgl. § 21 Abs. 3 Nr. 1 -, da8 bei einem Arzneimittel, dessen Wirkungen und Nebenwirkungen bereits bekannt und aus dem wissenschaftlichen Erkenntnismaterial ersichtlich sind, anstelle der Ergebnisse der pharmakologischen und toxikologischen Versuche und der klinischen Erprobung anderes wissenschaftliches Erkenntnismaterial vorgelegt werden kann, um die Zulassung eines Praparates zu crreichen. Das erweckt den Eindruck, als sollte das normale arztliche Erfahrungsmaterial als ausreichend angesehen werden. Das ist jedoch nicht der Fall, denn in einer spateren Bestimmung - es ist $24 Abs. 2 - heii3t es, dafl ,,anderes" wissenschaftliches Erkenntnismaterial nur dann in Betracht kommt, wenn es den allgemeinen Arzneiprufrichtlinien entspricht und nach wissenschaftlichen Methoden aufbereitet ist. Diese Einschrankung, die in erster Linie die verschreibungsfreien phytotherapeutischen Arzneimittel trifft, wurde daher auch vom Bundesrat kritisiert [14]; denn sie schlieflt im Ergebnis das arztliche Erfahrungsmaterial aus. Sie sollte daher gestrichen werden.

Die Besonderheiten der verschreibungsfreien phytotherapeutischen Arzneimittel sollen in den Arzneipriifrichtlinien Berucksichtigung finden, und diese sollen als Verwaltungsvorschriften erlassen werden. Das ware die rechtlich schwachste Form, denn einmal wurde kein Rechtsanspruch auf eine solche Berucksichtigung begrundet, und aui3erdem sind Verwaltungsvorschriften keine Rechtsvorschriften, sondern lediglich an die Adresse der Vollzugsbehorden gerichtete und jederzeit abanderbare Weisungen. Der verfassungsrechtlichen Pflicht, den Besonderheiten der verschreibungsfreien phytotherapeutischen Arzneimittel Rechnung zu tragen, wurde nur dann entsprochen, wenn in das AMG selbst der Satz aufgenommen wiirde:

[12] Vgl. Leibholz-Rinck a.a.0. Rdnr. 2 zu Art. 3 GG unter Bezug auf die Rechtsprechung des BVerfG, hier insbesondere in BVerfGE 3,135f. und 4,243f. [13] BVerfGE 16,24 f . [141 Bundestagsdrucksache 7/3060 Anlage 2 unter Nr.23.

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In den Arzneimittelpriifrichtlinien ist den Besonderheiten der verschreibungsfreien phytotherapeutischen Arzneimittel Rechnung zu tragen. Damit wurde eine Rechtspflicht des BM JFG begriindet, und das ganze Problem ware aus dem Ermessensbereich herausgenommen.

fassungskonform sind. D a m liegt eine ausdriickliche Entscheidung desBVerfG vor [15]. Es bestehen somit keine volkerrechtlichen Bedenken, den Besonderheiten der verschreibungsfreien phytotherapeutischen Arzneimittel im kommenden AMG Rechnung zu tragen.

6. Lassen sich die Gesetzgebungsorgane von der Wichtigkeit der dargestellten Rechtsprobleme nicht iiberzeugen und wird der Entwurf der Bundesregierung Gesetz, dann ergibt sich die Frage, ob die vorgesehene 4. Der Gesetzentwurf sieht die Errichtung Obergangsfrist von 12 Jahren genugt, um eines Arzneimittel-Entschadigungsfonds alle mit dem Wirksamkeitsnachweis zusamvor, aus dem kunftig Entschadigungen fur menhangenden Forschungsprobleme zu loArzneimittel-Schaden geleistet werden. Dem sen. D a m kann keine sichere Prognose geFonds sollen alle Arzneimittel-Hersteller stellt werden, es spricht aber vieles dafiir, kraft Gesetzes und mit Beitragsverpflichtung dai3 die Frist nicht ausreichen wird. Das angehoren. Die Besonderheit sol1 darin be- wurde d a m fuhren, dai3 die betroffenen Prastehen, dafl die Entschadigung in jedem Fall, parate dem Forschungsdefizit zum Opfer also auch dann zu leisten ist, wenn den Her- fallen wurden. steller im Einzelfall kein Verschulden trifft. Damit wiirde von der allgemeinen Grund- Abhilfe konnte nur durch eine am Ende der 12-Jahresfrist vorzunehmende Gesetzesregel des Haftungsrechts abgewichen. anderung in dem schwierigen und langwieZwangsmitgliedschaft und Zwangsbeitrag rigen formlichen Gesetzgebungsverfahren sind intensive gesetzliche Eingriffe in die geschaffen werden. Die Hersteller verschreiGrundrechtssphare des einzelnen Pharma- bungsfreier phytotherapeutischer Arzneiherstellers. Solche Eingriffe setzen einen mittel haben daher angeregt, den BMJFG besonders hohen Gefahrdungsfaktor voraus, im Gesetz zu ermachtigen, die Frist im einder jedoch bei den verschreibungsfreien fachen Verordnungswege verlangern zu phytotherapeutischen Arzneimitteln - ihrem konnen. Ober diese Anregung ist noch nicht Wesen entsprechend - fehlt. Die rechtlichen entschieden. Voraussetzungen fur die geplanten gesetzlichen Zwangsmaflnahmen sind daher nicht 7. Und nun noch eine prophylaktische Begegeben. Die im Gesetzentwurf vorgesehene trachtung. Welche Moglichkeiten hat der Regelung mui3te auf die Hersteller von ,,Con- betroffene Hersteller, wenn der Gesetzgeber aus politischen Zielsetzungen den Besonderterganen" beschrankt werden. heiten der verschreibungsfreien phytotheraDer Bundesverband der Pharmazeutischen peutischen Arzneimittel im kommenden GeIndustrie hat den rechtlich korrekten Vor- setz nicht Rechnung tragt? schlag gemacht, das Haftungsproblem durch die Griindung eines Versicherungsvereins Die Antwort lautet: Jeder Hersteller hat das Recht, das Gesetz durch Erhebung der Verauf Gegenseitigkeit zu losen. fassungsbeschwerde der Normenkontrolle 5. Das Ziel mug nach dem Gesagten darin durch das BVerfG zu unterwerfen. bestehen, die Berucksichtigung der Besonderheiten der verschreibungsfreien phyto- Die Alt-Praparate wurden in der Regel vom therapeutischen Arzneimittel im kommenden Hersteller unter Kostenaufwand entwickelt, AMG zu verankern. Damit entsteht das wei- der Hersteller hat aui3erdem die zur Produktere Problem, ob eine solche Regelung mit den EG-Richtlinien vereinbar ware. Diese Frage ist volkerrechtlich zu bejahen. Das [15] Entscheidung des BVerfG vom 29.5. ergibt sich aus dem allgemeinen Grundsatz, 1974 (BVerfGE 37, 271; NJW 1974, 1697); dai3 EG-Richtlinien - ohne Rucksicht auf das im Ergebnis ebenso Scheuner, Zur OberSachgebiet - den Gesetzgeber nicht legitimie- gangsregelung fur Fertigarzneimittel, Rechtsren, Bestimmungen zu erlassen, die nicht ver- gutachten, 1975, unter VII.

Der zustandige Bundestagsausschufl ist auf dieses Rechtsproblem aufmerksam gemacht worden, der BMJFG hat sich die Anregung jedoch nicht zu eigen gemacht.

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tion erforderlichen Maschinen und sonstigen Gerate beschafft, hat die Xrzte-Information finanziert und hat sonstige Werbemahahmen getroffen. Er hat ferner die nach g 12 des jetzt geltenden AMG vorgeschriebene Herstellungserlaubnis erworben und hat das Arzneimittel in das Spezialitatenregister eintragen lassen. Der Hersteller hat sich legal verhalten, er muflte nicht damit rechnen, dai3 die erst 1961 geschaffene gesetzliche Ordnung grundlegend verandert wird. Ihm gegenuber wird daher durch die nachtragliche Einfiihrung der Zulassungspflicht fur AltPraparate der Grundsatz des Vertrauensschutzes [16] verletzt. Dieser Grundsatz ist wesentlicher Bestandteil der Rechtsstaatlichkeit und hat Verfassungscharakter. Seine Verletzung bedeutet daher eine Verletzung des

GG. D a m kommt: Das Arzneimittel hat sich eingefiihrt und erbringt einen laufenden Gewinn. Der Hersteller hat sich damit - wieder in legaler Weise - einen vermogenswerten Besitzstand geschaffen; dieser steht unter der Schutzgarantie des Art. 14 GG, die nicht nur dann zum Zuge kommt, wenn etwa ein Grundstuck enteignet wird, sondern alle Vermogenswerte umfai3t. Ein gesetzgeberischer Eingriff in legale Vermogenswerte ist an sich nicht ausgeschlossen, aber er setzt ein zwingendes uberwiegendes offentliches Interesse voraus. Daran fehlt es aber bei einem Praparat, das sich nach arztlicher Erfahrung therapeutisch bewahrt und sich toxikologisch als unbedenklich erwiesen hat. In dieser Hinsicht ist rechtlich von besonderer Bedeutung, dad das geltende AMG von 1961 die Behorden verpflichtet einzugreifen, wenn sich Anhaltspunkte dafur ergeben, da8 ein Arzneimittel gesundheitsschadlich wirkt, dai3 es mit nicht haltbaren Indikationen versehen ist oder dai3 es unter einer irrefuhrenden Bezeichnung oder Aufmachung in den Verkehr gebracht wird. Wenn seit 1961, also uber einen Zeitraum von vielen Jahren die Gesundheitsbehorden im individuellen Fall keinen Anlafl gehabt haben, von den genannten gesetzlichen Moglichkeiten Gebrauch zu machen, dann besteht - rechtsstaatlich betrachtet - auch fur den Gesetzgeber kein geniigender Anlafl zu einem generellen Eingriff. Diese Bedeutung der seit 1961 geltenden $ § 6 und 8 AMG wurde in der bisheri-

[16] Vgl. d a m BVerfGE 18, 1351143 und 25,371/406.

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gen Diskussion uber den Gesetzentwurf vernachlassigt, sie wiirde aber vor dem BVerfG eine erhebliche Rolle spielen. Denn: Die verschreibungsfreien phytotherapeutischen Arzneimittel haben keine Veranlassung dazu gegeben, sie nachtraglich der Zulassungspflicht zu unterwerfen. Bleibt es daher bei der jetzigen Fassung der Obergangsbestimmungen, dann wurde der Gesetzgeber gegen den Grundsatz der Verhaltnismafligkeit verstoflen [17], der - ebenso wie der Grundsatz des Vertrauensschutzes - zu den Verfassungsgrundsatzen gehort und in Art. 20 G G verankert ist. Aus diesen Grunden ist auch der neuere Vorschlag des BMJFG, die Alt-Praparate in 21 Gruppen einzuteilen, zu denen allgemeine Kriterien aufgestellt werden, bei deren Erfullung die Nachzulassung erteilt wird, verfassungsrechtlich bedenklich; denn die bisher unbeanstandet gebliebenen Alt-Praparate geben auch zu dieser Prufung und damit zu einem Eingriff in einen legalen Zustand keinen Anlat3. Es ware daher riehtig, bei Alt-Praparaten die allgemeine zwangsweise Nachholung des Zulassungsverfahrens zu streichen und das Zulassungsverfahren nur bei solchen Praparaten zu verlangen, deren Bezeichnung, Angabe, Aufmachung oder Wirkung im Einzelfall Anlai3 zu Bedenken geben. In diesem Zusammenhang spielt auch die Erhaltung der arztlichen Therapiefreiheit eine Rolle, denn auch sie ist grundrecht-geschutzt - es handelt sieh um das Grundrecht aus Art. 12 G G auf freie berufliche Betatigung - und sie wurde verletzt, wenn dem Arzt plotzlich von staatswegen ein wesentlicher Teil der Praparate, 2.B. verschreibungsfreie phytotherapeutische Arzneimittel, entzogen wiirde, mit denen er bisher therapeutisch erfolgreich war. Zu dieser speziell

[17] Dazu grundlegend BVerfGE 7, 377/408 und 33.240/244.

[181 Leibholz, Arzneimittelsicherheit und Grundgesetz, Rechtsgutachten, 1974, S. 44ff; ein weiteres von der Bundesregierung veranlai3tes Gutachten von Ehmke-Westermann bejaht die Verfassungsmafligkeit des Gesetzentwurfs, unterstellt jedoch fur Synthetika, Phytotherapeutika und fur AltJNeupraparate Gleichheit im verfassungsrechtlichen Sinn; vgl. dazu oben unter I1 2.

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die arztliche Therapiefreiheit betreffenden Prage liegt ein Gutachten des langjahrigen Richters am BVerfG, Prof. Leibholz, vor, der nach umfassender Wurdigung der Kechtslage zu dem Ergebnis kommt, dai3 der Gesetzentwurf u. a. auch in diesem Punkt nicht verfassungskonform ist [18]. 111.

Fiir die verschreibungsfreien phytotherapeutischen Arzneimittel steht bei der Schaffung eines neuen AMG auch ein allgemeines gesundheitspolitisches Ziel auf dem Spiele. Der weit iiberwiegende Teil der Bevolkerung strebt nach gesunder Lebensweise, dem Krankwerden sol1 vorgebeugt werden, aktuell ist daher die aktive Gesundheitspflege. Diesem Zweck der bewufiten Pravention dienen die Praparate pflanzlicher Herkunft in ganz besonderem Mafie. Mui3te ihre Herstellung eingeschrankt werden, dann ergabe sich ein allgemeiner gesundheitspolitischer Ruckschlag. Der Trend zu gesunder Lebensweise ist aber ein Fortschritt. Es gilt, diesen Fortschritt zu erhalten und zu fordern und dazu gehort auch, dem in mehrfacher Hinsicht verfassungsrechtlich kranken Entwurf fur ein neues Arzneimittelgesetz die juristische Diagnose zu stellen und ihm die rechtlichen Therapeutika zu verordnen, die bewirken konnen, dai3 die bewahrten phytotherapeutischen Arzneimittel der Bevolkerung und dem Arzt weiterhin in voller Breite zur Verfdgung stehen.

Prof. Dr. jur. utr. Rudolf Schiedermair, geb. 8. 5. 1909 in Miinchen, Jurist, von 1935 bis 1956 in der allgemeinen inneren Verwaltung, dann in der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Verwaltungsgerichtsprasident i. R. Seit 1953 Lehrbeauftragter fur Verwaltungsrecht an der Universitat Wurzburg, ab 1958 Honorarprofessor. Zahlreiche Publikationen, auch auf dem Gebiet des Gesundheitsrechts, daruater Gesetzeskunde fur Apotheker, 7. Aufl. 1973; Apothekengesetz, Kommentar und Materialien, 2. Aufl. 1974 (zus. mit Pieck); Betaubungsmittelrecht, Kommentar mit Textsammlung, 1974 (zus. rnit Pfeil u. Hempel).

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[Legal and health political aspects of phytotherapy].

Rudolf Schiedermair Rechts- und gesundheitspolitische Aspekte der Fhytotheraiie I I. Zu den wichtigsten, unverzichtbaren Hilfen in der Hand des Arz...
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