Leitthema Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:164–168 DOI 10.1007/s00103-013-1888-x Online publiziert: 23. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

B.-P. Robra Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie, Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg

John E. Wennberg, Pionier der regionalen Versorgungsforschung Was kann eine deutsche Versorgungswissenschaft von ihm lernen?

Epidemiologie untersucht die Häufigkeit und Verteilung von Krankheiten und Gesundheitsrisiken in Populationen über Raum und Zeit. Für die Epidemiologie der medizinischen Versorgung ist die Dimension „Raum“ besonders wichtig. Denn die Klärung der Behandlungsnotwendigkeit und die medizinische Betreuung finden im sozialen und regionalen Kontext der Versicherten statt. Medizinische Versorgung soll wohnortnah erreichbar sein. Das deutsche Sozialgesetzbuch fordert eine „bedarfsgerechte und gleichmäßige Versorgung“ (§ 70 SGB V). „Gleichmäßig“ bezieht sich auf erreichbare, wirksame und wirtschaftliche Versorgung. Ungleichmäßigkeit bedeutet Effektivitäts- und/oder Effizienzpotenziale. Selbst die Fähigkeit der Leistungserbringer, Versorgung kontextsensibel zu flexibilisieren und auf berechtigte Erwartungen und Präferenzen individueller Versicherter einzugehen, sollte überall vergleichbar sein. Hinter einer so weitreichenden regulativen Idee kann die Versorgungswirklichkeit eigentlich nur zurückbleiben. Doch öffnet gerade die Untersuchung regionaler Versorgungsunterschiede ein produktives Fenster zum Verständnis und zur kontinuierlichen Verbesserung des Versorgungssystems. John E. („Jack“) Wennberg ist Wegbereiter der regional vergleichenden Ver-

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sorgungsforschung. Der folgende Aufsatz fasst seine international anerkannten Beiträge aus deutscher Perspektive zusammen. Nach einer biografischen Skizze werden Wennbergs Themen Regionalprofil, Angebotssensitivität und Präferenzsensitivität behandelt. Anschließend wird seine normative Orientierung skizziert. Der letzte Abschnitt enthält Folgerungen und Anregungen für eine deutsche Versorgungswissenschaft.

Vita1 John E. Wennberg (geb. 1934) studierte ab 1954 in München und an der Stanford University, erhielt seinen medizinischen Abschluss (M.D., 1961) von der McGill University in Montreal, gefolgt von einer Weiterbildung in innerer Medizin in Washington, D.C., und Baltimore. Berufsbegleitend schloss er an der Johns Hopkins School of Hygiene and Public Health eine epidemiologische Ausbildung ab (M.P.H., 1966). In seiner Public-HealthAusbildung war er u. a. Schüler von Kerr L. White, der ihm die Bedeutung epide1 Angaben stammen aus dem „offiziellen“

Lebenslauf des Dartmouth College: http:// geiselmed.dartmouth.edu/cfm/education/ PDF/wennberg_cv.pdf (20.07.2013) und aus [1]; s. auch die Interviews mit G. Welch auf YouTube.

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miologischer Methoden für die Versorgungsforschung vermittelte [2]. 1967 übernahm Wennberg die Leitung des Northern New England Regional Medical Program (RMP) in Vermont. Dieses Projekt hatte den Auftrag, Studien zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung der Region durchzuführen. Statt Evidenz für lokoregionäre Unterversorgung fand man – unerwartet – erhebliche und unsystematische, bis dahin nicht erklärbare regionale Variationen der Ressourcen, der Inanspruchnahme und der Leistungshäufigkeiten [3]. Versorgungsheterogenität war als Thema entdeckt.2 1972 wurde Wennberg an die Medical School des Dartmouth College berufen. Zunächst war er Associate Professor of Epidemiology, schließlich Direktor des 1988 gegründeten Center for the Evaluative Clinical Sciences (CECS), jetzt The Dartmouth Institute for Health Policy and Clinical Practice (TDI: http://www. tdi.dartmouth.edu). Dieses Institut leitete er bis 2007. Im Zusammenhang mit der später gescheiterten Clinton-Initiative zur Einführung einer allgemeinen Krankenversiche2 Wennberg weist darauf hin [1], dass auch

andere sich mit diesem Problemkreis schon beschäftigt hatten [4, 5]. Ergänzend wären zu nennen Roemer [6], Morris in England [7], Pflanz in Deutschland [8].

rung begannen 1992 Arbeiten am Dartmouth Atlas of Health Care, der 1996 erstmals erschien und seither mit wechselnden Themen Eckstein regionaler Versorgungsforschung ist (http://www. dartmouthatlas.org). Da er auf Daten der staatlichen Rentner-Krankenversicherung Medicare beruht, bildet er nur einen Teil der medizinischen Versorgung in den USA ab, ist aber gerade deswegen für andere Sozialversicherungssysteme relevant. 2010 wurde das Dartmouth Center for Health Care Delivery Science gemeinsam mit der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät gegründet (TDC: http:// tdchcds.dartmouth.edu). Ebenfalls ab 2010 arbeitet The Wennberg Internation­ al Collaborative, ein durch TDI und die London School of Economics gegründetes Forschungsnetzwerk zur regionalen Versorgung (http://www.wennbergcollaborative.org mit weiteren Quellen).

Regionalprofile, Angebots­sensitivität, Präferenzsensitivität Wennbergs frühe bevölkerungs- und wohnortbezogene Regionalanalysen mit Abrechnungsdaten konzentrierten sich zunächst auf operative Eingriffe. Andere Krankheiten konnten ab Mitte der 80erJahre untersucht werden, nachdem Medicare ein diagnosebezogenes Vergütungssystem (DRGs) eingeführt hatte. Die unerwartet starke Variabilität der Krankenhaushäufigkeiten war nicht abhängig von Alter, Geschlecht und sozialen Merkmalen der versorgten Bevölkerung, auch nicht von Morbiditätsindikatoren. Dabei zeigten Regionen spezifische Profile („surgical signatures“), d. h., eine Region hatte keine generell höhere Versorgungsintensität als eine andere, sondern konnte mit manchen Leistungen (weit) über, mit anderen (weit) unter dem regionalen Durchschnitt liegen. Selbst Regionen, die wesentlich durch Universitätskliniken versorgt werden, wie Boston und New Haven, unterschieden sich hinsichtlich der installierten Kapazitäten, der Versorgungsintensität, damit auch der Kosten, aber nicht der Versorgungsresultate. Krankheiten, bei denen ein Eingriff klar indiziert und alternativ-

los ist, z. B. eine Schenkelhalsfraktur, wiesen geringere Variabilität auf als andere, die elektiv durchführbar sind und/oder bei denen alternative Versorgungen zur Verfügung stehen. Mehr medizinische Dienstleistungen führten nicht zu mehr Zufriedenheit der Versicherten oder der Ärzte oder zu besseren Ergebnissen, aber zu mehr Kosten [1, 3, 9, 10, 11, 12, 13, 14]. Diese Muster erwiesen sich als zeitlich stabil (es gab wenig Regression zum Mittelwert), und sie waren auch international ähnlich ausgeprägt, d. h., sie waren unabhängig von Rahmenbedingungen einzelner Versorgungssysteme [15]. Daten wurden auch nach Leistungserbringern ausgewertet, weitere Transparenz wurde durch patientenbezogen-längsschnittliche Auswertungen möglich [16, 17, 18]. Die behandelnden Ärzte konnten die Muster nicht erklären. Ungewissheit über Erfolge und Risiken der Eingriffe ist eine mögliche Erklärung für Versorgungsheterogenität [19]. Die Ärzte gehen mit diesem „Freiraum“ unterschiedlich um. Ein Teil der Leistungen, besonders auch im nicht-operativen Bereich, war angebotsabhängig. Als angebotssensitiv bezeichnet Wennberg eine Versorgung, bei der die regionale Verfügbarkeit einer spezifischen Ressource einen wesentlichen Einfluss auf ihren Einsatz hat [20]. Angebotssensitiv sind z. B. Arztkontakte, Labortests, Bildgebungsverfahren, Überweisungen, Einweisungen und Rehospitalisierungen, Aufenthalte auf Intensivstationen und in Pflegeheimen. Eine Beziehung zwischen der Versorgungsintensität und dem Anteil angemessen versorgter Patienten konnte nicht beobachtet werden [21]. Ein solcher Befund tritt auf, wenn mit zunehmender Kapazität schwere wie weniger schwere Fälle häufiger und intensiver versorgt werden, wenn die Versorgung also nicht priorisiert wird. Eine weitere These ist, dass die Versorgung den flachen Teil einer gesundheitlichen Produktionsfunktion erreicht hat, d. h., mehr Leistungen führen nicht zu mehr, weniger Leistungen nicht zu nachweisbar weniger Nutzen. Die Variabilität selbst und solche Erklärungsversuche bedeuten, dass Ärzte bei vielen Eingriffen über keine verbindlichen Indikations- und Verfahrenskriterien verfügen. Ein solches Muster dele-

gitimiert die ärztliche Definitionsmacht, führt zu vermeidbaren gesundheitlichen Schäden und Wohlfahrtsverlusten durch zu viel oder zu wenig Versorgung und wirft ein Gerechtigkeitsproblem auf. Denn in einer umlage- oder steuerfinanzierten Versicherung subventionieren ceteris paribus weniger intensiv versorgte Regionen die intensiver versorgten. Methodenkritik betraf z. B. die Abgrenzung regionaler Einheiten oder den ökologischen Trugschluss, den Rückschluss von Beziehungen auf der Aggregatebene auf Zusammenhänge auf der Individualebene.3 Es gab aber auch regionale Ärztekammern, die über das Problem der Versorgungsheterogenität informierten, Evidenzdefizite aufarbeiteten und Indikationskriterien präzisierten. So kann Wennberg zeigen, dass in Vermont Tonsillektomien seltener [25], in Maine die Spanne von Eingriffen wegen benigner Prostatahypertrophie nach unten reduziert oder exzessive Hysterektomieraten auf den Durchschnitt zurückgeführt wurden, nachdem Klinikern Daten zurückgemeldet und mit ihnen Gespräche geführt worden waren [1, 9]. Wennberg betont mehrfach, wie wichtig konstruktive Zusammenarbeit mit Klinikern ist [1], um klinisches Handeln zu beeinflussen.4 Allerdings waren die nun verfügbaren regionalen Benchmarks noch auf der Suche nach normativen Standards. Die rhetorische Frage „Which rate is right?“ [26] bedarf offensichtlich eines Außenkriteriums. Wennberg bearbeitete 2 sehr unterschiedliche Kriterien: die Präferenzen der Versicherten und die patientenbezogenen Ergebnisse [27, 1]. Wennberg spricht von präferenzsensitiver Versorgung, wenn mehr als eine medizinisch allgemein akzeptierte Behandlung möglich ist. Dann hängt das richti3 Siehe z. B. [22, 23]. Eine neuere Übersicht

über die Methodik regionaler Variabilitätsforschung geben [24]. 4 Die in den 90er-Jahren geförderten Patient Outcomes Research Teams (PORT) sollten Versorgungsvariabilität reduzieren. Sie waren nur begrenzt erfolgreich: Zwischen 1991 und 2000 nahmen bei Krankenhausleistungen mit PORTs variationsbedingte Wohlfahrtsverluste weniger stark zu als bei Leistungen ohne PORTs [29].

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Leitthema ge Vorgehen von den Präferenzen des Patienten und seiner Gewichtung der möglichen Ergebnisse und unerwünschten Wirkungen ab [20]. Interviews und systematische Untersuchungen ergaben: Erstens bewerten Patienten Eingriffe nach anderen Kriterien als Ärzte [1, 28], zweitens gibt es eine Grauzone, in der Versorgung nach medizinischen Kriterien möglich ist, nach Aufklärung aber von Patienten nicht gewünscht wird [30]. Drittens lehnen Patienten mit einer systematischen Einwilligungsaufklärung („deci­ sion aid“) Leistungen wie z. B. das Prostatascreening häufiger ab als Patienten mit weniger gründlicher Aufklärung [1, 31]. Die Folgerung war, die Stellung des Patienten bei Entscheidungen über Diagnostik und Behandlung zu stärken. Dafür wurde 1988 eine Stiftung gegründet (http://informedmedicaldecisions.org). Eine ihrer Aufgaben ist, systematische Entscheidungshilfen für Patienten zu erarbeiten. Im Hinblick auf das zweite Außenkriterium wurden prozessnahe und distale Versorgungsergebnisse untersucht: Zufriedenheit von Patienten und Leistungserbringern (s. oben), Letalität, Mortalität und Kosten. Besonders beeindruckend ist eine Studie, die Regionen nach der Intensität der Versorgung am Ende des Lebens ordnete. In diesen Versorgungsabschnitt fällt ein großer Teil der medizinischen Ressourcen, die für einen Versicherten überhaupt aufgewendet werden. Gleichzeitig nimmt der Natur des Problems entsprechend die (noch mögliche) Wirkung des Mitteleinsatzes ab, die Produktivität der Versorgung sinkt. In den Regionen, in denen Patienten am Lebensende besonders intensiv versorgt werden, sind aber die Ergebnisse, auch die Mortalität, für wichtige Krankheiten nicht besser, sondern eher sogar schlechter als in weniger intensiv versorgten Regionen; ob Patienten umzogen, machte für die Ergebnisse keinen Unterschied [17, 18]. Auch andere Studien zeigten einen inversen Zusammenhang zwischen Leistungsdichte und Versorgungsqualität [13, 16, 32, 33]. Wenn sparsame Leistungsintensität zu ebenso guten oder besseren Ergebnissen führt wie höhere Leistungsintensität, sind mehr Leistungen nicht indiziert oder unethisch.

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Zusammenfassung · Abstract Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:164–168  DOI 10.1007/s00103-013-1888-x © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 B.-P. Robra

John E. Wennberg, Pionier der regionalen Versorgungsforschung. Was kann eine deutsche Versorgungswissenschaft von ihm lernen? Zusammenfassung Durch Auswertung von Abrechnungsdaten belegte J.E. Wennberg informationsträchtige Variationen der Versorgung regionaler Bevölkerungen. Die Variation ist kaum morbiditätsabhängig oder präferenzbasiert, aber in Teilen angebotsabhängig. Struktur (Kapazität), Prozesse (Leistungen) und Resultate sind imperfekt gekoppelt, mehr Versorgung bringt nicht notwendig bessere Versorgungsergebnisse. Die Rückmeldung der erhobenen Daten an verantwortliche Leistungserbringer, Kapazitätsbeeinflussung und Förderung der Patientenautonomie werden als wichtige Mechanismen zur Reduktion unbegründeter Versorgungsheterogenität angesehen. Auch

in Deutschland finden regionale Auswertungen von Abrechnungs- und Registerdaten regionale Versorgungs- und Ergebnisheterogenität. Deren Reduktion dient dem gesundheitlichen Verbraucherschutz und kann Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit der Versorgung verbessern. Mehr analytische und experimentelle Versorgungswissenschaft ist nötig. Schlüsselwörter Kleinräumige Versorgungsanalyse · Versorgungsepidemiologie · Versorgungswissenschaft · Gesundheitlicher Verbraucherschutz

John E. Wennberg, pioneer of regional health services research. What does he teach us in Germany? Abstract Using claims data, Wennberg demonstrated regional health-care variation that was not due to differentials in morbidity nor was it preference-based, but was partly supplysensitive. The structure, processes, and outcomes of care are imperfectly coupled, and more services are not necessarily associated with better outcomes. Feeding data back to the responsible providers, restraining capacities, and fostering patient autonomy are seen as important in reducing unwarranted variation in health-care service delivery. In Germany, regional analyses of claims data and dis-

Die Befunde werden auf die knappe Formel gebracht: Bei effektiven5 Leistungen besteht Unterversorgung, bei präfe5 Effektive Versorgung ist definiert durch Inter-

ventionen, deren Nutzen die unerwünschten Wirkungen weit übertrifft und die nach evidenzbasierten Leitlinien für alle eligiblen Patienten verfügbar sein sollten [1]. Die 3 Versorgungskategorien (effektiv, angebotssensititv, präferenzsensitiv) sind allerdings nicht unabhängig voneinander. Natürlich kann ein aufgeklärter Patient nach seinen Präferenzen auch „effektive“ Versorgung ablehnen; angebotssensitive Leistungen können einen effektiven Kern haben oder auf genuine Patientenpräferenzen stoßen. Allerdings ist dann die Frage, wie weit die Solidargemeinschaft für solche Versorgung aufkommen muss.

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ease registries confirm the heterogeneity of processes and outcomes. A reduction in regional variation is in the interest of patient safety and likely to improve the effectiveness and efficiency of medical care. More healthcare delivery science—both analytic and experimental—is needed. Keywords Small-area analysis · Medical care epidemiology · Health-care delivery science · Consumer protection

renzsensitiven Leistungen Fehlversorgung und bei angebotssensitiven Überversorgung. Mehr Versorgung ist nicht notwendig besser, besser koordinierte schon [1]. Das passt zusammen mit den Befunden und Schlussfolgerungen Starfields zum Primat der Primärversorgung und einer nachgeordneten Funktionalität der Spezialisten [34, 35]. Wennbergs Empfehlungen für nötige Reformen des Versorgungssystems lauten daher [1]: 1) Gesundheitsdienste besser koordinieren, 2) informierte Selbstbestimmung des Patienten als ethischen und gesetzlichen Standard etablieren, 3) Versorgungswissenschaft verbessern und 4) Wildwuchs bei Kapazitäten und Kos-

Morbidität

Angebotsdichten, Erreichbarkeit

Leistungsdichten, Ergebnisse und Kosten

Nachfragefaktoren, Präferenzen der Versicherten und Patienten

Praxisstile, Produktivität, Kooperation, Ungewissheit

Abb. 1 8 Determinanten des Leistungsgeschehens – wechselseitige Abhängigkeiten (Endogenität). Legende: Praxisstile – Neigung (Kompetenz) des Leistungserbringers, bei gegebener Inanspruchnahme wirksame und wirtschaftliche Maßnahmen zu veranlassen und sinnvoll zu kooperieren, d. h. Produktivität des Leistungserbringers

ten der Versorgung begrenzen. Er zieht also eine Kontextsteuerung einer Verhaltenslenkung der Ärzte durch Leitlinien oder Angemessenheitskriterien vor. Im Arzt-Patienten-Verhältnis setzt er besonders auf den Patienten. Gegenstände der Versorgungswissenschaft allerdings werden auch Prozesse und Ergebnisse der Versorgung, Verfahrensregeln und Performanzziele sein.

Folgerungen für Deutschland Wie können wir in Deutschland die Erfahrungen und Empfehlungen Wennbergs nutzen? Wie können wir Wissenschaft in gute Versorgung bei uns umsetzen und Probleme unserer Versorgungspraxis wissenschaftlich bearbeiten? Hinter der demonstrierten Variabilität steht eine imperfekte Kopplung von Kapazität (Struktur), Leistungen (Prozessen) und Resultaten, die wir verstehen und modifizieren müssen. Das deutsche Gesundheitswesen verfügt über eine komplexe, stark verrechtlichte Aufbau- und Ablauforganisation mit Funktionen, die in den USA nicht für alle Bürger erreichbar sind. Wir haben Kostenträger und Leistungserbringer in vertragsfähigen Körperschaften mit Wirtschaftlichkeitsgebot, Sicherstellungs- und Gewährleistungsauftrag organisiert. Das allein bürgt allerdings noch nicht für koordinierte Versorgung, denn Zuständigkeitsgrenzen und sektorisierte Budgets wirken als Kooperationshin-

dernis und fördern Externalisierungen an den Sektorschnittstellen. In den letzten Jahren haben wir die Rechte und Mitsprachemöglichkeiten der Patienten gestärkt, aber wir wissen nicht, ob die Arzt-Patienten-Beziehung symmetrischer geworden ist. Eine „Kostenexplosion“ des Systems ist durch wiederholte staatliche Interventionen weitgehend vermieden worden. Unterhalb dieser Ebene gibt es allerdings immer wieder frappierende Mengensteigerungen, z. B. in letzter Zeit solche in der Wirbelsäulenchirurgie [36]. Wir müssen davon ausgehen, dass die Heterogenität von Kapazität, Leistungen und Ergebnissen auch bei uns zu erheblichen Wohlfahrtsverlusten führt. Für unser Gesundheitswesen sind zunächst die Bevölkerungs- und die Resultatorientierung Wennbergs wichtig: Es kommt darauf an, welcher gesundheitliche Nutzen bei der Bevölkerung ankommt und ob er den Präferenzen der Bürger entspricht. Analysen von Praxisvariationen sind dafür ein elementares Werkzeug. Die deutsche Versorgungsforschung hat darin Fortschritte gemacht, nicht zuletzt durch Auswertung von Routine- und Registerdaten [37, 38, 39, 40, 41, 42] und Surveys [43, 44]. Sie muss durch analytische und experimentelle Effektivitätsforschung ergänzt werden mit dem Ziel, die Nutzerorientierung des Gesundheitswesens weiterzuentwickeln. Versorgungsforschung in Raum und Zeit wird in Deutschland wie anderswo durch die Plastizität und Rückbezüglich-

keiten des Systems erschwert: Ausgangslagen, Prozesse, Ergebnisse und Kosten beeinflussen sich gegenseitig (. Abb. 1). In dieser Endogenität bleibt das naive Konzept eines externen Bedarfs, den man – z. B. mit Bevölkerungserhebungen – objektiv feststellen kann und den man dann nur noch möglichst wirtschaftlich versorgen muss, auf der Strecke. Endogenisierter (fluider) Bedarf wird im überall unterschiedlichen Möglichkeitsraum der Versorgung unter kontextspezifischen Opportunitätskosten und mit inhomogener Expertendominanz ausgehandelt. Er ist erst ex post „konkret“. Über eine „Versorgungswissenschaft“ im Sinne einer erfahrungsgestützten, theoriegeleiteten, kritisch reflektierenden, aus analytischen Ergebnissen und vergleichenden Experimenten systematisch aufwachsenden Wissensbasis mit Umsetzung in eine innovationsfähige, wirksame und nachhaltig finanzierbare Versorgungswirklichkeit verfügen wir noch nicht. Deswegen ist es umso wichtiger, vorhandene Daten zu nutzen und uns nicht – wie in den Transparenzparagraphen 303a–e SGB V, die ein verfügbares Regionalkennzeichen fallen lassen – blinder zu stellen, als wir sind [45]. Wir behindern damit Patientensicherheit und gesundheitlichen Verbraucherschutz, wie Wennberg ihn demonstriert hat. Auch wir können auf eine verantwortliche Rolle der Leistungserbringer nicht verzichten. Professionelle Leistungserbringer, nicht nur Ärzte, sind Konstrukteure ihres Handlungsfeldes. Das ­bedeutet für versorgungswissenschaftliche Projekte, dass Leistungserbringer nicht „beforscht“ werden, sondern relevante Themen selbst definieren, an Forschung partizipieren und kollaboratives Lernen organisieren („communities of practice“,6 [46]). Medizinische Versorgung ist – wie professionelles Handeln generell – immer auch überlegter Entwurf und Vergewisserung, d. h. Forschungswerkstatt. Dazu bedarf es einer erweiterten professionellen Identität [47]. Ver6 Siehe z. B. den Masterstudiengang „Wis-

sensentwicklung und Qualitätsförderung – Integrat­ed Practice in Dentistry“ der Universität Magdeburg und der Akademie für Zahnärztliche Fortbildung Karlsruhe, http://www. za-karlsruhe.de.

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Leitthema sorgungswissenschaft ist deswegen nicht nur Systemanalyse und Systemgestaltung, sondern auch Professionsentwicklung.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. B.-P. Robra Institut für Sozialmedizin und Gesundheitsökonomie,   Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Leipziger Str. 44, 39120 Magdeburg [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  B.-P. Robra analysiert seit 1995 regelmäßig Versorgungsdaten auf regionaler ­Ebene im Rahmen eines Drittmittelprojekts der AOK ­Sachsen-Anhalt. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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[John E. Wennberg, pioneer of regional health services research: what does he teach us in Germany?].

Using claims data, Wennberg demonstrated regional health-care variation that was not due to differentials in morbidity nor was it preference-based, bu...
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