Originalarbeit

Interaktion von psychischen Erkrankungen und Zwangsverheiratung bei Migrantinnen in Deutschland

Autor

Jan Kizilhan

Institut

Duale Hochschule Baden-Württemberg, Villingen-Schwenningen

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

" Zwangsverheiratung ● " psychische Erkrankungen ● " Migration ● " Suizidalität ●

Keywords

" forced married ● " psychological illness ● " migration ● " suicide ●

!

Ziel der Studie: Die Studie untersucht, inwieweit es einen Zusammenhang zwischen einer Zwangsverheiratung und der Häufigkeit psychischer Erkrankung gibt. Methode: Zwangsverheiratete und nicht zwangsverheiratete Migrantinnen werden hinsichtlich ihrer psychischen Beschwerden in psychosomatischen Kliniken in Deutschland verglichen.

Einleitung !

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1370245 Psychiat Prax © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0303-4259 Korrespondenzadresse Prof. Dr. Dr. Jan Kizilhan Duale Hochschule BadenWürttemberg Schramberger Straße 26 78054 Villingen-Schwenningen [email protected]

Seit einigen Jahren wird in den europäischen Ländern die Problematik der Zwangsverheiratung auf politischer Ebene und in den Medien diskutiert. So wurden u. a. in der Schweiz und Deutschland Gesetze gegen „Zwangsheiraten“ verabschiedet und gleichzeitig zahlreiche Projekte, die grundsätzlich auf einen Schutz vor „Zwangsheiraten“ sowie auf die Betreuung betroffener Personen abzielen, ins Leben gerufen [1, 2]. Die Forschung verfügt dennoch über wenig gesicherte Daten zu Häufigkeit und medizinisch-psychosozialen Folgen von Zwangsverheiratung [3]. Aufgrund der in Anspruch genommenen Beratungen kann lediglich vermutet werden, wie viele Menschen tatsächlich von Zwangsverheiratung betroffen sind [4]. So berichtet das Bundesland Bayern 2012, dass bei einer allgemeinen Befragung von Beratungs- und Schutzeinrichtungen im Jahre 2008 insgesamt 228 Personen zum Thema Zwangsverheiratung betreut worden seien. 16 % waren minderjährig. Der größte Anteil lag mit 44 % bei den zwischen 18- und 21-Jährigen. Bis zu einem Alter von 21 Jahren waren die meisten Ratsuchenden noch nicht verheiratet [5]. Zwangsverheiratung wird in Europa vor allem im Hinblick auf Menschen mit Migrationshintergrund – und in Deutschland insbesondere mit türkischer Herkunft – diskutiert. Dies geschieht

Ergebnisse: Zwangsverheiratete Frauen sind signifikant häufiger psychisch erkrankt und haben im Durchschnitt mindestens 4-mal einen Suizidversuch unternommen. Schlussfolgerung: Zwangsverheiratete Frauen leiden ein Leben lang an den Folgen einer Zwangsverheiratung. Sie benötigen unter Berücksichtigung kultureller und migrationsspezifischer Aspekte besondere psychosoziale Beratung und medizinisch-therapeutische Behandlung.

vor allem im Kontext der Migrations- und Integrationsdebatte, im Zusammenhang mit familiärer Gewalt – und hier insbesondere gegen Frauen – sowie unter dem Aspekt der Menschenrechtsverletzungen [1, 6]. Unter Zwangsverheiratung versteht man eine, durch Gewalt oder Drohung von mindestens einer Person erzwungene Ehe. Sie geht in der Regel mit dem Einverständnis der Eltern einher, die u. a. auch auf bestimmte Weise die Rolle der Täter übernehmen und z. B. die eigene Tochter oder den Sohn zu einer Heirat zwingen. Sie ist unabhängig von religiösen Vorstellungen. In patriarchalischen Kulturen sollen solche Ehen dem Kollektiv, etwa der Familie oder dem Stamm, nutzen [7]. Auch männliche Personen sind betroffen. Hierbei wird die Ehe funktional und weniger emotional bewertet, da sie zum Schutz (z. B. Heirat mit einem mächtigen Stamm) und Überleben (z. B. Kinderzeugung) des Kollektivs dienen soll [8, 9]. Im Unterschied zur Zwangsverheiratung existieren in diesen Kulturen sog. arrangierte Ehen, die z. B. von Verwandten und Bekannten initiiert werden – mit dem Einverständnis der Eheleute. Sollten diese aber aus kultureller Sicht gelernt haben, ihren Eltern oder Bekannten in diesem Zusammenhang nicht zu widersprechen und diese Heirat stillschweigend akzeptieren, so ist auch hier durchaus von einer gewissen Zwangsverheiratung auszugehen [10]. In Extremfällen und im ZuKizilhan J. Interaktion von psychischen … Psychiat Prax

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Interaction of Mental Health and Forced Married Migrants in Germany

sammenhang mit Biografie und Wertvorstellungen dieser Gesellschaften können junge Frauen, die sich gegen eine solche Heirat wehren, unter erheblichen psychischen und physischen Druck geraten [11]. In manchen Fällen werden sie vom unmittelbar engen Familienkreis getötet; die Rede ist dann von sog. „Ehrenmorden“ [3]. Aufgrund weltwirtschaftlicher Globalisierung, erweiterter Reisemöglichkeiten, Vernetzung über neue Medien, Industrialisierung, ethnischer und religiöser Konflikte, Veränderungen der Umwelt, Naturkatastrophen und Epidemien lassen sich in vielen Ländern der Welt über die letzten Jahrzehnte hinweg verstärkte Migrationsbewegungen beobachten. Menschen migrieren aus unterschiedlichen Gründen. Ihre kulturellen Vorstellungen von Familie und Religion, ihre individuelle Biografie und Migrationsgeschichte erschweren es ihnen aber möglicherweise, sich dem Thema Zwangsverheiratung sowohl in der Öffentlichkeit als auch in Institutionen zu stellen [12]. Zu zwangsverheirateten Migrantinnen in Deutschland und möglichen psychischen Erkrankungen in diesem Zusammenhang gab es bisher keine Untersuchung. Daher sind wir der Fragestellung nachgegangen, ob ein Zusammenhang von Zwangsverheiratung und psychischen Erkrankungen vorhanden ist und diese Gruppe sich von anderen Migrantinnen, die ebenfalls wegen psychischer Beschwerden stationär in psychosomatischen Kliniken in Deutschland behandelt wurden, unterscheiden.

von der Untersuchung ausgeschlossen, Patientinnen, die vor ihrem 18. Lebensjahr zwangsverheiratet wurden, ebenfalls, da bei ihnen auch entwicklungspsychologische und traumatische Aspekte eine Rolle hätten spielen und die Daten verzerren können. Die Patientinnen, die angaben, zwangsverheiratet worden zu sein, hatten bisher keine Beratungsstelle oder andere Einrichtung wegen dieses Themas aufgesucht. Wegen der erwarteten Unterschiede zwischen den beiden Gruppen hinsichtlich der Variablen Geschlecht, Alter, Bildung und Diagnosen wurden beide Stichproben parallelisiert, um eine annähernde Vergleichbarkeit zu gewährleisten und damit die interne Validität der Untersuchung zu erhöhen. So wurden Patientinnen unter 30 und über 55 Jahren, die in der Gruppe „keine Zwangsverheiratung“ häufiger zu finden waren, ausgeschlossen. Nicht berücksichtigt wurden außerdem alle Patientinnen, die Analphabetinnen waren, einen Universitätsabschluss hatten oder im Jahr der Untersuchung bereits in einer psychosomatischen Klinik behandelt worden waren. Insgesamt nahmen 142 Patientinnen der Gruppe „Zwangsverheiratung“ und 172 der Gruppe „keine Zwangsverheiratung“ an der Erhebung teil. Aufgrund fehlender Daten und eines ungenau ausgefüllten Fragebogens waren es letztlich 120 Patientinnen in der Gruppe „Zwangsverheiratung“ und 150 in der Gruppe „keine Zwangsverheiratung“.

Erhebungsinstrumente Methode !

In 3 psychosomatischen Kliniken in Bayern und Baden-Württemberg wurden türkischstämmige Patientinnen untersucht, die aufgrund mindestens einer psychischen Erkrankung – vor allem Depressionen, Angst und Somatisierungsstörung – stationär in Behandlung waren. Diese erfolgte jeweils muttersprachlich in Einzel- und Gruppentherapie, Gestaltungstherapie und psychoedukativen Seminaren. Für die Auswertung wurden die Entlassungsdiagnosen herangezogen, da diese auf einer standardisierten Diagnostik der Kliniken beruhten. Neben den Erstdiagnosen wurden auch alle anderen Diagnosen berücksichtigt.

Stichprobe !

Die Datenerhebung erfolgte im Rahmen einer Vergleichsstudie über zehn Jahre stationärer psychosomatischer Rehabilitation von türkeistämmigen Frauen [13]; die Auswertung bezog sich im Speziellen auf die Interaktion von psychischen Störungen und Zwangsverheiratung. Durch Fragen zu Familie, Heirat, Zwangsheirat und arrangierter Heirat wurden soziodemografische Daten erhoben. Für die Gruppe „Zwangsverheiratung“ wurden Patientinnen herangezogen, die nach eigenen Angaben schon in ihrem Herkunftsland gegen ihren Willen verheiratet worden waren. Sie waren alle dort geboren und aufgewachsen und lebten im Durchschnitt länger als 10 Jahre in Deutschland. Zu der Gruppe „keine Zwangsverheiratung“ zählten Patientinnen, die ebenfalls im Herkunftsland geboren und aufgewachsen waren und im Durchschnitt 15 Jahre in Deutschland lebten. Sie gaben an, freiwillig geheiratet zu haben. Patientinnen mit Kriegserfahrungen/Traumatisierung, anderen Extrembelastungen und unklarer Aufenthaltserlaubnis wurden Kizilhan J. Interaktion von psychischen … Psychiat Prax

Der soziodemografische Fragebogen von Koch (1997) wurde bereits in verschiedenen Studien eingesetzt [14] und liefert wichtige Hintergrundinformationen über eine Person (Herkunftsort, Religion, Migration, Familie, Arbeit, finanzielle Situation, Krankheitsdauer, Behandlung etc.). Die Religionszugehörigkeit und -ausübung werden durch spezielle Fragen zu „Religion und Glauben“, die als eigenständige Kategorie in diesem Fragebogen integriert sind, erhoben. Mit dem Beck-Depressions-Inventar [15] (BDI) sowie dessen türkischer Version [16, 17] wurde das Ausmaß der depressiven Symptomatik erfasst. Die Validierung des Fragebogens ergab eine hohe interne Konsistenz der türkischen Version von Werten um 0,85. Für diese liegen zahlreiche Validierungsstudien vor, die von einer hohen validen und reliablen Erfassung des Konstrukts Depressivität bei türkischstämmigen Patienten ausgehen [18]. Die Cut-off-Werte von 11 und 18 gelten auch in der türkischen Version. Die Symptom-Checkliste (SCL-90-R) [19] misst die subjektiv empfundene Beeinträchtigung einer Person durch körperliche und psychische Symptome in einem Zeitraum von 7 Tagen. Die türkische Version des SCL-90-R wurde von Dag [20] auf ihre Reliabilität und Validität überprüft.

Auswertung Die erhobenen Daten wurden mit dem Programm SPSS 15.0.1 für Windows (2006) berechnet, die Grafiken und Tabellen in SPSS 15.0.1 und Excel 2003 von Microsoft Office erstellt. Deskriptive Daten wurden als Mittelwerte der Standardabweichung dargestellt, Kategorialparameter in Prozent. Der Vergleich der beiden Untersuchungsgruppen hinsichtlich ihrer Krankheitssymptomatik wurde mit χ²-Tests, t-Tests sowie einer univariaten 2-faktoriellen Varianzanalyse berechnet. Die Zusammenhänge zwischen SCL-90-R und BDI wurden anhand von bivariaten Pearson-Korrelationen für beide Gruppen getrennt berechnet.

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Originalarbeit

Originalarbeit

80

Zwangsverheiratung

70

keine Zwangsverheiratung

68,6

Abb. 1 Diagnosen der Gruppe Zwangsverheiratung und keine Zwangsverheiratung.

60 50

44,5

43,4

42,1 38,6

40

34,3

30

12,9

22,1 18,4

10

22,8

21,7

29,2

20

11,8

5,7 4,6

5,6

it ä t izi da l

Stichprobenbeschreibung Das durchschnittliche Alter der Gruppe „Zwangsverheiratung“ lag bei 42,9 und der Gruppe „keine Zwangsverheiratung“ bei 46,7 Jahren. Die Patientinnen der Gruppe „Zwangsverheiratung“ wiesen ein signifikant geringeres Bildungsniveau (χ² = 37,00; p < 0,001) sowie eine niedrigere allgemeine Erwerbstätigkeit (χ² = 3,634; p < 0,044) auf und verfügten über ein geringeres Einkommen als die Gruppe „keine Zwangsverheiratung“. Diese hatte mehr Kinder (χ² = 10,634; p < 0,003): durchschnittlich 3,9. Der Mittelwert bei der Gruppe „Zwangsverheiratung“ lag bei lediglich 2,6.

Ergebnisse !

42,1 % gegenüber 29,2 % der Gruppe „keine Zwangsverheiratung“ signifikant häufiger vertreten war (-Chi² = 9,88; p < 0,034). Die Diagnosen aus dem schizophrenen Kreis sind bei der Gruppe „keine Zwangsverheiratung“ tendenziell höher als bei denen der " Abb. 1). „Zwangsverheiratung“ (●

Symptombelastung

● Tab. 1

" zeigt die Mittelwertsunterschiede in der Depressivität (BDI) sowie der psychischen Symptombelastung (SCL-90-R). Aus allen 9 Unterskalen der SCL-90-R ebenso wie auf dem Gesamtbelastungswert (GSI) gab die Gruppe „Zwangsverheiratung“ signifikant höhere Werte (p < 0,001) an, ebenso zu Depression (BDIWert von 35,2 Punkten) im Vergleich zur Gruppe „keine Zwangsverheiratung“ (BDI-Wert von 22,5 Punkten). Dieser Unterschied war mit einem t-Wert von – 3,431 hochsignifikant (p < 0,001).

Psychische Krankheitsbilder Bei der Diagnose „Depression“ war die Gruppe „Zwangsverheiratung“ mit 68,6 % gegenüber 44,5 % der Gruppe „keine Zwangsverheiratung“ signifikant häufiger vertreten (-Chi² = 9,42; p < 0,001). Dies gilt auch für die Diagnose „Persönlichkeitsstörungen“ (Chi² = 4,374; p < 0,001) und „Essstörung“ (Chi² = 8,162; p < 0,001). Signifikante Unterschiede ergaben sich auch bei den somatoformen Störungen, bei denen die Gruppe „Zwangsverheiratung“ mit Tab. 1

Suizidalität Die Gruppe „Zwangsverheiratung“ berichtete von mindestens 4 Suizidversuchen seit der Zwangsverheiratung im Gegensatz zur Gruppe „keine Zwangsverheiratung“. Dieser Unterschied war mit einem t-Wert von – 6,171 hochsignifikant (p < 0,001). Als Gründe für die Suizidalität wurden neben der Zwangsverheiratung u. a. Misshandlung durch den Ehemann und seine Familie

Mittelwertsvergleich (t-Tests) der beiden Gruppen hinsichtlich Depressivität (BDI) und Symptombelastung (SCL-90-R).

Variable

Gruppe

Gruppe

Zwangsverheiratung (n = 120)

keine Zwangsverheiratung (n = 172)

MW

SD

MW

SD

t

p

[Interaction of mental health and forced married migrants in Germany].

The study examines the interaction of the forced married migrants and the frequency of the psychological illness...
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