Übersicht

Erbliche Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen – 5 Schritte zur Diagnose Inherited Retinal or Optic Nerve Disorders – Five Steps to Diagnosis

Autoren

U. Kellner 1, 2*, S. Kellner 1, 2, S. Weinitz 1, 2, G. Farmand 1, B. H. F. Weber 3, H. Stöhr 3*

Institute

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Schlüsselwörter " erbliche Netzhautl erkrankungen " erbliche Sehbahnl erkrankungen " Fundusautofluoreszenz l " Spectral‑Domain‑OCT l " molekulargenetische l Diagnostik Key words " inherited retinal dystrophies l " inherited optic nerve l disorders " fundus autofluorescence l " spectral domain OCT l " DNA testing l

eingereicht 11. 11. 2014 akzeptiert 7. 1. 2015 Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1396211 Klin Monatsbl Augenheilkd 2015; 232: 250–258 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0023-2165 Korrespondenzadresse Prof. Ulrich Kellner, MD RetinaScience AugenZentrum Siegburg Europaplatz 3 53721 Siegburg Tel.: + 49/(0)22 41/84 40 50 Fax: + 49/(0)22 41/8 44 05 55 [email protected]

Zentrum für Seltene Netzhauterkrankungen, AugenZentrum Siegburg, MVZ ADTC Siegburg GmbH RetinaScience, Bonn Institut für Humangenetik, Universität Regensburg

Zusammenfassung

Abstract

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Die frühzeitige Diagnose erblicher Netzhaut- oder Sehbahnerkrankungen wird aufgrund unspezifischer Symptome, multipler klinischer Manifestationen und hoher genetischer Heterogenität oft verzögert. Diese Arbeit stellt eine retrospektive Analyse von Befunden von 4021 Patienten mit erblichen Netzhaut- oder Sehbahnerkrankungen vor, die im Zeitraum von 1986 bis 2014 untersucht worden sind (davon 1171 mehrfach). Neben der klinischen Diagnostik wurde Elektrophysiologie (Ganzfeldelektroretinografie ERG, n = 2088, seit 1986; Elektrookulogramm EOG, n = 381, seit 1986; visuell evozierte Potenziale VEP, n = 595, seit 1986; multifokale Elektoretinografie mfERG, n = 819, seit 1998) oder nicht invasive retinale Bildgebung (Fundusautofluoreszenz FAF, n = 1784, seit 2002), Nah-Infrarot-Autofluoreszenz (NIA, n = 1091, seit 2006), Spectral-Domain-OCT (SD‑OCT, n = 848, seit 2008), 3-WellenlängenMultiColor-spektrale-Reflexionsfotografie (MC, n = 366, seit 2013) ein- oder mehrmalig durchgeführt. Eine molekulargenetische Diagnostik erfolgte zwischen 2006 und 2014 bei 383 Patienten. Auf der Basis dieser Daten kann eine effiziente diagnostische Strategie wie folgt formuliert werden: 1. klinische Diagnostik mit Einschluss von erblichen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen in die Differenzialdiagnose bei Sehstörungen und Gesichtsfeldausfällen unklarer Genese, 2. nicht invasive retinale Bildgebung, 3. elektrophysiologische Funktionsdiagnostik, 4. molekulargenetische Diagnostik bei gezielter Verdachtsdiagnose, 5. spezialärztliche Betreuung, Therapie und Verlaufskontrolle. Die verfügbaren diagnostischen Möglichkeiten haben sich in den letzten Jahren kontinuierlich erweitert. Hervorzuheben ist, dass sich die nicht invasive retinale Bildgebung zur primären diagnostischen Maßnahme entwickelt hat und eine gezielte und nach den modernsten Verfahren ausgerichtete molekulargenetische Diag-

An early diagnosis of inherited retinal or optic nerve disorders is often delayed due to unspecific clinical signs, multiple clinical manifestations and striking genetic heterogeneity of the underlying molecular defects. This study represents a retrospective analysis of findings in 4,021 patients with inherited retinal or optic nerve disorders seen between 1986 and 2014 (1,171 with followup). In addition to the basic ophthalmological examination, electrophysiological tests (ERG, n = 2,088, since 1986; EOG, n = 381, since 1986; VEP n = 595, since 1986; mfERG, n = 819, since 1998) and non-invasive retinal imaging (fundus autofluorescence (FAF, n = 1,784, since 2002), near-infrared autofluorescence (NIA, n = 1,091, since 2006), spectral domain OCT (SD‑OCT, n = 848, since 2008) and three-wavelengths multicolour spectral reflection imaging (MC, n = 366, since 2013) were performed at least once. Molecular DNA testing was done in 383 patients between 2006 and 2014. Based on these data an efficient diagnostic strategy is suggested: 1) inclusion of inherited retinal and optic nerve disorders into the differential diagnosis of visual loss or visual field defects with undefined causes; 2) non-invasive retinal imaging; 3) electrophysiological tests; 4) DNA testing to confirm the initial clinical diagnosis; 5) examination in specialised centres, therapy and follow-up. In recent years, the spectrum of diagnostic techniques has continuously expanded. Importantly, non-invasive retinal imaging has become the primary diagnostic tool and DNA testing based on state-of-the-art high throughput techniques increases the identification of associated gene mutations. In conclusion, a structured process in the diagnostic procedure of inherited retinal and optic nerve disorders

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* Beide Autoren haben gleichermaßen zur Publikation beigetragen

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nostik die Abklärung der genetischen Krankheitsursachen verbessert. Die empfohlene Diagnosestrategie verkürzt die Zeit zur Diagnosefindung für die Betroffenen, ermöglicht eine frühzeitige Beratung und Therapie und vermeidet unnötige diagnostische Maßnahmen.

greatly reduces a diagnostic delay, enables an earlier counselling and therapy and avoids further unnecessary diagnostic tests.

Einleitung

für eine Diagnoseverzögerung liegt in der Tatsache, dass entsprechende Differenzialdiagnosen nicht in Erwägung gezogen werden. Bei nur 20 % unserer Patienten ergaben sich initial entweder aus der Familienanamnese bei bereits diagnostizierten betroffenen Verwandten oder bei Vorliegen sehr charakteristischer Netzhautveränderungen (z. B. vitelliforme Läsionen bei Morbus Best) eine weitgehend eindeutige klinische Diagnose einer erblichen Netzhaut- oder Sehbahnerkrankung. Dagegen zeigten sich bei der überwiegenden Mehrheit unspezifische Erstsymptome mit Visusminderung oder Gesichtsfeldausfällen unklarer Genese, Leseproblemen, Blendungsempfindlichkeit oder Nachtsehstörungen. In einigen Fällen führte die Operation der bei Retinitis pigmentosa nicht selten auftretenden Katarakte nur zu einer begrenzten Sehverbesserung, weshalb dann eine weitergehende Diagnostik in Gang gesetzt wurde. Als Voraussetzung für eine weiterführende Diagnostik erscheint es daher wesentlich, nach Ausschluss von Refraktionsfehlern und Medientrübungen sowie bei ophthalmoskopisch unspezifischen oder fehlenden retinalen Veränderungen, den Verdacht auf eine erbliche Netzhaut- oder Sehbahnerkrankung zu stellen. Das Risiko, nicht an eine solche Erkrankung zu denken, ist bei ophthalmoskopisch unspezifischen oder fehlenden Veränderungen hoch. Daher gilt, dass die Ophthalmoskopie zwar notwendig, aber weder ausreichend noch entscheidend für die Diagnose einer erblichen Netzhaut- oder Sehbahnerkrankung ist. Weiterhin wird bei Patienten ab dem 30. Lebensjahr nur noch selten eine genetisch bedingte Erkrankung differenzialdiagnostisch erwogen, erbliche Netzhaut- oder Sehbahnerkrankung können sich aber in allen Lebensaltern manifestieren. Die älteste Patientin mit der Erstdiagnose einer Netzhautdystrophie in der vorliegenden Serie war 87 Jahre alt.

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Bei einer geschätzten Häufigkeit von ca. 1 : 3000 leben in Deutschland ungefähr 30 000 Betroffene mit erblichen Netzhautund Sehbahnerkrankungen. Patienten und Selbsthilfevereinigungen wie die PRO RETINA Deutschland e. V. beklagen, dass der Weg zu einer Diagnose schwierig und langwierig ist [1]. Eine fehlende Diagnose bedeutet für den Patienten eine verzögerte Einleitung möglicher Therapien wie die Versorgung mit vergrößernden Sehhilfen, einen Zeitverlust bei der Suche nach beruflichen Alternativen sowie möglicherweise weitreichende Probleme bei der Familien- und Lebensplanung. Aus augenärztlicher Sicht ist die Diagnose von erblichen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen schwierig, weil es klinisch zahlreiche Krankheitsbilder gibt, die sich ohne umfassende Beschäftigung mit der Thematik nur schwer differenzieren lassen [2, 3]. Darüber hinaus sind die Erstsymptome oft unspezifisch und werden, wie z. B. bei häufigem Anstoßen oder Stolpern, teilweise vom Patienten nicht als Krankheitszeichen wahrgenommen. Dies erschwert die Früherkennung durch den Augenarzt. Die Verbesserung der bildgebenden retinalen Diagnostik mit Einführung von Fundus- und Nah-Infrarot-Autofluoreszenz sowie Spectral-Domain optischer Kohärenztomografie hat erfreulicherweise die Möglichkeiten einer effizienten und nicht invasiven Diagnostik erheblich erweitert und bildet die Grundlage für eine verbesserte Früherkennung von vererbbaren Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen. Die Etablierung neuer molekulargenetischer Untersuchungstechniken, vor allem die Möglichkeiten der Sequenzierung mittels neuer Hochdurchsatztechnologien, hat zu einer erheblichen Steigerung der genetischen Abklärungsrate bei signifikanter Beschleunigung der Untersuchungszeiten gerade bei genetisch heterogenen Netzhauterkrankungen geführt [4, 5].

Retrospektive Analyse der Diagnosestellung bei erblichen Netzhaut- oder Sehbahnerkrankungen !

Die vorliegende Übersicht basiert auf der diagnostischen Erfahrung und Auswertung von Diagnosefehlern bei 4021 Patienten mit erblichen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen an der Universitäts-Augenklinik Essen (1986–1990), der Universitäts-Augenklinik Benjamin Franklin (1990–2003) sowie dem Zentrum für seltene Netzhauterkrankungen am AugenZentrum Siegburg (2004–2014). Von den Patienten wurden 1174 mehr als einmal untersucht, bei 361 Patienten wurde der Verlauf über mindestens 5 Jahre beobachtet. Für die retrospektive Auswertung lagen mehr als 5000 elektrophysiologische Untersuchungen, mehr als 130 000 Bilder aus der nicht invasiven Bildgebung und fast 400 molekulargenetische Befunde vor.

Verdachtsdiagnose erbliche Netzhautoder Sehbahnerkrankung Eine große Schwierigkeit bei Diagnosestellung einer erblichen Netzhaut- oder Sehbahnerkrankung und eine häufige Ursache

Nicht invasive retinale Bildgebung Neue Methoden der nicht invasiven retinalen Bildgebung haben die Früherkennung von Netzhaut- oder Sehbahnerkrankungen erheblich verbessert. Dabei gibt es keine festgelegten Standards, die Durchführung erfolgt i. d. R. nach publizierten Protokollen [6–9]. Die nicht invasive retinale Bildgebung umfasst die Fundusautofluoreszenz (FAF; Exzitation 488 nm, Sperrfilter 500 nm; Spectralis HRA [Heidelberg Engineering, Heidelberg, Deutschland]; n = 1784 Patienten seit 1/2002 mindestens einmal untersucht), die Nah-Infrarot-Autofluoreszenz (NIA; Exzitation 787 nm, Sperrfilter 810 nm; Spectralis HRA; n = 1091, seit 6/ 2006), die Spectral-Domain optische Kohärenztomografie (SD‑OCT; Exzitation 870 nm; Spectralis OCT; n = 848, seit 9/2008) sowie die spektrale Fotografie mit 3 Wellenlängen (Blau-Reflexion, BR, 486 nm; Grün-Reflexion, GR, 518 nm, Nah-Infrarot-Reflexion, NIR 788 nm) separat und kombiniert als MultiColor (MC, Spectralis OCT; n = 366 seit 1/2013). Dabei stellt das SD‑OCT " Abb. 1). Strukturveränderungen von Netzhaut und RPE dar (l Die FAF durch den Nachweis von Veränderungen der Lipofuszinverteilung in RPE-Zellen und die NIA durch den Nachweis von Veränderungen der Melaninverteilung in RPE-Zellen weisen auf Areale aktiver Degeneration und solche mit RPE-Zellverlust hin " Abb. 2–4). Die NIA ist der FAF wegen der fehlenden Blockade (l

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Abb. 1 Spectral-Domain-OCT bei verschiedenen erblichen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen mit Angabe der assoziierten Gene. Linke Spalte: Normale zentrales SD‑OCT eines linken Auges. #3787: fehlende Nervenfaserschicht (Pfeil) bei hereditärer Leber-Optikusneuropathie. #3606: zentral kleines erhaltenes Areal mit Photorezeptoren (Pfeile) bei Retinitis pigmentosa. #3732: zentral erhaltenes Areal mit Photorezeptoren (Pfeile) sowie nasal sekundäre epiretinale Gliose bei Usher-Syndrom. #3624: zentral erhaltenes Areal mit Photorezeptoren (Pfeile) sowie ausgeprägtes zystoides Makulaödem bei Retinitis pigmentosa. Rechte Spalte: #3651: zentraler Photorezeptorverlust (Pfeil) bei Zapfendystrophie. #3671: parazentraler Photorezeptorverlust bei Morbus Stargardt. #3647: wechselnde Areale mit erhaltener und fehlender Photorezeptoraußenschicht sowie dunkle Läsionen aufgrund kristalliner Einlagerungen bei Biettis kristalliner Aderhautdystrophie. #3657: massiv veränderte Netzhaut und Aderhautatrophie sowie sekundäre epiretinale Gliose im Spätstadium einer Zapfen-Stäbchen-Dystrophie. #3275: ausgeprägte zystoide Räume über den ganzen Scan bei X-chromosomaler Retinoschisis.

Abb. 2 Fundusautofluoreszenz bei 12 Patienten mit Retinitis-pigmentosa-ähnlichen Netzhautveränderungen. Bei allen Patienten ist ein Ring erhöhter FAF-Intensität am hinteren Pol erkennbar, der mit zunehmendem Krankheitsstadium nach zentral wandert. Bei diesen 12 Patienten liegen Mutationen in jeweils einem anderen Gen vor.

durch das makuläre Pigment in der Foveabeurteilung überlegen, außerdem zeigen sich Frühzeichen noch eher in der NIA als der FAF [8–11]. Die MC stellt retinale Veränderungen in verschiedenen Schichten dar, insbesondere die NIR ergibt spezifische Hinweise auf Optikusatrophien [12]. Alle Verfahren unterstützen auch die Abgrenzung gegenüber erworbenen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen. Die retinale Bildgebung hat dabei wichtige Vorteile: sie ist weniger zeitaufwendig, weniger belastend und weniger von der Kooperation des Patienten abhängig als die retinale Funktionstestung und sie zeigt vielfach Läsionen der Netzhaut und des retinalen Pigmentepithels, die ophthalmoskopisch nicht erkennbar sind. Diese Vorteile ermöglichen eine wesentlich verbesserte Untersuchung von Kindern und bei diesen und Erwachsenen die Erkennung bereits von frühen Erkrankungsstadien. Nach unserer

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Erfahrung lassen sich etwa 90 % aller erblichen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen mit diesen Verfahren erkennen. Dabei zeigen sich mit den verschiedenen Techniken krankheitsspezi" Abb. 1– fische Veränderungen, welche die Diagnose sichern (l 4). Eine detaillierte Darstellung und Diskussion der einzelnen Phänomene im Vergleich mit der Literatur würde den Rahmen dieses Beitrags überschreiten. Eine invasive Bildgebung mit Fluoresceinangiografie ist nur bei Verdacht auf eine choroidale Neovaskularisation indiziert, die als Sekundärkomplikation bei Makuladystrophien und selten bei anderen Netzhautdystrophien (nicht bei Optikusatrophien) auftreten kann.

Elektrophysiologische Funktionstestung Die elektrophysiologische Funktionstestung ist weiterhin ein wesentliches Instrument der Diagnostik bei erblichen Netzhaut-

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Abb. 4 Nah-Infrarot-Autofluoreszenz bei 5 Angehörigen einer Familie mit einer RPGR-Mutation (ORF15 c.2740 G>T, p.Glu914X) und unterschiedlicher klinischer Manifestation.

und Sehbahnerkrankungen, sie wurde wegen des höheren zeitlichen Aufwands jedoch in der Indikationsstellung hinter die retinale Bildgebung gestellt. Elektrophysiologische Verfahren wurden jeweils entsprechend den sich kontinuierlich weiterentwickelnden Standards der International Society for Clinical Electrophysiology of Vision (ISCEV, www.iscev.org) adaptiert [13–16] und umfassen die Ganzfeldelektroretinografie (ERG, n = 2088 Patienten seit 1/1986 mindestens einmal untersucht), die multifokale Elektoretinografie (mfERG, n = 819, seit 2/1998), die visuell evozierten Potenziale (VEP, n = 595, seit 1/1986) und das Elektrookulogramm (EOG, n = 381, seit 1/1986). Die Untersuchungen erfolgten entweder mit einem selbst gebauten System [17], dem Nicolet Spirit (Nicolet, Madison, USA) [6] oder dem Retiport (RolandConsult, Brandenburg, Deutschland) [7]. Dabei dient das mfERG vorwiegend der Früherkennung einer Makuladystrophie vor ophthalmoskopischen Veränderungen und das Ganzfeld-

ERG dem Ausschluss, Nachweis oder der Differenzierung einer generalisierten Netzhautdystrophie bzw. der Abklärung einer retinalen Ursache einer Optikusatrophie. Ein EOG ist nur in seltenen Fällen, wie z. B. bei BEST1-assoziierten Netzhautdystrophien, sinnvoll. Dabei schließt ein normales EOG den Verdacht auf eine BEST1-assoziierte Erkrankung nicht sicher aus [6]. Ein VEP ist bei Verdacht auf Optikusatrophie sinnvoll. Allerdings wird eine mögliche retinale Ursache für eine Optikusatrophie (z. B. Zapfendystrophie) durch ein VEP nicht entdeckt, und umgekehrt schließt ein normales VEP eine milde Form der autosomal-dominanten Optikusatrophie nicht aus. Mit Verbesserung der retinalen Bildgebung ist die Frequenz der elektrophysiologischen Diagnostik deutlich gesunken. Da nicht jede erbliche Netzhaut- und Sehbahnerkrankung zu Veränderungen in FAF, NIA, SD‑OCT oder MC führt, ist die Durchführung der elektrophysiologischen Diagnostik vorwiegend bei bestehendem Krankheitsverdacht und

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Abb. 3 Fundusautofluoreszenz bei 12 Patienten mit zentral beginnenden Netzhautdystrophien, die sich klinisch wie eine Zapfen- oder Zapfen-Stäbchen-Dystrophie präsentieren. Bei allen Patienten ist ein zentraler Bereich reduzierter FAF-Intensität am hinteren Pol begrenzt durch einen Ring erhöhter FAF-Intensität erkennbar, der mit zunehmendem Krankheitsstadium nach peripher wandert. Bei diesen 12 Patienten liegen Mutationen in jeweils einem anderen Gen vor.

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A. Verdacht auf ABCA4-assoziierte Netzhauterkrankungen (n = 111) Untersuchung auf bekannte Mutationen im ABCA4-Genb Untersuchung des gesamten ABCA4-Gensc Summe B. Verdacht auf Zapfendystrophie/Zapfen-Stäbchen-Dystrophie (n = 47) Einzelgenuntersuchung Multi-Gen-Panel Summe C. Verdacht auf Retinitis pigmentosa (n = 105) Einzelgenuntersuchung Multi-Gen-Panel Summe D. Verdacht auf andere Netzhauterkrankungen (n = 120) Erkrankung " LCAe " PRPH2-assoziiertf " BEST1-assoziiertf " Retinoschisisf " Choroideremief " Biettiʼs kristalline Aderhautdystrophief " anderec, h Summe a

gelöst

unterstützta

ungelöst

21 17 38

14 12 26

41 6 47

2 (0/1/1d) 13 (2/3/8d) 15

– 32 32

23 (14/7/2d) 19 (4/8/7d) 42

37 26 63

gelöst 4 13 11 (8/2/1g) 6 10 3 9 56

ungelöst 4 10 20 1 3 – 26 64

Tab. 1 Molekulargenetische Diagnostik bei 383 Patienten mit Verdacht auf eine erbliche Netzhaut- oder Sehbahnerkrankung.

Monoallelische ABCA4-Mutation; b Apex Microarray, Asper Biotech, Tartu, Estland; c Sanger-Sequenzierung, RetChip v1.0 oder Semi-

conductor Sequencing; d Erbgang: X-chromosomal/autosomal-dominant/autosomal-rezessiv; e Apex Microarray Chip, Sanger-Sequenzierung oder Semiconductor Sequencing; f Sanger-Sequenzierung, ggf. MLPA; g Morbus Best/Bestrophinopathie/ADVIRC; h NCL, Usher-Syndrom, Bardet-Biedl-Syndrom, Achromatopsie, familiäre Drusen, Alagille-Syndrom

unauffälligen Ergebnissen der retinalen Bildgebung diagnostisch erforderlich. Insbesondere bei Zapfen- und Makuladystrophien kann im Frühstadium die Elektroretinografie aussagekräftiger sein. Weiterhin sind alle nicht invasiven bildgebenden Verfahren noch relativ neue Techniken, bei denen sich bisher nicht beschriebene Phänomene zeigen können. Deren Einordnung bedarf einer Überprüfung mit einem unabhängigen Verfahren. Treffen Phänomene der Bildgebung und Funktionsausfälle zusammen, ist ein Zusammenhang zwischen beiden und damit eine pathologische Veränderung wahrscheinlich. Sind allerdings FAF, NIA, SD‑OCT, MC, mfERG, ERG und VEP normal, sind die Verdachtsdiagnosen „Netzhautdystrophie“ und „Optikusatrophie“ ophthalmologisch weitgehend ausgeschlossen.

Molekulargenetische Diagnostik Aufgrund der hohen klinischen und genetischen Heterogenität vieler Krankheitsbilder der erblichen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen erlaubt das Ergebnis der augenärztlichen Diagnostik häufig nur eine begrenzte Vorhersage des ursächlichen genetischen Defekts, der darauf basierenden Vererbung und Assoziation mit Syndromen sowie der Möglichkeiten einer therapeutischen Behandlung. Zur Sicherung einer augenärztlichen Verdachtsdiagnose wurden im Untersuchungszeitraum von 2006 bis 2014 im molekulargenetischen Diagnostiklabor am Institut für Humangenetik der Universität Regensburg (seit März 2009 nach Norm DIN EN ISO 15 189 akkreditiert) insgesamt 383 Patienten mit verschiedenen Formen von Netzhauterkrankungen (syndromisch und nicht syndromisch) molekulargenetisch un" Tab. 1 A–D). Dabei erweiterte sich das Methodentersucht (l spektrum der molekulargenetischen Diagnostik im Laufe der letzten 8 Jahre von Einzelgenanalysen und gezieltem Testen auf bereits bekannte Genmutationen bis hin zur Multi-Gen-PanelDiagnostik, also der zeitgleichen Sequenzanalyse einer großen Anzahl von Genen, die ursächlich mit einem definierten Krank-

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heitsbild in Verbindung stehen. Genanalysen wurden mittels Sequenzierung nach der Kettenabbruchmethode [18], mithilfe der Multiplex-ligationsabhängigen Probenamplifikation (MLPA), mit RetChip v.1.0 auf Basis einer In-house generierten Affimetrix-GeneChip-basierten Plattform oder über die Semiconductor-Sequenzierung mithilfe des Ion PGM™ Sequenzierers durchgeführt. Apex-Microarray-Chip-Untersuchungen (Asper Biotech, Tartu, Estland) dienten der Suche nach bekannten Mutationen in einem oder mehreren Krankheitsgenen mit anschließender Bestätigung durch Sequenzierung nach Sanger [18]. Multi-Gen-Panel-Analysen bei Verdacht auf Zapfendystrophie/Zapfen-Stäbchen-Dystrophie (ABCA4, ADAM9, AIPL1, CERKL, CDHR1, CNGB3, CRX, C8ORF37, GUCA1A, GUCY2D, KCNV2, PROM1, PRPH2, RDH5, RAB28, RAX2/RAXL1, RIMS1, RPGR, RPGRIP1, SEMA4A) und Retinitis pigmentosa (ABCA4, BEST1, C2ORF71, C8ORF37, CA4, CERKL, CLRN1, CNGA1, CNGB1, CRB1, CRX, DHDDS, EYS, FAM161A, GUCA1B, IDH3B, IMPDH1, IMPG2, KLHL7, LRAT, MAK, MERTK, NR2E3, NRL, PDE6A, PDE6B, PDE6G, PRCD, PROM1, PRPF3, PRPF8, PRPF31, PRPH2, RPB3, RDH12, RGR, RHO, RLPB1, ROM1, RP1, RP2, RP9, RPE65, RPGR, SAG, SEMA4A, SNRNP200, SPATA7, TOPORS, TTC8, TULP1, USH2A, ZNF513) erfolgten mithilfe der RetChip v.1.0 oder Semiconductor-Sequenzierung und wurden regelmäßig aktualisiert und erweitert. Im Allgemeinen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit eines Mutationsnachweises mit einer klaren Verdachtsdiagnose aufgrund eindeutiger klinischer Merkmale sowie einer positiven Familienanamnese. So konnte die genetische Ursache der autosomal-rezessiv vererbten Biettiʼs kristalline Auderhautdystrophie in 100 % der Fälle, die der kongenitalen X-gebundenen Retinoschisis und der Choroideremie, die beide X-chromosomal vererbt werden, " Tab. 1 D). Bei den ABin etwa 80% der Fälle geklärt werden (l CA4-assoziierten Netzhauterkrankungen wurden bei 34 % der Patienten 2 (oder mehr) krankheitsverursachende Mutationen im ABCA4-Gen gefunden und weitere 23 % der Patienten zeigten le-

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Methode bei

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" Tab. 1 A). Etwa diglich eine monoallelische ABCA4-Mutation (l 60–70 % der Patienten mit Morbus Stargardt sind Träger von biallelischen, ursächlichen Mutationen im ABCA4-Gen während bei etwa 15–20% nur 1 Mutation nachgewiesen werden kann [19]. Die niedrige Detektionsrate von 2 ABCA4-Genmutationen in unseren Patienten ist vor allem auf die Anwendung des Apex Microarray Chips in den Jahren 2006 bis 2009 zurückzuführen, da diese Methodik lediglich nach bekannten Mutationen im ABCA4-Gen sucht und somit mögliche neue pathologische Mutationen bei den Patienten unentdeckt bleiben. Daneben enthält unsere Kohorte außer Patienten mit Morbus Stargardt auch solche mit anderen Netzhautdystrophien (z. B. Zapfen-Stäbchen-Dystrophie, Makuladystrophie). Mutationen in X-chromosomalen oder autosomal-dominant vererbten Genen stellen die Mehrheit der molekulargenetisch gelös" Tab. 1 C). Mit der Entten Fälle mit Retinitis pigmentosa dar (l wicklung der Hochdurchsatzsequenzierung (bekannt als NextGeneration Sequencing) kann eine große Anzahl von Genen mithilfe eines Multi-Gen-Panels parallel und in einem kurzen zeitlichen Rahmen untersucht werden. Somit können auch bei Einzelfällen mit genetisch heterogenen Krankheitsbildern, wie der Retinitis pigmentosa oder der Zapfen-Stäbchen-Dystrophie, ursächliche Mutationen mit deutlich verbesserter Detektionsrate nachgewiesen werden. Diese Tendenz ist in unserem Patientenkollek" Tab. 1 B und 1 C). Nicht zu unterschätzen ist die tiv erkennbar (l Problematik der Bewertung des Krankheitspotenzials der nachgewiesenen Sequenzveränderungen. Bei der Hochdurchsatzsequenzierung werden 150 kbp genomische DNA und mehr analysiert und entsprechend viele Abweichungen zu den Referenzsequenzen gefunden. Hinweise auf eine mögliche Pathogenität einer nachgewiesenen Sequenzvariante können aufgrund von Segregationsanalysen in der Familie, Frequenzdaten aus den publizierten Genomsequenzen, bioinformatischen Untersuchungen und experimentellen Nachweisen des Einflusses einer Mutation auf die Funktion des Gens bzw. Proteins erhalten werden. Nicht selten ist jedoch keine eindeutige Bewertung des molekulargenetischen Befunds möglich, auch schließt ein unauffälliges Ergebnis eine genetische Ursache der Erkrankung nicht aus. Aufgrund der molekulargenetischen Bestätigung der klinischen Verdachtsdiagnose können Aussagen zum Erbgang und damit zum Risiko für

die Angehörigen sowie zu bereits etablierten oder sich in klinischen Studien befindlichen Therapiemöglichkeiten gemacht werden. Auch der Ausschluss von Mutationen in bekannten Krankheitsgenen kann von Wichtigkeit für geplante Therapieoptionen (z. B. Empfehlung oder Vermeidung einer hoch dosierten Vitamin-A-Supplementation) sein. Nicht betroffene Familienangehörige können sich auf Anlageträgerschaft von familienspezifischen krankheitsverursachenden Mutationen testen lassen. Wegen der hohen klinischen Variabilität der Netzhautdys" Abb. 4) und aufgrund häufig fehlender Genotyp-Phätrophien (l " Abb. 2–3) ist eine Vorhersage über den notyp-Korrelationen (l Verlauf der Erkrankung bei Mutationsträgern oft nicht möglich.

Spezialisierte Diagnostik, Verlaufskontrolle, Familienuntersuchung und Therapie Die mindestens einmalige Untersuchung der Patienten in spezialisierten augenärztlichen Zentren bietet die Möglichkeit einer genaueren Differenzialdiagnose und der wegen der größeren Erfahrung leichteren Erkennung der seltenen behandelbaren Sonderformen, die direkte Kommunikation mit Humangenetikern und Einleitung einer molekulargenetischen Diagnostik sowie der Beratung über mögliche Therapien. In Abstimmung mit anderen Fachdisziplinen und nichtärztlichem Fachpersonal ist eine gründliche Beratung und soziale Betreuung möglich. Dabei ist wichtig, dem Patienten Hilfsmöglichkeiten anzubieten, auch wenn keine kausale Therapie zum gegebenen Zeitpunkt verfügbar sein sollte. Wesentlich für den Patienten ist die Verlaufskontrolle. Sie verbessert die Diagnosesicherheit, erlaubt durch Beurteilung der Progression Hinweise auf den individuellen Verlauf und ist ggf. erforderlich zur Therapiekontrolle und Beratung über neue Therapien. Ein wesentlicher Aspekt der Verlaufskontrolle ist die Begleitung des Patienten und seiner Familie bei der Krankheitsverarbeitung und den anstehenden Entscheidungen über Ausbildung und Beruf. Kontrollen alle 1–2 Jahre sind daher empfehlenswert, dabei hängt der Umfang der Untersuchungen vom jeweiligen Befund ab, oft reicht die retinale Bildgebung " Abb. 5). (l Besondere Rücksicht ist auf beschwerdefreie, bisher undiagnostizierte Verwandte und insbesondere Minderjährige zu nehmen. Die Entdeckung von klinischen Krankheitsfrühstadien, deren

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Abb. 5 Fundusautofluoreszenz zur Verlaufskontrolle bei erblichen Netzhauterkrankungen.

Übersicht

Therapie

Indikation

Korrektur von Refraktionsfehlern vergrößernde Sehhilfen Nahrungsergänzungsmittel hochdosiert Vitamin A (15 000 IE/Tag)

immer sinnvoll immer sinnvoll, abhängig von der Sehschärfe und dem Gesichtsfeld kein nachgewiesener Nutzen niemals bei ABCA4-Gen-Mutationen (Morbus Stargardt, autosomalrezessive Zapfendystrophien), evtl. bei Retinitis pigmentosa Abetalipoproteinämie, Atrophia gyrata, Refsum-Syndrom zystoides Makulaödem, kongenitale Retinoschisis (Off-Label) choroidale Neovaskularisation (Off-Label) frühzeitig (wg. Blendung, Kontrastminderung) Makulaforamen, epiretinale Gliose ermöglichen blinden Patienten nach speziellem Training begrenzte Seheindrücke möglicherweise begrenzter Effekt bei einigen Patienten mit Retinitis pigmentosa, weitere Studien geplant aktive Phase-I/II-Studien beim Menschen aktive Phase-I/II-Studien beim Menschen aktive Phase-I- bis ‑III-Studien beim Menschen

krankheitsspezifische Diät Acetazolamid, Dorzolamid Anti-VEGF-IVOM Kataraktoperation Vitrektomie retinale Implantate: Geräte mit CE-Kennzeichnung Elektrostimulation: Geräte mit CE-Kennzeichnung Gentherapie subretinale Stammzelltransplantation verschiedene medikamentöse Therapien

weitere Entwicklung nicht vorhergesagt werden kann und die keine therapeutischen Konsequenzen haben, kann einen erheblichen Einfluss auf die persönliche Entwicklung und das familiäre und soziale Umfeld nehmen. Daher ist eine solche Untersuchung auch von augenärztlicher Seite nur mit dem Einverständnis des Betroffenen in Kenntnis der möglichen Konsequenzen sinnvoll, dies sollte stets dokumentiert werden. Den betroffenen Familien sollte ggf. eine humangenetische Beratung vor und nach der genetischen Untersuchung empfohlen werden. " Tab. 2 zuDerzeit mögliche und zukünftige Therapien sind in l sammengestellt. Es ist häufig zu beobachten, dass vor dem Beginn therapeutischer Bemühungen zunächst die finale Diagnosestellung abgewartet wird, diese Phase ist jedoch nicht selten mit einer längeren Arbeitsunfähigkeit verbunden. Wesentlich ist, dass die Patienten auch bei noch nicht vollständig geklärter Diagnose frühzeitig mit vergrößernden Sehhilfen versorgt werden. Dies kann den Arbeitsplatz ggf. erhalten und die Kommunikationsfähigkeit und soziale Situation entscheidend verbessern. Dazu gehören optische und elektronische Mittel (Lupenbrillen, Bildschirmlesegerät). Aktuell sind elektronische Lesegeräte, TabletComputer und Computer mit bereits vorinstallierten Hilfsmöglichkeiten für Sehbehinderte sowie sich ständig verbessernder zusätzlicher Apps von erheblichem Nutzen. Sehbehinderte und Blinde profitieren hier von den Möglichkeiten moderner Kommunikation, so ist beispielsweise eine GPS-basierte, App-gesteuerte Wanderung im Wald auch für Blinde möglich. Für Umschulungen und zusätzliche Qualifikationen bieten auf Sehbehinderte spezialisierte Berufsförderungswerke (z. B. Düren, Würzburg, www.arge-bfw.de) oder Berufsbildungswerke (z. B. Chemnitz, Soest, Stuttgart, www.bagbbw.de) eine spezifische Beratung und Schulung. Selbsthilfegruppen (z. B. PRO RETINA Deutschland e. V., www.pro-retina.de) unterstützen Patienten psychologisch und in vielen sozialen und Alltagsfragen sowie langfristig durch die finanzielle Förderung von Forschungsprojekten.

Diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf erbliche Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen !

Das hier vorgestellte Vorgehen basiert auf der langjährigen Erfahrung mit den verschiedenen diagnostischen Verfahren sowie auf der Auswertung diagnostischer Probleme bei betroffenen Patienten und soll eine alltagstaugliche Anleitung für die Diagnostik

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Tab. 2 Therapiemöglichkeiten und Indikationsstellung.

von erblichen Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen in der täg" Tab. 3). Ziel ist eine zeit- und kosteneffeklichen Praxis liefern (l tive Strategie, die für den Patienten zu einer möglichst raschen Diagnosestellung und damit Beginn von Hilfsmaßnahmen führt, um einen sozialen Abstieg und die familiäre Belastung durch die Unsicherheit während eines langwierigen diagnostischen Prozesses zu vermeiden. Die Verordnung von vergrößernden Sehhilfen und der Verweis auf andere Hilfsmaßnahmen sollten bereits einsetzen, wenn eine begründete Verdachtsdiagnose besteht. Eine detaillierte Differenzialdiagnose spezieller Unterformen und die molekulargenetische Abklärung ändert an den Erfordernissen der beruflichen Ausbildung oder Rehabilitation i. d. R. wenig, kann aber weitere therapeutische Möglichkeiten eröffnen sowie eine spezifische Beratung des Patienten und seiner Familie ermöglichen. Durch die erhebliche größere Verbreitung der nicht invasiven retinalen Bildgebung und der schnelleren und weniger belastenden Durchführung ist diese im Gegensatz zu einer früheren Empfehlung als primärer diagnostischer Schritt anzusehen [1]. Bei der Vielzahl der beschriebenen neuen Phänomene in der retinalen Bildgebung vereinfacht der interaktive digitale Austausch zwischen Ärzten die weitere Diagnostik bei ungewöhnlichen Befunden. Der primäre Einsatz retinaler Bildgebung bei Sehstörungen unklarer Genese ermöglicht auch die Vermeidung häufig eingesetzter, unnötiger nicht ophthalmologischer Diagnostik (z. B. MRT) und hilft damit, Kosten zu vermeiden. Die elektrophysiologische Diagnostik ist in ihrem Wert für die primäre Diagnosestellung hinter die nicht invasive retinale Bildgebung zurückgewichen, sie ist insbesondere für Differenzialdiagnosen und für mit retinaler Bildgebung ungeklärte Situationen von Bedeutung. Es ist zu erwarten, dass bei neuen Therapieverfahren die elektrophysiologische Verlaufskontrolle erneut an Bedeutung gewinnen wird. Für eine zielgerichtete und kosteneffektive molekulargenetische Diagnostik ist eine intensive Kommunikation zwischen Augenarzt und Genetiker notwendig. Bei klinisch klaren Krankheitsbildern ist eine Fokussierung auf einzelne Gene sinnvoll (z. B. Bietti-Kristalldystrophie, Choroideremie, kongenitale X-gebundene Retinoschisis, Morbus Stargardt), während bei Gruppen mit genetisch heterogenen Erkrankungen die Hochdurchsatzsequenzierung von möglichen ursächlichen Krankheitsgenen für eine effiziente Diagnostik erforderlich ist. Die kontinuierliche Weiterentwicklung der augenärztlichen und genetischen diagnostischen Verfahren sowie die Entwicklung

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Übersicht

neuer Therapien erfordert eine regelmäßige Neubewertung der optimalen diagnostischen Strategie im Interesse der betroffenen Patienten.

Schlussfolgerung !

Die Diagnose und Differenzialdiagnose erblicher Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen ist insbesondere in Frühstadien schwierig, die Diagnosestellung ist für die Patienten aber von hoher persönlicher und sozialer Bedeutung. Ein zielorientiertes schrittweises Vorgehen umfasst: 1. klinische Untersuchungen mit Einbezie-

Tab. 3 Diagnostisches Vorgehen bei Verdacht auf erbliche Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen.

hung erblicher Netzhaut- und Sehbahnerkrankungen in die Differenzialdiagnose unklarer Sehstörungen, 2. nicht invasive retinale Bildgebung (Fundusautofluoreszenz, Nah-Infrarot-Autofluoreszenz, Spectral-Domain-OCT, spektrale Reflexionsfotografie), 3. elektrophysiologische Diagnostik (multifokales ERG, GanzfeldERG, VEP, EOG), 4. molekulargenetische Diagnostik (Einzelgenanalyse, Hochdurchsatzsequenzierung von Gen-Panels), 5. Vorstellung in einem spezialisierten Zentrum, Beratung, Therapie und Verlaufskontrolle. Wesentlich für die Patienten ist eine frühzeitige Versorgung mit vergrößernden Sehhilfen bzw. adäquater Arbeitsplatzgestaltung bereits bei noch nicht vollständig geklär-

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Schritt 1: Verdachtsdiagnose erbliche Netzhaut-/Sehbahnerkrankung (ENSE) " einfach (20%): betroffene Verwandte, charakteristische bilaterale Netzhaut-/Papillenveränderungen → weitgehend eindeutige klinische Diagnose " schwierig und wichtig (80%): unspezifische Erstsymptome: nach Ausschluss von Refraktionsfehlern, Medientrübungen und ophthalmoskopisch erkennbaren retinalen Veränderungen: Visusminderung ohne Gesichtsfeldausfälle bei unklarer Genese, Leseprobleme, Blendungsempfindlichkeit, Nachtsehstörungen → Verdacht auf ENSE: Voraussetzung für weitere Diagnostik " Risiken Fehldiagnose: " man sieht nichts: die Ophthalmoskopie ist notwendig, aber weder ausreichend noch entscheidend für die Diagnose einer ENSE " zu „alt“: ENSE können sich in allen Lebensaltern manifestieren (0–90 Jahre) Schritt 2: retinale Bildgebung " Fundusautofluoreszenz (FAF): Lipofuszin im RPE (Frühveränderungen Netzhautdystrophien) Nah-Infrarot-Autofluoreszenz (NIA): Melanin im RPE (Frühveränderungen Netzhautdystrophien, Vorteil zu FAF: Fovea besser darstellbar, noch frühere Veränderungen) Spectral-Domain-OCT (SD‑OCT): Strukturveränderungen von Netzhaut und RPE MultiColor (MC): retinale Schichtdarstellung, NIR bei Optikusatrophie sensitiv " retinale Bildgebung: schneller als retinale Funktionstestung, zeigt Netzhaut-/RPE-Läsionen, die ophthalmoskopisch nicht erkennbar sind " FAF, NIA und SD‑OCT lassen etwa 90% aller Netzhautdystrophien bereits im Frühstadium erkennen " FAG: nur sinnvoll bei Verdacht auf choroidale Neovaskularisation als Sekundärkomplikation Schritt 3: retinale Funktionstestung " multifokales ERG (mfERG): Früherkennung Makuladystrophie vor ophthalmoskopischen Veränderungen Ganzfeld-ERG: Ausschluss/Nachweis/Differenzierung einer generalisierten Netzhautdystrophie EOG: nur bei Verdacht auf Morbus Best oder BEST1-Gen-assoziierte Netzhautdystrophien VEP: aussagekräftig zur Sehnervenfunktion nur bei normaler Netzhautfunktion " wenn klinischer Befund oder retinale Bildgebung eindeutig, ist retinale Funktionstestung nicht unbedingt erforderlich, aber: " nicht jede ENSE führt zu Veränderungen in FAF, NIA, SD‑OCT, MC " nicht jedes Ergebnis der Bildgebung ist eindeutig (neue Techniken = neue Phänomene) " Frühzeichen einer ENSE können sich zuerst in FAF, NIA, SD‑OCT, MC, mfERG oder VEP zeigen, wenn der Fundus und die jeweils anderen Untersuchungen noch unauffällig sind " FAF, NIA, SD‑OCT, MC, mfERG, ERG und VEP normal: Verdachtsdiagnose ESNE ausgeschlossen Schritt 4: molekulargenetische Diagnostik " ESNE: augenärztliche Diagnostik lässt nur begrenzte Vorhersage des ursächlichen Gens zu " spezifische Gendiagnostik: klare klinische Diagnose mit spezifisch zuzuordnendem Gen (z. B. Morbus Best, X-chromosomale Retinoschisis, Choroideremie) " Next-Generation Sequencing: Untersuchung zahlreicher Gene (erforderlich z. B. bei Einzelfällen mit Retinitis pigmentosa) " nachfolgende Beratung: " Mutationsnachweis: Diagnosesicherung, Beratung über Erbgang, mögliche Therapie, Beratung über Verlauf: eher begrenzt " kein Mutationsnachweis: Ausschluss bekannter genetischer Ursachen und genspezifischer Therapien, aber kein Ausschluss einer genetisch bedingten Erkrankung " keine Untersuchung von nicht betroffenen Angehörigen (genetisch und ophthalmologisch) ohne Einverständnis und Einwilligung nach GenDG nach vorheriger Aufklärung über mögliche Ergebnisse der Untersuchung Schritt 5: spezialisierte Diagnostik, Verlaufskontrolle und Therapie " spezialisierte Zentren: genaue Differenzialdiagnose (behandelbare Sonderformen?), detaillierte Beratung und ggf. Therapiestudien, gezielte kosteneffektive molekulargenetische Diagnostik, Kooperation mit anderen Fachdisziplinen " Verlaufskontrolle: verbessert Diagnosesicherheit, Beurteilung Progression, ggf. Therapiekontrolle, ggf. neue Therapien, Begleitung Krankheitsverarbeitung: alle 1–2 Jahre " Tab. 2, mobile Apps (Tablet-Computer, Smartphones), Berufsbildungs- und ‑förderungswerke: " Therapie: siehe l spezifische Beratung und Schulung

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Übersicht

ter Diagnose, um den Verlust des Arbeitsplatzes und soziale Nachteile soweit wie möglich zu vermeiden.

Danksagung !

Die Studie wurde in Teilen über Drittmittelprojekte der PRO RETINA Deutschland (Entwicklung RetChip Diagnostik an BHFW) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF, 01GM0851 und 01GM1108B an BHFW) finanziert.

Interessenkonflikt !

Nein.

Literatur 1 Brunsmann F, von Gizycki R, Rybalko A et al. Patientenselbsthilfe und seltene Erkrankungen: Mitgestaltung der Versorgungsrealität am Beispiel seltener Netzhautdegenerationen. Bundesgesundheitsbl – Gesundheitsforsch – Gesundheitsschutz 2007; 50: 1494–1501 2 Kellner U, Renner AB, Herbst SM et al. Hereditäre Netzhautdystrophien. Klin Monatsbl Augenheilkd 2012; 229: 171–193 3 Zobor D, Zrenner E. Retinitis pigmentosa – eine Übersicht. Ophthalmologe 2012; 109: 501–514 4 Audo I, Bujakowska KM, Léveillard T et al. Development and application of a next-generation-sequencing (NGS) approach to detect known and novel gene defects underlying retinal diseases. Orphanet J Rare Dis 2012; 7: 8 5 Jin X, Qu LH, Meng XH et al. Detecting genetic variations in hereditary retinal dystrophies with next-generation sequencing technology. Mol Vis 2014; 20: 553–560 6 Renner AB, Tillack H, Kraus H et al. Late onset is common in Best dystrophy associated with VMD2 gene mutations. Ophthalmology 2005; 112: 586–592

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7 Kellner S, Kellner U, Weinitz S. Spectral domain optical coherence tomography detects early stages of chloroquine retinopathy similar to multifocal electroretinography, fundus autofluorescence and near-infrared autofluorescence. Br J Ophthalmol 2009; 93: 1444–1447 8 Kellner U, Kellner S, Weber BHF et al. Lipofuscin- and melanin-related fundus autofluorescence visualize different retinal pigment epithelial alterations in patients with retinitis pigmentosa. Eye (Lond) 2009; 23: 1349–1359 9 Kellner S, Kellner U, Weber BHF et al. Lipofuscin- and melanin-related fundus autofluorescence in patients with ABCA4-associated retinal dystrophies. Am J Ophthalmol 2009; 147: 895–902 10 Duncker T, Tabacaru MR, Lee W et al. Comparison of near-infrared and short-wavelength autofluorescence in retinitis pigmentosa. Invest Ophthalmol Vis Sci 2013; 54: 585–591 11 Duncker T, Marsiglia M, Lee W et al. Correlations amongst near-infrared and short-wavelength autofluorescence and spectral domain optical coherence tomography in recessive Stargardt disease. Invest Ophthalmol Vis Sci 2014; 55: 8134–8143 12 Wolff B, Basdekidou C, Vasseur V et al. Retinal inner nuclear layer microcystic changes in optic nerve atrophy: a novel spectral domain OCT finding. Retina 2013; 33: 2133–2138 13 Marmor MF, Fulton AB, Holder GE et al. ISCEV Standard for full-field clinical electroretinography (2008 update). Doc Ophthalmol 2009; 118: 69–77 14 Hood DC, Bach M, Brigell M et al. ISCEV Standard for clinical multifocal electroretinography (2011 edition). Doc Ophthalmol 2012; 124: 1–13 15 Marmor MF, Brigell M, McCulloch DL et al. ISCEV Standard for clinical electro-oculography (2010 update). Doc Ophthalmol 2011; 122: 1–7 16 Odom JV, Bach M, Brigell M et al. ISCEV standard for clinical visual evoked potentials (2009 update). Doc Ophthalmol 2010; 120: 111–119 17 Foerster MH, Kellner U, Wessing A. Cone dystrophy and supernormal dark-adapted b-waves in the electroretinogram. Graefes Arch Clin Exp Ophthalmol 1990; 228: 116–119 18 Sanger F, Nicklen S, Coulson AR. DNA sequencing with chain-terminating inhibitors. Proc Natl Acad Sci U S A 1977; 74: 5463–5467 19 Zernant J, Schubert C, Im KM et al. Analysis of the ABCA4 gene by nextgeneration sequencing. Invest Ophthalmol Vis Sci 2011; 52, 8479– 8487

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[Inherited retinal or optic nerve disorders – five steps to diagnosis].

An early diagnosis of inherited retinal or optic nerve disorders is often delayed due to unspecific clinical signs, multiple clinical manifestations a...
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