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Prof. Dr. med. H. S. Füeßl Internist und Gastroenterologe Privatpraxis für Integrative Medizin München

Das stiftet oft Verwirrung

Automatisierung und Rationalisierung der Laboratoriumsdiagnostik brachten es mit sich, dass auch ohne besondere Fragestellung eine Fülle von Befunden erhoben werden. In der Folge kommt es bei Abweichungen von der Norm zu Diskussionen sowie Verwirrung bei Arzt und Patient. Spitzenreiter bei diesem Problem ist das Blutbild.



Von allen Laboruntersuchungen wird das Blutbild am häufigsten durchgeführt. Die schiere Masse – oft auch ohne spezifische Fragestellung – muss es nach den Gesetzen der Statistik mit sich bringen, dass auch Befunde erhoben werden, die niemand erwartet hat, weil sie in keinem sofort erkennbaren Bezug zur klinischen Symptomatik stehen. Häufig wird auch auf den zweiten Blick kein Zusammenhang erkennbar – vielleicht auch, weil es keinen gibt. Viele Patienten wollen ihre Laborbefunde heute mit nach Hause nehmen, um sich im Internet, anhand einschlägiger Bücher und anderer Ratgeber über deren Bedeutung zu informieren. Meistens wird dadurch aber mehr Verwirrung gestiftet. Auch messen Laien der Labordiagnostik eine sehr große Bedeutung zu, weil sie scheinbar objektive Zahlen generiert. Es kommt aber nur selten vor, dass durch eine Laboruntersuchung allein eine Diagnose gestellt werden kann. Viel häufiger treten irrelevante Normabweichungen, Veränderungen aufgrund von Lebensgewohnheiten oder chronischen Noxen sowie Sekundärphänomene auf. Daher bedürfen Laborbefunde einer sachkundigen Einordnung.

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Anämie Nach den WHO-Kriterien weisen erwachsene Männer mit einem Hämoglobin von < 13 g/dl und Frauen von < 12 g/dl unabhängig vom Alter eine Anämie auf. Bei Schwangeren liegt der Grenzwert bei 11,0 g/dl. Kinder zwischen dem 6. Lebensmonat und 6. Lebensjahr sind anämisch, wenn ihr Hämoglobin unter 11,0 g/dl liegt, zwischen dem 6. und 18. Lebensjahr liegt die Grenze bei 12,0 g/dl. Auch Hämatokrit und Erythrozytenzahl wären zur Definition einer Anämie geeignet, haben sich im klinischen Alltag aber nicht durchgesetzt. Bei Patienten, die die o. g. Grenzen unterschreiten, sollte man die in Tab. 2 zusammengestellten Punkte abfragen. Die Symptome werden aufgrund einer langsamen Entwicklung oft kaum registriert, frühere Erkrankungen, die Einnahme von Medikamenten und Drogen oder ein schädlicher Alkoholkonsum werden zunächst nicht erwähnt, da der Patient keinen Zusammenhang sieht. Der hohe Anteil von Migranten lässt die Prävalenz genetisch determinierter Hämoglobinopathien auch in Deutschland ansteigen. Die weitere Diagnostik richtet sich nach den Ergebnissen der Checkliste (Tab. 2). Bei einer gesunden jungen Frau

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Der überraschende Blutbildbefund Abb. 1 Blutausstrich bei chronisch lymphatischer Leukämie (Gesamt-Leukozytenzahl 68 G/l).

mit Menorrhagien kann man sich mit der Bestimmung des Ferritins begnügen und eine Eisentherapie beginnen. Bei Männern und älteren Personen sind eine umfangreiche Labordiagnostik und apparative Untersuchungen zur weiteren Klärung erforderlich. Dazu gehört die mikroskopische Blutbildbeurteilung, die Bestimmung von Retikulozyten, CRP, BSG, Kreatinin, Folsäure, Vitamin B12, Bilirubin, LDH und Haptoglobin. Je nach Laborkonstellation kann auch die Bestimmung des löslichen Transferrin-Rezeptors oder von Zinkprotoporphyrin, der Methylmalonsäure im Serum und der Gerinnungsparameter erforderlich sein. Gastro- und Koloskopie fahnden nach okkulten Blutverlusten aus Malignomen, Biopsien von Magen- und Duodenalschleimhaut nach atrophischer Gastritis oder Zottenatrophie, z. B. bei Sprue oder Morbus Whipple. RöntgenThorax, Sonografie des Abdomens, Computertomografie (CT) und gynäkologische Untersuchung zielen ebenfalls auf das Auffinden von Malignomen ab. Einordnung der Anämie

Für die Einordnung von Anämien sind die Retikulozyten und das mittlere korpusku-

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Tabelle 1

Exemplarische Normwerte des Blutbilds Absolut

Relativ (Leukozyten, %)

Leukozyten

4,0–10,0 G/l

Thrombozyten

150–450 G/l

Erythrozyten

4,0–6,0 T/l

Hämoglobin

12,0–17,0 g/dl

Mittleres korpuskuläres Volumen (MCV)

80–100 fl

Mittlere korpuskuläre Hämoglobinkonzentration (MCH) Segmentkernige Granulozyten

25–35 pg/Zelle 3,0–7,0 G/l

55–65

Stabkernige Granulozyten

0,15–0,4 G/l

3–5

Eosinophile Granulozyten

0,05–0,25 G/l

1–3

Basophile Granulozyten

0,0–0,05 G/l

0–1

Monozyten

0,3–0,5 G/l

3–7

Lymphozyten

1,5–3,0 G/l

25–45

läre Volumen (MCV) besonders wertvoll. Über die Retikulozyten lässt sich beurteilen, ob das Knochenmark ausreichend Blut bilden kann oder nicht. Bei niedrigem MCV liegt mit größter Wahrscheinlichkeit eine Eisenmangelanämie vor, die entweder durch chronischen Blutverlust oder durch eine chronisch entzündliche Erkrankung bedingt sein kann. Ist das MCV erhöht, sollte die Diagnostik primär auf einen Vitamin-B12und Folsäuremangel abzielen, sei es primär durch eine Magen-Darm-Erkrankung oder sekundär durch eine exogene Noxe, insbesondere eine Mangelernährung oder erhöhten Alkoholkonsum. Anämien mit normalem MCV kommen bei chronischen Nierenerkrankungen und endokrinen Störungen vor. Vergleich mit älteren Befunden

Ein einfaches Prinzip, das grundsätzlich bei veränderten Laborbefunden gilt, wird im diversifizierten deutschen Gesundheitssystem leider häufig vernachlässigt: der Vergleich mit älteren Laborbefunden. War die Veränderung schon vor Jahren vorhanden, lenkt das die Diagnostik in eine völlig andere Richtung. Erythrozytosen Bei einer Vermehrung des Hämoglobins > 18,5 g/dl bei Männern und > 16,5 g/dl bei Frauen stellt sich die Frage, ob diese

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Veränderung primär oder sekundär ist. Bei der Polycythaemia vera ist die Erythrozytose durch einen klonalen Stammzelldefekt der Hämatopoiese bedingt, bei der die Erythropoietin-unabhängige Proliferation der Erythropoiese im Vordergrund steht. Daneben finden sich auch häufig eine Neutrophilie und Thrombozytose als Zeichen einer gesteigerten Granulo- und Megakaryopoiese. Die Erkrankung tritt meist zwischen dem 60. und 65. Lebensjahr auf, die Prognose ist insgesamt günstig und die Lebenserwartung unter Therapie nur leicht vermindert. Wesentlich häufiger sind sekundäre Erythrozytosen (früher Polyglobulie), bei denen es aufgrund einer internistischen Grunderkrankung mit chronischer Hypoxie zur reaktiven Vermehrung der Erythrozyten kommt. Dazu gehören v. a. Herz- und Lungenerkrankungen, aber auch Hämatome und Tumoren. Auch bei starken Rauchern können Erythrozytosen auftreten. Bei einer Verminderung des Plasmavolumens im Rahmen einer Exsikkose können die Erythrozyten ebenfalls erhöht sein. In diesem Fall handelt es sich um eine sog. Pseudoerythrozytose. Selten sind kongenitale Erythrozytosen, z. B. bei Veränderungen des Sauerstoff-Sensings oder bei EPO-Rezeptor-Mutationen.

Leukozytose Zufällig entdeckte Leukozytosen sind meist harmloser Natur, rufen jedoch erfahrungsgemäß bei Patienten große Besorgnis hervor. Leukozytenvermehrung bei asymptomatischen Personen ohne naheliegende klinische Erklärung wie Entzündungen oder Infektionen werden als Leukozytose ohne klinisches Korrelat bezeichnet. Physiologisch erhöhte Leukozytenzahlen können bei starken körperlichen Anstrengungen, in Stresssituationen, postprandial, in der Schwangerschaft und bei Neugeborenen auftreten. Auch bei starkem Nikotinabusus und unter Glukokortikoiden werden Leukozytosen beobachtet. Erhöhte Leukozytenzahlen können auch noch Jahre nach Einstellung des Nikotinkonsums persistieren. Eine zufällig entdeckte, symptomlose Leukozytose sollte vor weiterer Diagnostik immer erst kontrolliert werden. Neben Beurteilung des maschinell erstellten Differenzialblutbilds wird man eine mikroskopische Zelldifferenzierung anstreben. Überwiegen die Lymphozyten, sollte man v. a. bei älteren Patienten an eine chronisch lymphatische Leukämie denken. Eine pathologische Linksverschiebung bis zum Myeloblasten zeigt sich bei Tabelle 2

Checkliste für die Anämieanamnese

− −− −− − −− −− −− −− − −

Geschwindigkeit der Anämieentwicklung Schwindel und Synkope Blutungsquellen (Stuhl, Urin, Lungen, Menstruation) Ikterus und dunkler Urin Infektionen (Parvovirus B19, Hepatitis, HIV) Organsymptome (Magen, Darm, Harnblase) Lymphadenopathie, Neoplasien Petechien und Hämatome Medikamente und Drogen Diät (vegetarisch) Alkoholkonsum Krankhafte Essgelüste (Pica-Syndrom) Aderlass Vorangehende Transfusionen Positive Familienanamnese für Anämie Ethnische Herkunft

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Zufällig entdeckte Blutbildveränderungen sind meist harmlos.

der chronisch myeloischen Leukämie. Blasten und atypische Zellen sind Hinweise auf eine akute Leukämie. Aus der Leukozytenzahl lassen sich nur bedingt Rückschlüsse ziehen. So kann es bei schweren Infektionen oder Hämolysen zur sog. leukämoiden Reaktion kommen mit Leukozytenzahlen > 50 G/l und Vorläuferzellen, ohne dass es sich um eine Neoplasie handelt. Leukozytenzahlen > 100 G/l sind dagegen fast immer neoplastisch bedingt. Leukozytopenie Eine Leukozytopenie ist eine Verminderung der Gesamtleukozyten auf < 3,5 G/l. Fast immer handelt es sich um Granulozytopenien mit Verminderung der Neutrophilen unter 1,5 G/l. Ein Wert < 0,5 G/l gilt als Agranulozytose. Chronische asymptomatische Leukozytopenien kommen am häufigsten bei Viruserkrankungen vor, insbesondere bei Hepatitis B, Mononukleose oder HIV-Infektion. Auch bei Zytomegalie, Hepatitis C, Masern, Mumps oder Röteln können sie passager auft reten. Unter den bakteriellen Infektionen kommen als Ursache Typhus, Shigellenenteritis, Tularämie, Brucellose oder Tuberkulose in Betracht. Die häufigsten Auslöser von klinisch manifesten Leukozytopenien und Agranulozytosen sind Arzneimittel, v. a. Metamizol, Clopidogrel, Mianserin, Sulfasalazin, Phenylbutazon, Penicilline, Cephalosporine, Clozapin, Thiamazol und Carbimazol. Auch durch Zytostatika kann es zur Agranulozytose kommen.

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Differenzialblutbild Bei myeloproliferativen Erkrankungen des Knochenmarks kann potenziell jeder Zelltyp pathologisch vermehrt sein. Im Vergleich zu „benignen“ Veränderungen sind diese Erkrankungen aber selten. Eine Eosinophilie findet man bei parasitären Infektionen, allergischen Erkrankungen und unter Glukokortikoiden. Bei Rekonvaleszenz von Infektionen kann es zu einer reaktiven Eosinophilie kommen („Morgenröte“ der Erkrankung). Lymphozytosen werden bei Rauchern, in starken Stresssituationen, bei CMV-Infektionen, granulomatösen Erkrankungen und unter Glukokortikoiden gefunden. Eine Monozytose kann bei entzündlichen Erkrankungen wie Sarkoidose oder Morbus Crohn, nach Splenektomie, in der Schwangerschaft, bei Depression und im Rahmen einer chronisch myelomonozytären Leukämie vorkommen. Thrombozytose Primäre Thrombozytosen kommen bei klonalen Knochenmarksprozessen, meist im Rahmen von myeloproliferativen Syndromen vor. Je nach Vermehrung des Zelltyps unterscheidet man eine essenzielle Thrombozythämie oder Polycythaemia vera, v. a. mit Vermehrung der Erythrozyten. Seltener kommen Thrombozytosen auch bei Osteomyelofibrose oder chronischer myeloischer Leukämie vor. Eine reaktive oder sekundäre Thrombozytose kann bei Infektionen, Anämien oder chronisch entzündlichen und malignen Erkrankungen auft reten. Allein anhand der Thrombozytenzahl ist eine Unterscheidung nicht zu treffen, da auch bei reaktiver Thrombozytose exzessive Plättchenzahlen von > 1000 G/l beschrieben wurden. Allerdings ist bei reaktiven Veränderungen eine gewisse Dynamik feststellbar, sodass Verlaufskontrollen weiterhelfen. Thrombozytopenie Die normale Thrombozytenzahl eines gesunden Menschen liegt bei 150–450 G/l. Allerdings wird dieser Wert bei etwa 2,5% der gesunden Bevölkerung unterschritten. Die meisten Thrombozy-

topenien sind asymptomatisch und werden zufällig entdeckt. Nur bei sehr niedrigen Thrombozytenzahlen (< 10 G/l) können spontane Blutungen auft reten. Als erstes sollte eine Pseudothrombozytopenie ausgeschlossen werden. Das reine In-vitro-Phänomen wird durch den Gerinnungshemmer EDTA in den Blutbildröhrchen ausgelöst. Durch die Verklumpung der Thrombozyten werden in automatischen Teilchenzählern deutlich weniger Thrombozyten gezählt als in vivo vorhanden sind. Zur Klärung sind Thrombozytenbestimmungen im Citrat- oder Heparinblut und mikroskopische Blutbilduntersuchungen hilfreich. Als echte Erkrankung spielen bei asymptomatischen Patienten die autoimmunologisch vermittelte primäre Immunthrombozytopenie (ITP), die Heparin-induzierte Thrombozytopenie (HIT) und Thrombozytopenien bei Leberzirrhose die größte Rolle. Auch durch andere Autoimmunerkrankungen, medikamentöse oder toxische Knochenmarksschädigung oder Infektionen kann es zu Thrombozytopenien kommen. Die Patienten sollten sonografisch auf eine Splenomegalie untersucht werden. Literatur beim Verfasser Anschrift des Verfassers: Prof. Dr. med. Hermann S. Füeßl Privatpraxis für Integrative Innere Medizin Renatastraße 50, D-80639 München E-Mail: [email protected]

Überraschender Blutbildbefund

Fazit für die Praxis 1. Die meisten zufällig entdeckten und unerwartet auftretenden Blutbildveränderungen sind harmloser Natur.

2. Sie können aber erhebliche Verunsicherung bei den betroffenen Patienten auslösen, wenn diese damit allein gelassen werden.

Keywords Incidental findings of blood count Anaemia – leucocytosis – leucocytopenia – platelet count

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