Hauptreferate: Aktuelle Habilitationen Pathologe 2013 · [Suppl 2] · 34:251–259 DOI 10.1007/s00292-013-1813-y Online publiziert: 8. November 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

C. Weiler

Die häufigste Erkrankung des Bewegungsapparats sind Rückenschmerzen, in Deutschland haben 80% der Bevölkerung einmal in ihrem Leben Rückenschmerzen [16]. In der Mehrzahl der Fälle, insbesondere bei rezidivierendem Verlauf, besteht eine Assoziation zur Bandscheibendegeneration. Die volkswirtschaftliche Bedeutung der Bandscheibendegeneration ist immens, mit jährlich indirekten und direkten Kosten von ca. 50 Mrd. EUR in Deutschland. Die Bandscheibe weist ausgeprägte altersabhängige Veränderungen auf, dieser Umstand macht die Abgrenzung normaler physiologischer Alterungsprozesse von protrahierten (pathologischen) Veränderungen schwierig.

IX. Morphologisch ähneln die Zellen Chondrozyten. F Der Anulus fibrosus (AF) besteht zum Großteil aus konzentrischen Kollagenfaserbündeln (65–70% des Trockengewichts), die den zentral gelegenen NP umhüllen. Neben dem Hauptbestandteil Kollagen I kommt noch eine Reihe weiterer Kollagene wie Z. B. die Kollagene II, III, V, VI, IX, XI vor. Der Hydratationsgrad beträgt 60–70%, 10–20% des Trockengewichts entsprechen Proteoglykanen (PG). Phänotypisch ähneln die Zellen Fibroblasten. F Die Endplatte (EP) dient als Schnittstelle zwischen Wirbelkörpern, dem NP und dem AF, morphologisch entspricht sie in vielerlei Hinsicht dem Gelenkknorpel.

Kollagen I und II repräsentieren den Hauptanteil der Kollagene (ca. 80%). Die Kompressionseigenschaften der BS sind Folge des hohen Gehalts an PG, in erster Linie handelt es sich dabei um Aggrecan, welches mit Hyaluronsäure Komplexe bildet, sowie in geringerem Umfang Versican. Diese aggregationsfördernden PG führen über ihre Wasserbindungsfähigkeit zu einem osmotischen Druck, der für die Kompressionseigenschaften der Bandscheibe verantwortlich ist.

Jede Störung im Zusammenspiel dieser verschiedenen Elemente kann zu einer verminderten Funktionalität der Bandscheibe führen.

Morphologische Charakteristika

Morphologie und Matrixzusammensetzung der Bandscheibe Die humane Bandscheibe hat eine komplexe Struktur, um die an sie gestellten biomechanischen Anforderungen (Kompression, Rotation, Flexion und Extension) zu erfüllen. Makroskopisch lässt sich die Bandscheibe (BS) in 3 Komponenten einteilen: F Der Nucleus pulposus (NP) stellt die innere zentral gelegene Struktur der Bandscheibe dar, er besteht aus einer­ gelatinösen Masse mit geringer Zellularität (ca. 1% des Volumenanteils).­ Die Extrazellulärmatrix (EZM) ist reich an Proteoglykanen (50% des Trockengewichts), Kollagenen (15–20% des Trockengewichts) und Wasser (70–90% des Nassgewichts). Den Hauptbestandteil bildet das Kollagen­ II­sowie in deutlich geringerem Umfang die Kollagene I, VI,

München

In-situ-Analyse von Pathomechanismen der humanen Bandscheibendegeneration

Bandscheibendegeneration Ganz allgemein versteht man unter dem Prozess der Bandscheibendegeneration eine zellulär gesteuerte abweichende Reaktion auf eine progressive strukturelle Störung [1].

Die Bandscheibe weist wie kein zweites­ Element des Bewegungsapparats ausgeprägte altersabhängige Veränderun-

Tab. 1  Histologischer Degenerationsscore (HDS) Kriterium Zelldichte (Chondrozytenproliferation)

Strukturelle Veränderungen (Risse/Spalten) Granuläre Veränderungen Mukoide Veränderungen Zelltod Histologischer Degenerationsscore

Graduierung 0 keine Proliferation 1 vermehrte Zelldichte 2 Zusammenschluss zweier Chondrozyten 3 kleine Zellklone, einige Chondrozyten in Grüppchen, 2–7 Zellen 4 mittelgroße Zellklone, >8 Zellen 5 große Zellklone, >15 Zellen 6 Narbe/Gewebedefekt 0 nicht vorhanden 1 gering vorhanden 2 mittelgradig vorhanden 3 reichlich vorhanden 4 Narbe/Gewebedefekt 0–22 Punkte Der Pathologe · Supplement 2 · 2013 

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Hauptreferate: Aktuelle Habilitationen

Abb. 1 9 Klassische histomorphologische Zeichen degenerativer Bandscheibenveränderungen. (Nach [14])

gen auf. Dieser Umstand macht die Abgrenzung normaler physiologischer Alterungsprozesse von protrahierten (pathologischen) Veränderungen schwierig.

Makroskopische Veränderungen Im Rahmen der Bandscheibendegeneration zeigen die einzelnen Bandscheibenkompartimente (NP/AF/EP) sowie die angrenzenden Wirbelkörper ein unterschiedliches Muster der Alterationen [10]. Grundsätzlich weisen diese Umbauprozesse einen altersabhängigen Verlauf auf, mit stärkerer Ausprägung in höheren Lebensaltern.

Nucleus pulposus

Es zeigt sich ein Übergang des gelatinösen NP in verdichtetes fibröses Gewebe, mit z. T. bräunlicher Verfärbung der Matrix als Ausdruck einer nichtenzymatischen Glykierung und oxidativer Stressschädigung. Als Endstrecke der Veränderungen findet man parallel zur Endplatte verlaufende Spalten- und Rissbildungen bzw. Vernarbungen.

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Der Pathologe · Supplement 2 · 2013

Anulus fibrosus

Im Initialstadium zeigen sich eine zunehmende Fibrosierung sowie mukoides Material zwischen den Lamellen. Bei Progredienz der Veränderungen findet man eine ausgedehnte muköse Infiltration, ein Verlust der anulär-nukleären Abgrenzbarkeit sowie fokale Zerreißungen bzw. Rissbildungen.

Endplatte

Die initial einheitlich dicke hyaline Knorpelschicht weist eine unregelmäßige Dicke sowie fokale Defekte auf. In akzelerierten Stadien breitet sich vom subchondralen Knochengewebe her Faserknorpel aus. Darüber hinaus zeigen sich Unregelmäßigkeiten und fokale Sklerosierungen im subchondralen Knochen bis hin zur diffusen Sklerose.

Wirbelkörper

Die initial abgerundeten Ränder der Wirbelkörper werden mit beginnender Chondro- und Osteophytenbildung zunehmend spitzer.

Mikroskopische Veränderungen Zu den histologischen Kardinalsymptomen (. Abb. 1) der Bandscheibendegeneration gehören: F Chondrozytenproliferation in Form von Brutkapseln, F granuläre Matrixdegradationen, F Zunahme saurer Mukopolysaccharide,­ F Risse bzw. Spalten und F Zellnekrose bzw. -apoptose.

Entwicklung und Validierung eines histologischen Degenerationscores (HDS) Die Bandscheibe imponiert durch ausgeprägte altersassoziierte Veränderungen­ mit makroskopischem und zellulärem­ Gestaltwechsel und umfangreichen Matrixumbauvorgängen bis hin zur Vernarbung. Diese histomorphologischen Veränderungen sind zwar im Einzelnen bekannt, eine umfassende detaillierte mikroskopische Analyse dieser charakteristischen Veränderungen lag jedoch bisher nicht vor. Auf der Basis von 180 kompletten sagittalen lumbalen Bewegungssegmenten haben wir 11 histolo-

Zusammenfassung · Abstract Pathologe 2013 · [Suppl 2] · 34:251–259  DOI 10.1007/s00292-013-1813-y © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013 C. Weiler

In-situ-Analyse von Pathomechanismen der humanen Bandscheibendegeneration Zusammenfassung Hintergrund.  Rückenschmerzen sind eine der Hauptursachen für Schmerzen und Behinderung in der westlichen Welt, mit einer ständig steigenden Lebenszeitprävalenz von ca. 60–85%. Die Bandscheibendegeneration wird als eine der Hauptursachen von Rückenschmerzen angesehen. Material und Methoden.  Es erfolgten eine semiquantitative Analyse und Klassifikation der makroskopischen und mikroskopischen Veränderungen der Bandscheibendegeneration. Zusätzliche Methoden wie Immunhistochemie, In-situ-Hybridisierung und In-situZymographie wurden zur Analyse des zellulären Phänotyps und der Matrixveränderungen eingesetzt. Ergebnisse.  Wir haben ein verlässliches und praktikables histologisches Klassifikationssystem für die degenerativen Veränderungen der lumbalen Bandscheibe entwickelt und getestet. Dieses System dient als Referenzstandard der histologischen Klassifikation und stellt eine wichtige Bezugsgröße weiter-

führender immunhistochemischer und molekularer Analysen zur Bandscheibendegeneration dar. Darüber hinaus konnten wir nachweisen, dass intrinsische (genetische) und extrinsische (z. B. Übergewicht) Faktoren einen profunden Einfluss auf den Prozess der Bandscheibendegeneration haben. Notochordial differenzierte Zellen sind in einer erheblichen Anzahl in adulten lumbalen Bandscheiben nachweisbar. Ihr Auftreten ist mit distinkten (frühen) histologischen Zeichen der altersabhängigen Bandscheibendegeneration assoziiert. Während der Bandscheibendegeneration tritt eine progressive und signifikante Höhenminderung als Folge der Matrixresorption auf. Dieser Matrixverlust ist Folge eines Ungleichgewichts zwischen Matrixsynthese und -degradation. Als Motor dieser Umbauvorgänge dienen inflammatorische Reaktionen mit ursächlicher Beteiligung residenter Bandscheibenzellen. Schlussfolgerung.  Zusammengefasst weisen die hier durchgeführten Untersuchun-

gen auf ein multifaktorielles Geschehen mit starkem intrinsischem (genetischem) und extrinsischem (z. B. mechanischem) Hintergrund der Bandscheibendegeneration hin. Der Prozess der Bandscheibendegeneration beginnt bereits sehr früh in der zweiten Lebensdekade und zeigt eine hohe interindividuelle Schwankungsbreite. Der Verlust der regenerativen Potenz der Bandscheibe ist möglicherweise Ausdruck eines Mangels an Stammzellen bzw. notochordial differenzierten Zellen. Die ortsständigen Bandscheibenzellen sind an der Propagierung der inflammatorischen Reaktion mit gesteigerter Matrixdegradation und -resorption sowie reduzierter Matrixsynthese beteiligt. Schlüsselwörter Klassifikationssystem · Histologischer Degenerationsscore (HDS) · Notochordzellen · Matrixmetalloproteinasen · Inflammation

In situ analysis of pathomechanisms of human intervertebral disc degeneration Abstract Background.  Low back pain is one of the major causes of pain and disability in the western world, with a constantly rising lifetime prevalence of approximately 60–85%. Degeneration of the intervertebral disc is believed to be a major cause of low back pain. Materials and methods.  Semiquantitative macroscopic and microscopic changes­ of the intervertebral disc were assessed and classified. Furthermore additional methods,­ such as immunohistochemistry, in situ hybridiza­ tion and in situ zymography were used to ana­lyze phenotypic cellular and matrix changes. Results.  We have developed and tested­ a practicable, valid and reliable histological­ classification system for lumbar discs which can serve as a morphological reference framework to allow more sophisticated mo-

gische Variablen in den beiden Bandscheibenkompartimenten (AF/NP) sowie der Endplatte untersucht (. Abb. 2). Dabei zeigte eine Vielzahl der un­ tersuchten­ Parameter eine statistisch signifikante­ Korrelation zum Lebensalter der untersuchten Individuen. Auf der Grundlage dieser semiquantitativen Analyse von 20.250 histologischen Begut-

lecular biological studies on the pathogenesis of ageing and degeneration of discs. Secondly, we were able to demonstrate that intrinsic (genetic) and extrinsic (e.g. overweight) factors have a profound effect on the process of disc degeneration. Cells with a notochord-like phenotype are present in a considerable fraction of adult lumbar intervertebral discs. The presence of these cells is associated with distinct features of (early) age-related disc degeneration. During the process of disc dege­neration, the intervertebral disc shows a progressive and significant reduction in height due to tissue resorption. This matrix loss is related to an imbalance between matrix synthesis and degradation. During this process an inflammatory reaction takes place and resi­dent disc cells are causatively involved.

achtungen haben wir ein histomorphologisches Klassifikationsschema (HDS) entwickelt (. Tab. 1) und hinsichtlich Reliabilität und Praktikabilität getestet [4]. In einem 2. Schritt haben wir dieses Klassifikationsschema auf ein neues Kollektiv teils autoptisch, teils chirurgisch gewonnener Bandscheibenpräparate mit dem Ergebnis einer hervorragenden Interrater-

Conclusions.  In summary, disc degeneration is a multifactorial disease with a strong intrinsic (hereditary) and extrinsic (e.g. mechani­ cal factors) background. The process starts as early as in the second decade of life and shows high interindividual differences. The loss of regenerative capacity in the intervertebral disc is probably related to the loss of stem cells, e.g. notochord-like cells. Resident disc cells are involved in the inflammatory reaction with increased matrix degradation, resorption and reduced matrix synthesis. Keywords Classification · Histological degeneration score (HDS) · Notochord cells · Matrix metalloproteinases · Inflammation

reliabilität angewendet. Darüber hinaus zeigte die Graduierung der Bandscheibenveränderungen eine hochsignifikante­ Korrelation zum Lebensalter und zum makroskopischen Grad der Bandscheibendegeneration. Diese detaillierte histologische Aufarbeitung dient somit als Referenzstandard der histologischen Klassifikation und stellt eine wichtige BezugsDer Pathologe · Supplement 2 · 2013 

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Hauptreferate: Aktuelle Habilitationen 2,7

2,4

*p ≤ 0,0001

2,1

Mittelwert

1,8

1,5

1,2

0,9

0,6

0,3

0 Fetal

0-1 M.

1M.2J

3-10 J.

1116 J.

1720 J.

2130 J.

3150 J.

5170 J.

Notochordzellen*

Zelldichte*

Zelltod*

Mukoide Deg.*

Granuläre Deg.*

Konzentrische Risse*

Radiale Risse*

Randläsion

Randneovaskularisation

Narbe

Gewebedefekt

> 71 J.

Abb. 2 8 Abhängigkeit der untersuchten histologischen Variablen der Bandscheibendegeneration vom Lebensalter der Individuen. * Signifikanzniveau, M. Monate, J Jahre, Deg. Degeneration. (Adaptiert nach [4])

größe weiterführender immunhistochemischer und molekularer Analysen dar. Interessanterweise zeigen sich bereits im jugendlichen Alter (2. Lebensdekade) charakteristische histomorphologische Veränderungen, die eine Folge der in der 1. Lebensdekade auftretenden Reduktion des Blutflusses (Obliteration der Gefäße in der Endplatte) darstellen. Der in der Folge auftretende Nährstoffmangel führt offenbar zu einer Störung der Homöostase zwischen Matrixdegradation und -synthese­ mit Überwiegen der katabolen Remodellingvorgänge.

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Der Pathologe · Supplement 2 · 2013

Pathogenese Individuelle (endogene) Prädisposition

Die Bandscheibendegeneration wird als multifaktorielle Erkrankung charakterisiert, wobei einer zugrundeliegenden genetischen Prädisposition eine hohe Bedeutung beigemessen wird. Auf der Basis dieser Überlegungen würde man erwarten, dass in genetisch prädisponierten Individuen alle Wirbelsäulenabschnitte­ (HWS/BWS/LWS) überdurchschnittliche degenerative Bandscheibenveränderungen aufweisen. Zur Überprüfung dieser­ Hypothese erfolgte eine umfassende­ Analyse der histologisch nachweisbaren Parameter der Bandscheibendegenera-

tion in unterschiedlichen Wirbelsäulenabschnitten. Im Detail wurden das Auftreten, die Lokalisation und die Häufigkeit der histomorphologischen Veränderungen im Anulus fibrosus (AF) und Nucleus pulposus (NP) der Halswirbelsäule (C5/6), der Brustwirbelsäule (Th2/3) und der Lendenwirbelsäule (L2/3) anhand autoptisch gewonnener kompletter Bandscheibenpräparate (47 Individuen/Altersbereich 0–95 Jahre) untersucht [15]. In allen Wirbelsäulenabschnitten zeigte sich das größte Ausmaß der histomorphologischen Veränderungen im NP mit einer in Relation zum Lebensalter hin zunehmenden Ausprägung. Im Hinblick auf die verschiedenen Wirbelsäulenabschnitte zeigten die lumbalen Bandscheiben die ausgeprägtesten degenerativen Veränderungen, wohingegen zwischen den zervikalen und thorakalen Bandscheiben keine statistisch signifikanten Unterschiede bestanden. Zusammenfassend konnten wir in lumbalen Bandscheiben – insbesondere im NP – die ausgeprägtesten histomorphologischen Zeichen der Bandscheibendegeneration nachweisen. Die intraindividuelle Korrelation der Schweregrade der degenerativen Veränderungen in den unterschiedlichen Wirbelsäulenabschnitten zeigte eine statistisch signifikante individuelle Korrelation. Der Nachweis einer intraindividuellen Korrelation degenerativer Veränderungen­ in allen 3 untersuchten Wirbelsäulenabschnitten stützt die Annahme individueller (genetischer) prädisponierender Faktoren, die ursächlich am Prozess der altersabhängigen Bandscheibendegeneration beteiligt sind.

Einfluss von Belastung und Lebensweise (exogene Faktoren)

Initial hat man bei der Betrachtung der Ätiologie der Bandscheibendegeneration den mechanischen Faktoren eine Hauptbedeutung beigemessen [5]. Unterstützt wurde diese Annahme auch durch die Beobachtung, dass der Schweregrad der Bandscheibendegeneration in der lumbalen Wirbelsäule in der Regel am stärksten ausgeprägt ist [6]. Trotz zahlreicher Studien konnte jedoch kein allgemein akzeptierter und schlüssiger Nachweis für eine wichtige Rolle von mechanischen Fakto-

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[In situ analysis of pathomechanisms of human intervertebral disc degeneration].

Low back pain is one of the major causes of pain and disability in the western world, with a constantly rising life-time prevalence of approximately 6...
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