Sollten wir bei Fibromyalgie/ IBS-Patienten nach Zöliakie suchen? Should We Look for Celiac Disease in Fibromyalgia/IBS Patients? Z Gastroenterol 2014; 52: 601–602 M. Schumann Rodrigo L, Blanco I, Bobes J, de Serres FJ. Remarkable prevalence of celiac disease in patients with irritable bowel syndrome plus fibromyalgia in comparison with those with isolated irritable bowel syndrome: a case-finding study. Arthritis Research & Therapy 2013, 15: R201.

Hintergrund Das Reizdarmsyndrom (engl. irritable bowel syndrome, IBS) ist eine hochprävalente Erkrankung (Prävalenz in Mitteleuropa ca. 10 %), die dennoch weitestgehend unverstanden ist (Camilleri et al. Am J Physiol Gastrointest Liver Physiol 2012; 302: G1075). Zur Diagnosestellung eines IBS stehen bislang nur anamnestisch zu erfassende Positivkriterien bzw. der Ausschluss anderer Darmerkrankungen zur Verfügung, jedoch keinerlei Biomarker. Die meisten Mediziner gehen von einer heterogenen Gruppe („mixed bag“) zugrunde liegender Pathophysiologien aus. Daher existiert eine Vielzahl an Versuchen, Subgruppen des IBS mittels verschiedener pathophysiologischer Ansätze zu erklären; sie umfassen u. a. eine pathologisch veränderte gastrointestinale Motilität, chronische Entzündungen des Darmes und Defekte der mukosalen Barriere. Darüber hinaus gibt es Daten, die eine Assoziation des IBS mit Zöliakie zeigen, sowohl hinsichtlich einer erhöhten Prävalenz der Zöliakie in IBS-Kollektiven als auch einer IBS-ähnlichen Symptomatik von Zöliakiepatienten trotz glutenfreier Diät (GFD) (Sanders et al. Lancet 2001; 358 (9292): 1504; Jadallah et al. World J Gastroenterol 2009; 15: 5321; Sainsbury et al. Clin Gastroenterol Hepatol 2013; 11 (4): 359). Auch ein genetischer Marker für Zöliakie, HLA-DQ2, soll bei IBS-Patienten mit einer diarrhödominanten Symptomatik vermehrt auftreten (Wahnschaffe et al. Gastroenterology 2001; 121 (6): 1329). Allerdings ist die Hypothese, zöliakieähnliche Pathologien seien verantwortlich für einen relevanten Anteil der IBS-Pathophysiologie, nicht unwidersprochen: In der Studie von Cash et al. ließ sich eine Assoziation

zwischen Zöliakie und IBS nicht bestätigen (Cash et al. Gastroenterology 2011; 141 (4): 1187). Das Fibromyalgiesyndrom (FMS) umfasst einen Symptomenkomplex bestehend aus Schmerzen in verschiedenen Körperregionen, Morgensteifigkeit und Tagesmüdigkeit (Späth et al. Zeitschrift für Rheumatologie 2011; 7: 573). Um die 1990 veröffentlichten Fibromyalgiekriterien des American College of Rheumatology (ACR) zu erfüllen, müssen 11 oder mehr sog. Tender Points druckschmerzhaft palpabel sein (Wolfe et al. Arthritis Rheumatol 1990; 33: 160). Die Ätiopathogenese des FMS ist ebenfalls nicht gut verstanden – es werden neben einer genetische Disposition (i. B. Polymorphismen in neurotransmissionsassoziierten Genen) die Bedeutung vorangegangener viraler Infekte sowie posttraumatische Stressreaktionen als FMS-auslösend diskutiert (Späth et al. Zeitschrift für Rheumatologie 2011; 7: 573). In den letzten 2 Jahrzehnten hat eine Reihe epidemiologischer Studien zur Zöliakie eine Prävalenz dargelegt, die ca. 10-fach höher ist als zuvor angenommen. Zuletzt legten Mustalahti et al. Daten aus Finnland, England, Deutschland und Italien vor, nach denen die Zöliakieprävalenz durchschnittlich 1 % in Europa beträgt (Mustalahti et al. Ann Med 2010; 42 (8): 587). Dabei wurde klar, dass ein Großteil der Zöliakiefälle einen silenten oder oligosymptomatischen Verlauf nimmt. Eine Möglichkeit, diese Fälle dennoch zu diagnostizieren, ist bekannten Assoziationen mit anderen (Autoimmun-)Erkrankungen zu folgen. Rodrigo et al. stellten die Frage, ob bei Reizdarmpatienten, bei denen zugleich eine FMS vorliegt, eine Assoziation mit der Zöliakie besteht.

Zusammenfassung Im Rahmen einer Fallkontrollstudie verglichen Rodrigo et al. die Häufigkeit der Zöliakie in den 2 Kollektiven Reizdarmsyndrom mit Fibromyalgie (IBS/FMS) und Reizdarmsyndrom ohne Fibromyalgie (IBS). Eine Zöliakie wurde in der Studie diagnostiziert, wenn eine Transglutaminase-IgA-Serologie erhöht gemessen wurde und gleichzeitig eine Marsh-III-Histologie der duodenalen Mukosa (d. h. Zottenatrophie, Kryptenhyperplasie und duodenale Lmphozytose) vorlag. Nach Anwendung der Ausschlusskriterien umfasste die IBS/FMS-Gruppe 104 Patienten. Diese erfüllten neben den Rom-III-Kriterien für das Reizdarmsyn-

drom auch die o. g. ACR-Kriterien zur Diagnose der Fibromyalgie. Die IBS-Studiengruppe zählte 126 Patienten. Das zentrale Resultat der Studie ist eine signifikant höhere Zöliakieprävalenz in der IBS/FMSGruppe (6,7 %, 95 %-KI: 3,1 – 13.5 %) verglichen mit der IBS-Gruppe (1,6 %, 95 %-KI: 0,1–-6,0 %). Interessanterweise zeigte sich auch bereits ein signifikanter Unterschied bez. der Marsh-I-Läsionen, d. h. solchen Mukosaveränderungen, bei denen sich nur eine intestinale Lymphozytose, aber nicht die o. g. Architekturstörungen fanden: Eine Marsh-I-Schleimhaut fand sich in 56 % (95 %-KI: 46,2 – 64,9 %) der IBS/FMS-Gruppe, aber nur in 16 % (95 %-KI: 10,5 – 23,5 %) der IBS-Fälle. Dies wurde nachvollziehbarerweise durch einen signifikant höheren Anteil HLA-DQ2-positiver Patienten in der IBS/FMS-Gruppe komplementiert: So waren 50 % in der IBS/FMS-Gruppe und nur 24 % in der IBS-Gruppe HLA-DQ2-positiv. Jenseits der DQ2-Diagnostik konnte auch aus den Unterschieden in der Verteilung anamnestisch nachvollzogener weiterer Autoimmunerkrankungen ein Hinweis auf die genetische Verschiedenheit der beiden Gruppen gezogen werden: So fanden sich in der FMS/IBS-Gruppe immerhin 8 Patienten mit Sjögren- und 5 Patienten mit Raynaud-Syndrom, wohingegen sich in der IBS-Gruppe kein Patient mit Sjögren-Syndrom und ein einziger mit Raynaud-Syndrom fand. Ferner war ein deutlicher und statistisch signifikanter Unterschied in der Positivität für ANA- und Anti-TPO-Antikörper zwischen den Gruppen nachweisbar (IBS/FMS: ANA 28 % pos., anti-TPO 11 % pos., IBS: ANA 3 % pos., anti-TPO alle neg.).

Kommentar Die Zöliakie ist – wie oben bereits ausgeführt – mit einer Prävalenz von 1 % eine häufige Autoimmunerkrankung. Die Frage, ob bez. der Zöliakie (auch außerhalb von Studien) demnach Diagnostik im Rahmen eines bevölkerungsweiten Screenings durchgeführt werden sollte, ist bislang ablehnend beantwortet worden. Es ist daher nachvollziehbar, Subgruppen zu untersuchen, für die sich ein Zöliakiescreening lohnen würde. Gängige Beispiele für ein in Subgruppen durchgeführtes Screening auf Zöliakie sind klinische Situationen, wie bei der Erstdiagnose eines Diabetes-mellitus-Typ-I oder einer Hashimoto-Thyreoiditis. Die Studie von Rodrigo et al. kommt zu dem Schluss, dass auch bei IBS-Patienten, die gleichzeitig unter einem Fibromyalgiesyndrom leiden, ein

Schumann M. Sollten wir bei … Z Gastroenterol 2014; 52: 601–602 · DOI http://dx.doi.org/10.1055/s-0034-1366163

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solches Screening auf Zöliakie sinnvoll ist. Dabei ist einzuschränken, dass die Patientenzahl mit jeweils knapp über 100 Patienten pro Studienarm klein ist, was sich auch in der Überschneidung der 95 %Konfidenzintervalle äußert. Die Studienergebnisse finde ich dennoch aufschlussreich, da hier mit der Identifikation einer speziellen IBS-Subgruppe (nämlich den FMS-IBS-Patienten) ein Ansatz aufgezeigt wird, die Widersprüche aus bereits publizierten Daten zur Assoziation von Zöliakie und IBS zu erklären. Eine Stärke der vorgestellten Studie ist die Einbeziehung vieler Co-Variablen aus Anamnese und Diagnostik, die einen komplexen Unterschied zwischen den beiden Gruppen IBS/FMS und isoliertem Reizdarmsyndrom zeichnet und dabei nahelegt, dass sich hinter dem kombinierten IBS/FMS im Unterschied zu der Vergleichsgruppe eine autoimmune Pathogenese verbergen könnte. Sicherlich kann durch den kritischen Leser die durch die vorliegende Studie nicht beantwortete Frage gestellt werden, ob FMS-Patienten, die unter keinem Reizdarmsyndrom leiden, ebenfalls mit einer höheren Wahrscheinlichkeit an einer Zöliakie erkranken. Zu dieser Frage gibt es bislang nur eine Studie an einem sehr kleinen, pädiatrischen Kollektiv, die keine Assoziation des FMS mit der Zöliakie aufzeigen konnte (Taubman et al. Pediatr Rheumatol Online J 2011; 13 (9): 11). Vermutlich werden weitere Studien zu dieser Assoziation folgen. Nur bleibt für mich bei all diesen Ansätzen, silente Zöliakiker zu „enttarnen“, die zent-

rale Frage: Wie wichtig ist es eigentlich, von einer klinisch silenten Zöliakie Kenntnis zu haben? Wie häufig sind schwerwiegende (d. h. zu korrigierende) Malabsorptionssyndrome bei einer Zöliakie, die nicht klinisch overt ist? Und: Steigt die Wahrscheinlichkeit einer Karzinomentwicklung oder lymphoproliferativer T-Zellerkrankungen auch im Kollektiv der silenten Zöliakiker, die nicht eine glutenfreie Diät einhalten? Zur Beantwortung dieser Fragen gibt es auch zukünftig Bedarf an epidemiologischer Forschung, da hier die Datenlage bislang nicht eindeutig ist bzw. auf einer noch unzureichenden Zahl an Studienteilnehmern beruht. Zusammengefasst gibt es eine kleinere Studie, die ein erhöhtes Karzinomrisiko auch für silente Zöliakiker suggeriert und 2 Studien, die dieses nicht zeigen konnten. Das Lymphomrisiko war für silente Zöliakiker in keiner Studie erhöht (Vilppula et al. Dig Liver Dis 2008; 40 (10): 809; Mearin et al. Eur J Gastroenterol Hepatol 2006; 18 (2): 187; Godfrey et al. Gastroenterology 2010; 139 (3): 763). Ferner wurde an einem größeren Kollektiv silenter Zöliakiker ausführlich Diagnostik u. a. hinsichtlich eines Malabsorptionssyndroms unternommen, die lediglich eine mäßig erhöhte Osteoporose- und Hypothyreosewahrscheinlichkeit darstellen konnte, nicht aber eine signifikant erhöhte Mortalität relativ zur Kontrollgruppe (Godfrey et al. Gastroenterology 2010; 139 (3): 763). Daher liegt aktuell die Vermutung nahe, dass der Benefit für den „aufgespürten“ silenten Zöliakiker überschaubar sein könnte. Zur abschließenden Beantwortung die-

ser Frage werden jedoch weitere Studien benötigt. Nicht zu verwechseln ist jedoch dieses klinisch silente Kollektiv mit Zöliakiepatienten, die trotz eines seit Jahren bestehenden Malabsorptionssyndroms (mit entsprechender Symptomatik) erst mit einer erheblichen Latenz erstdiagnostiziert wurden. Hier ist aus der Erfahrung einer Reihe von Studien die Wahrscheinlichkeit eines „komplizierten Verlaufs“ der Zöliakie deutlich erhöht! Dr. Michael Schumann Medizinische Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie Charité Centrum 13, Campus Benjamin Franklin Charité – Universitätsmedizin Berlin 12203 Berlin [email protected]

Kommentierte Referate können von jedem interessierten Kollegen verfasst werden. Sie sollten zuvor beim Koordinator angemeldet werden. Die formale Gestaltung orientiert sich an den publizierten Referaten (Kurzzitate im Text!). Einreichung nicht über die Online-Manuskripteinreichung des Thieme Verlags, sondern via E-mail an den Koordinator der Kommentierten Referate. Prof. Dr. Stefan Müller-Lissner Park-Klinik Weißensee Schönstraße 80, 13086 Berlin Tel. + 49 30 96 28 36 00, Fax 36 05, [email protected]

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