Übersicht

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Zur Kriterienvielfalt in der Diagnostik der adulten Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung

Autoren

R. Wandschneider, I. Marx

Institut

Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universitätsmedizin Rostock

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

Abstract

Die Diagnose der adulten ADHS erfordert neben der Ausschluss- und Komorbiditätsdiagnostik auch eine klinische Relevanzprüfung der Kernsymptomatik, die anhand von Fragebögen und Interviews erfolgt. Die Diagnostik wird allerdings durch die Vielzahl der zur Verfügung stehenden Verfahren erschwert, die auf unterschiedlichen theoretischen Konzeptionen des Störungsbildes basieren. Diese Modelle und Verfahren werden im Rahmen des vorliegenden Artikels skizziert, um die Bedeutsamkeit eines integrierten diagnostischen Gesamtkonzepts, basierend auf klinisch relevanten Dimensionen, zu unterstreichen.

The diagnosis of adult attention-deficit/hyperactivity disorder (ADHD) requires evidence for a persistence of core symptoms of the disorder since childhood, the differential diagnostic assessment of other psychiatric or neurologic disorders that might have elicited the current symptoms, an assessment of symptom relevance in terms of clinical impairment, as well as a survey of comorbid psychiatric disorders. Methods used within the diagnostic procedure are clinical questionnaires and interviews, personality questionnaires, and tests of intellectual and cognitive functioning. However, the diagnostic procedure is complicated by a myriad of available measures which are based on differing theoretical concepts of the disorder. These concepts and measures are summarized in the present paper, finally underscoring the significance of an integrated diagnostic master plan based on clinically relevant dimensions.

●▶ ADHS ●▶ Erwachsenenalter ●▶ theoretische Konzeptionen ●▶ diagnostische Kriterien ●▶ diagnostische Verfahren Key words

●▶ ADHD ●▶ adult ●▶ theoretical concepts ●▶ diagnostic criteria ●▶ diagnostic instruments

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0042-113956 Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84: S71–S73 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0940-8584 Korrespondenzadresse Dr. med. Roland Wandschneider Universitätsmedizin Rostock, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Gehlsheimer Straße 20 18147 Rostock roland.wandschneider@med. uni-rostock.de



Mit einer Prävalenz von 4,7 % stellt die adulte Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) eine häufige psychiatrische Erkrankung in Deutschland dar [1]. In unserer Ambulanz haben sich seit über zehn Jahren mehr als 400 Erwachsene einer ADHS-Diagnostik unterzogen, die jeweils Stunden umfasst. Die im Kreise klinisch tätiger Kollegen mitunter bedauerte „fehlende Einfachheit“ der von uns betriebenen Diagnostik ergibt sich zum einen daraus, dass vorhandene Symptome der adulten ADHS anhand von alltagsrelevanten Verhaltensbeispielen umfangreich erfasst werden, zum anderen erscheinen im klinischen Alltag häufig begleitende Symptome wie Ängste, Depressionen und insbesondere Substanzgebrauchsstörungen [2] greifbarer. Entsprechend unverzichtbar sind daher Instrumente, die zur differenzialdiagnostischen Abgrenzung bzw. Erfassung komorbider Störungen dienen. Dazu zählen klinisch-



diagnostische (Screening-)Verfahren, aber auch Intelligenz- und kognitive Leistungstests sowie persönlichkeitsstrukturelle Verfahren. Allerdings erscheint ein dritter Aspekt der Diskussion wert – die Vielfalt an Modellen, die im wissenschaftlichen Diskurs durchaus anregend, im klinischen Alltag jedoch auch verunsichernd wirken können. Wenngleich sich seit den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts wieder gehäuft Beschreibungen von Patienten finden, deren ADHS bis in das Erwachsenenalter persistiert, gelang erst mit dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) [3] eine erste konsensbasierte Beschreibung der ADHS, die auch die Anwendung von diagnostischen Kriterien auf Erwachsene erlaubte. Mit dem DSM-5 [4] erfolgte eine bezüglich des Erwachsenenalters großzügigere Differenzierung des Krankheitsbildes: Es werden fünf Bedin-

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On Criteria Diversity in Diagnostics of Adult AttentionDeficit/Hyperactivity Disorder

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gungen genannt, unter denen die Diagnosestellung im Erwachsenenalter gerechtfertigt ist: 1. Ein anhaltendes Muster von Unaufmerksamkeit und/oder Hyperaktivität und Impulsivität, das sich in jeweils mindestens fünf von neun aufgeführten Symptomen zeigt und das Funktionsniveau oder die Entwicklung des Betroffenen hemmt. 2. Das Vorhandensein einer klinisch relevanten Symptomatik vor dem Alter von zwölf Jahren. 3. Die aktuelle Symptomatik ist in zwei oder mehr Lebensbereichen (Zuhause, Schule/Arbeit, Familie/Beziehung, Freunde, andere Aktivitäten) von Bedeutung. 4. Die genannte Symptomatik stört oder beeinträchtigt deutlich die Qualität des sozialen, akademischen oder beruflichen Funktionsniveaus. 5. Die Symptomatik tritt nicht im Rahmen einer schizophrenen oder anderen psychotischen Erkrankung auf und lässt sich auch nicht besser durch eine andere psychische Erkrankung erklären. Sind sowohl Symptome der Unaufmerksamkeit als auch der Hyperaktivität/Impulsivität klinisch relevant ausgeprägt, wird eine kombinierte (314.01), andernfalls eine überwiegend unaufmerksame (314.00) bzw. hyperaktiv-impulsive Manifestation des Störungsbildes (314.01) spezifiziert. Im Entwurf zur 11. Revision der International Classification of Diseases (ICD) der WHO wird der ADHS mit jeweils überwiegend unaufmerksamer, hyperaktiv-impulsiver bzw. kombinierter Darstellung zusätzlich eine Aufmerksamkeitsdefizitstörung ohne Hyperaktivität gegenübergestellt [5]. Die derzeit gültige ICD-10 aus dem Jahre 1992 [6] ist hingegen noch primär auf den Terminus „Hyperkinetische Störungen“ fixiert, eine dezidierte Würdigung der adulten ADHS hat (noch) nicht stattgefunden. Bezeichnenderweise greift daher der ADHSScreeningfragebogen der WHO, die Adult ADHD Self-Report Scale (ASRS) [7], auf die DSM-IV-Kriterien zurück. Neben den diagnostischen Konzepten der beiden großen Klassifikationssysteme sind drei weitere Modelle zu nennen, die für die psychiatrische Praxis relevant sind: Die von der Arbeitsgruppe um Paul Wender entwickelten und aufgrund ihrer Provenienz als (Wender-)Utah-Kriterien bezeichneten Kriterien [8] beziehen neben dem Nachweis einer kindlichen ADHS-Symptomatik und aktuell bestehender Unaufmerksamkeit/Hyperaktivität auch Affektlabilität, Temperament, Desorganisiertheit, Stressintoleranz und Impulsivität als diagnostische Cluster ein. Damit würdigen sie die im klinischen Alltag hinlänglich bekannten emotionalen Aspekte der adulten ADHS. Angesichts der Unterrepräsentation emotionaler Aspekte der adulten ADHS auch im aktuellen DSM5 fordern die Kollegen eine Unterteilung des Störungsbildes in einen unaufmerksamen und einen emotional dysregulierten Subtyp [9]. Das diagnostische Konzept einer Gruppe um Keith Conners [10] bemüht sich um eine Integration der DSM-IV- und der Utah-Kriterien. Die Autoren definieren neun Bereiche der Beeinträchtigung, die sie vier Dimensionen zuordnen: Kognition (Unaufmerksamkeit, Gedächtnis), Hyperaktivität (körperliche bzw. mentale Unruhe), Impulsivität (emotionale Labilität, Instabilität) und Selbstkonzept (schwaches Selbstwertgefühl, Selbstkritik, Versagen im Umgang mit Herausforderungen). Nicht zuletzt ist das Modell von Thomas Brown zu nennen [11], das auf beeinträchtigte Exekutivfunktionen bei Patienten mit ADHS fokussiert. Auch hier nimmt die gestörte Affektivität unter den sechs spezifizierten Dimensionen einen eigenständigen Platz ein: Brown unterscheidet neben Beeinträchtigungen in den Bereichen Aktivierung (einschließlich Organisation und Priorisierung), Fokussierung (sowie Aufrechterhaltung und Ver-

schiebung der Aufmerksamkeit), Anstrengungsbemühen (nebst Wachheitsregulation und Verarbeitungsgeschwindigkeit), Gedächtnis (Nutzung des Arbeitsgedächtnisses und Erinnerungsabrufbarkeit), Handlungsregulation (Vermögen zur Beobachtung und Regulation eigenen Verhaltens) auch den Bereich der Emotionen unter Berücksichtigung der Frustrations- und Emotionsregulation. Die fünf genannten Konzepte bilden den theoretischen Hintergrund für die im klinischen Alltag verbreiteten Selbst- und Fremdbeurteilungsfragebögen und Interviews, die sowohl der retrospektiven Erfassung der Kindheitssymptomatik als auch der Beurteilung der aktuellen ADHS-Psychopathologie dienen und mit ihren mitunter doch deutlich divergierenden Kriterien im klinischen Alltag parallel Anwendung finden [12]. Die Frage ist daher erlaubt, „welche“ ADHS mit den nachgenannten Verfahren jeweils diagnostiziert werden soll. Zur retrospektiven Erfassung der ADHS-Symptomatik im Kindesalter dient die Wender Utah Rating Scale (WURS-k) [13], die sowohl vom Patienten als auch von Angehörigen ausgefüllt werden kann und damit eine fremdanamnestische Diagnoseabsicherung ermöglicht. Zur Erfassung der aktuellen ADHS-Symptomatik kann im Sinne einer Selbstbeurteilung auf die Conners Adult ADHD Rating Scales-self-report (CAARS-S) [14] und die ADHS-Selbstbeurteilungsskala (ADHS-SB) zurückgegriffen werden, während die ADHS-Diagnosecheckliste (ADHS- DC) [15] und das Wender-Reimherr-Interview (WRI) [15] eine Fremdbeurteilung durch den Diagnostiker ermöglichen. Sowohl die ADHS-SB als auch die ADHS-DC greifen auf die DSM-IV- und die Forschungskriterien der ICD-10 zurück, während der CAARS-S die Conners-Kriterien erfasst und das WRI die Utah-Kriterien abfragt. Die genannten Verfahren finden auch Eingang in altersübergreifende Diagnoseinstrumente. So umfasst die Integrierte Diagnostik der adulten ADHS (IDA/IDA-R) den ADHS-Screener der WHO, fünf Items der WURS-k und als zentrales Element ein DSM-IV- bzw. DSM-5-Interview, in dem die entsprechenden 18 Kriterien des Manuals abgefragt werden [16]. Die Homburger ADHS-Skalen für Erwachsene (HASE) [17] greifen mit dem Einschluss der WURS-k sowie des WRI ebenfalls auf die Utah-Kriterien zurück, beziehen sich jedoch mit den enthaltenen Selbstbeurteilungsbögen (ADHS-SB) bzw. Diagnosechecklisten (ADHS-DC) auf das DSM-IV-Klassifikationssystem. Der Kölner ADHS-Test für Erwachsene (KATE) umfasst neben einer Kurz- und Vollversion des WHO-Screeners (ASRS) einen DSM-IV-Fragebogen zur Beurteilung des Ausprägungsgrades der aktuellen ADHS-Symptomatik sowie Fragebögen zur Beurteilung des Funktionsniveaus und der exekutiven Funktionen. Einen bemerkenswerten Ansatz verfolgt die Gruppe um Frau Kooij mit dem Diagnostischen Interview für ADHS bei Erwachsenen (DIVA), dessen zweite Version seit 2010 vorliegt [18]. Im Gegensatz zu den vorgenannten Diagnostiksets greift das DIVA stringent lediglich auf ein Modell, die DSM-IV-Kriterien, zurück. Die DIVA-Unterlagen stehen Klinikern und nichtkommerziellen Forschern unentgeltlich zur Verfügung und liegen in mehr als 15 Sprachen vor. Allerdings stehen eine Anpassung an die DSM-5-Kriterien und die Validierung der deutschsprachigen Version noch aus. Eine unzureichende Implementierung emotionaler Aspekte der adulten ADHS, wie in den DSM-5-Kriterien, ist – dem bisherigen Bearbeitungsstand nach – auch für die ICD-11 zu erwarten. Insofern darf gespannt darauf gewartet werden, wie sich die DGPPN-Leitlinien zur adulten ADHS [19] in ihrer Neufassung positionieren werden. Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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