Originalarbeit

S81

Menschenwürde als Grundlage einer Ethik in der Psychiatrie

Autoren

Johannes Achatz, Nikolaus Knoepffler

Institut

Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ethikzentrum Jena/Lehrstuhl für Angewandte Ethik

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

" Psychiatrie ● " Ethik ● " Philosophie ● " Menschenwürde ●

Keywords

" psychiatry ● " ethics ● " philosophy ● " dignity ●

!

Der Psychiatrie kommt eine besondere Verantwortung zu, insbesondere im Blick auf den angemessenen Umgang mit nicht einwilligungsfähigen Patienten. Die Geschichte der Psychiatrie kennt nicht wenige Fälle eines Missbrauchs von Patienten in psychiatrischen Kliniken. Eine Ethik in der Psychiatrie bedarf daher eines besonderen Wertfundaments zur Rechtfertigung

Die gefährdete Ethik in der Psychiatrie !

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1370005 Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S81–S85 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 1611-8332 Korrespondenzadresse Dr. phil. Johannes Achatz Friedrich-Schiller-Universität Jena, Ethikzentrum Jena/ Lehrstuhl für Angewandte Ethik Zwätzengasse 3 07743 Jena [email protected]

Die Professionalisierung der Medizinethik als eigenständige Bereichsethik seit den 70er-Jahren des letzten Jahrhunderts hat nicht, wie manche hofften, zu einer einheitlichen medizinethischen Theoriebildung geführt. Es gibt eine Fülle unterschiedlicher medizinethischer Ansätze. Interessanterweise setzen die in der ethischen Debatte bekanntesten Medizinethiken üblicherweise auf der Handlungsebene von Ärztinnen, Ärzten und Pflegekräften an. Eine Medizinethik in der Tradition des Hippokratischen Eids fokussiert dabei auf das konkrete Arzt-Patienten-Verhältnis. Der leitende Grundgedanke lautet: „Salus aegroti suprema lex.“ Das Wohl des Kranken im objektiv-medizinischen Sinn, also nach Maßgabe des Arztes als des Experten, steht im Zentrum. Auch Medizinethiken in christlich-naturethischer Tradition berücksichtigen vor allem das ärztliche Handeln. Das Grundanliegen besteht hier darin, aus unserer Menschennatur die richtigen medizinethischen Normen und Werte zu erschließen: „Salus aegroti secundum naturam suprema lex.“ Prinzipiell gilt: „Bonum est faciendum, malum est vitandum“ (das Gute ist zu tun, das Üble ist zu meiden). Intrinsisch schlecht sind dabei der Menschennatur widersprechende Handlungen, beispielsweise die Verletzung der Heiligkeit des menschlichen Le-

normativer Forderungen. Wir argumentieren dafür, dass ein solches Wertfundament mit der gesellschaftlich anerkannten, pluralistisch getragenen und international etablierten Menschenwürde bereits gegeben ist, dass sie mehr als „Respekt vor der Autonomie“ bedeutet und bedeuten muss und dass sie bei kritischen Grenzfragen einer Ethik in der Psychiatrie als letzte Instanz für Wertentscheidungen angerufen werden sollte.

bens durch aktives Töten des Patienten, selbst wenn dieser darum bittet. Ähnlich wie in hippokratischen Ethiken spielt die Selbstbestimmung des Patienten keine wesentliche Rolle. Ein starker Paternalismus herrscht vor. Der moderne 4-Prinzipien-Ansatz von Beauchamp und Childress [1] heilt einen wesentlichen Defekt hippokratischer und christlich-naturrechtlicher Ethiken. Durch die Betonung des Prinzips der Patientenautonomie wird die salus aegroti durch den konkreten Patientenwillen ergänzt. Zugleich wird das Gerechtigkeitsprinzip prominent hervorgehoben. Utilitaristische Medizinethiken dagegen fokussieren auf den größtmöglichen Nutzen der größtmöglichen Zahl von Betroffenen. Eine Medizinethik, die vom Prinzip der Menschenwürde ausgeht [2], kommt im Resultat zu ähnlichen Ergebnissen wie Beauchamp und Childress, versucht aber mittlerweile auch neue ordonomische Erkenntnisse [3] fruchtbar zu machen, also die Bedeutung der Regelebene für medizinethische Fragestellungen herauszustellen. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Mike McNamee und Thomas Schramme in einer Sonderausgabe des Ethical Theory and Moral Practice Journals zu Moral Theory in Health Care Ethics [4] beklagen, dass die Rolle der Philosophie in derartigen Bereichsethiken nicht klar definiert und die Wahl der Methoden und ethischen Theorien nicht einheitlich seien. Damit werde frag-

Achatz J, Knoepffler N. Menschenwürde als Grundlage … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S81–S85

Heruntergeladen von: University of Pittsburgh. Urheberrechtlich geschützt.

Human Dignity as Foundation of an Ethics in Psychiatry

Originalarbeit

würdig, so die Autoren weiter, wie überhaupt normative Forderungen gerechtfertigt werden könnten. Die Ethik in der Psychiatrie hat dabei insofern einen schweren Stand und ist von dieser Kritik in besonderem Maße betroffen, da die Geschichte und das Selbstverständnis des Fachs von einem stetigen Kampf der Selbstbehauptung gezeichnet waren und sind. Das betrifft sowohl die disziplinäre Ausrichtung und Zuordnung des Faches selbst als eben auch die Ethik in der Psychiatrie. Die historischen Fälle des Missbrauchs der Psychiatrie und psychiatrischer Einrichtungen, von zwangsweiser Behandlung und Einweisung in sog. Toll- oder Irrenhäuser im 18. Jahrhundert bis zu den Euthanasieprogrammen unter nationalsozialistischer Herrschaft [5 – 7] haben auch auf das Fehlen eines stabilen und philosophisch konsistenten Wertefundaments aufmerksam gemacht, das den besonderen Herausforderungen des Handlungsbereichs der Psychiatrie gerecht wird. Aus dieser schwierigen Geschichte der Selbstbehauptung des Fachs und der Geschichte des Missbrauchs erwächst auch eine ethische Sonderstellung: „[S]ociety and the law obliges psychiatrists to take responsibility and control the behaviour of their patients. This is not required of any other medical specialty. The obligation on psychiatrists arises from their professional history and the history of asylums and mental health laws which have evolved separately from the rest of medicine and its ethics.“ [8] Neben der allgemeinen historischen Verantwortung für die Entwicklung des Faches besteht jedoch auch Bedarf an aktueller ethisch-philosophischer Aufarbeitung. Sogar von einer „Ethical Crisis in Psychiatry“ [9] ist die Rede, denn in der therapeutischen Praxis müssen oft theoretische Lösungsangebote und institutionelle Regelungen auf individuelle Situationen mit ihren je eigenen besonderen Umständen angepasst werden. Da aber die Psychiatrie immer wieder um ihr Selbstverständnis ringt [10, 11], etwa prominent mit Foucaults ausufernder Kritik an Krankheitsbildern und Machtverhältnissen, dem Aufkommen der Antipsychiatriebewegung, mit der Entgegensetzung von (einseitig) objektiven und subjektiven Zugängen der Therapeut-Patient-Beziehung und mit deren jeweiligen Schwierigkeiten für eine klare Verantwortungsübernahme seitens psychiatrisch Behandelnder, wird die Formulierung klarer ethischer Handlungsregeln schwierig [9]. Mit John Dewey gesprochen, kann das hier aufgezeigte Grundproblem einer Vereinbarung von möglichst objektiven Beschreibungen (eines Menschen und seiner Situation) sowie handlungsleitenden Werturteilen als ein in seinem Kern philosophisches identifiziert werden. In der Klärung der Verhältnisse von Tatsachen und Werten liegt nach Dewey die Hauptaufgabe der Philosophie: „Dieses Problem, die Überzeugungen des Menschen über die Welt, in der er lebt, mit seinen Überzeugungen über die Werte und Zwecke, die sein Verhalten lenken sollten, zu verbinden und zu harmonisieren, ist das tiefste Problem des modernen Lebens. […] Ihr [das der Philosophie, Anm. J. A., N. K.] zentrales Problem ist die Beziehung zwischen den naturwissenschaftlichen Ansichten über die Natur der Dinge und den Ansichten über Werte – wobei wir mit diesem Wort all das bezeichnen, dem wir legitime Autorität zubilligen, unser Verhalten zu lenken.“ [12] Diese Herausforderung, die möglichst naturwissenschaftlich korrekte Erfassung und zugleich handlungsleitende Bewertung eines bestimmten Menschen in seiner bestimmten Lebenssituation und seinem konkreten Gesundheitszustand ist das schwierige Tagesgeschäft psychiatrischer Arbeit.

Die Philosophie als problematischer Wegweiser Die Psychiatrie ist damit auf die Ethik verwiesen. Diese Nähe der Psychiatrie zur Ethik und überhaupt zu geisteswissenschaftlichen Zugängen ist sogar zu begrüßen, da „die Psychiatrieethik mehr als eine umetikettierte Medizinethik sein muss […]. Während sich die anderen medizinischen Spezialfächer zur Bearbeitung inhaltlicher Fragen naturwissenschaftlicher Methoden bedienen, spielen in der Psychiatrie geisteswissenschaftliche Erkenntniswege eine vergleichsweise wichtige Rolle. Diese Ansätze sensibilisieren für ethische Probleme und bereiten ihrer fruchtbaren Reflexion den Boden.“ [13] Das passt zu unserer Ausgangsbeobachtung, dass der Medizinethik und damit auch der psychiatrischen Ethik ein einheitliches philosophisches Wertefundament fehlen, von dem aus normative Forderungen in einer Weise gerechtfertigt werden können, sodass jeder zustimmen müsste. Dieser Mangel wird unter anderem daran deutlich, dass im Gestus des als selbstverständlich begrüßenswerten wissenschaftlichen Fortschritts das genaue Gegenteil zu einem philosophischen Wertfundament proklamiert und gefordert wird: eine empirische Ethik in der Psychiatrie [14]. Ihre Verfechter stammen vielleicht nicht zufällig aus dem von analytischer Sprachphilosophie geprägten angelsächsischen und niederländischen Raum. Diese These erklärt auch, warum etwa Theologen wie Mathias Wirth es noch im Jahr 2013 für ihre Pflicht halten, an die Menschlichkeit psychisch Kranker zu erinnern: „Der Kranke, egal ob er das Stigma Krebs, AIDS oder das psychischer Erkrankung trägt, gehört in diese Welt. Verletzlichkeit und Krankheit, das hat besonders Naphta in Thomas Manns Zauberberg betont, sind wesentlich menschlich. Das bedeutet nicht, Krankheit zu verharmlosen. Aber sie artikuliert eine Wahrheit über den Menschen, die ihn davor schützt, im Kranksein zum Unmenschen erklärt zu werden. Keine Erkrankung erschüttert in ihrem Hineinragen in die Tiefe des Menschen sosehr wie die psychische. So Erkrankte oder Behinderte stehen notorisch in der Gefahr, für Unmenschen gehalten zu werden. Dehumanisiert werden sie zu Opfern von Aussonderung, Gewalt und Ausrottung.“ [15] Naheliegende weitere Beispiele der Orientierungslosigkeit sind verschiedenen einführenden Werken zur Ethik in der Psychiatrie zu entnehmen, die ohne eingehendere Diskussion und damit recht sorglos zu bestimmten ethischen Theorien raten und Stellung beziehen. So wird im Cambridge Textbook of Bioethics für eine psychiatrische Ethik eine Kombination des ethischen principlism [1] und der Fürsorgeethik empfohlen [16]. Carson und Lepping kritisieren diesen Vorschlag von Bloch und Green und fordern für die Psychiatrie eine Ethik der Narrative [17]. Wieder andere Einführungstexte wie der Grundriss der Psychotherapieethik behaupten: „Psychotherapeutische Interventionen sollen dem Ziel der Heilung oder Besserung oder Prophylaxe von Krankheiten oder zumindest der Problemlösung bzw. Lebensqualität nützen, sind daher utilitaristisch begründet.“ [18].

Thesen zur Ethik in der Psychiatrie Die Geschichte und das Selbstverständnis der Psychiatrie sind also von einem stetigen Kampf der Selbstbehauptung gezeichnet, der sich auch in der Diskussion geeigneter ethischer Ansätze fortsetzt. Zwei Brennpunkte psychiatrischer Arbeit werden dabei immer wieder betont, welche die Psychiatrie von anderen Zweigen der Medizin unterscheiden: „Firstly, the concept of mental disorder seems to be more difficult to define because it refers to the sphere of the mind, which is

Achatz J, Knoepffler N. Menschenwürde als Grundlage … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S81–S85

Heruntergeladen von: University of Pittsburgh. Urheberrechtlich geschützt.

S82

more elusive than the body. Secondly, psychiatric patients’ capacity to choose and act autonomously is more contested because mental capacities seem to be particularly critical for self-determination.“ [19] Dazu kommt gerade vor dem Hintergrund der geschichtlichen Erfahrung des Missbrauchs psychisch Kranker eine besondere historische Verantwortung hinzu, sodass insgesamt folgende Hauptaufgaben einer psychiatrischen Ethik benannt werden können: ▶ dass ihr eine besondere historische Verantwortung zukommt, ▶ dass ihr im Bezug auf den Umgang mit nicht einwilligungsfähigen Patienten eine besondere Verantwortung zukommt, ▶ dass sie daher eines besonderen Wertfundaments zur Rechtfertigung normativer Forderungen bedarf. Darüber hinaus sind wir davon überzeugt, ▶ dass ein solches Wertfundament mit der Menschenwürde bereits gegeben ist und ▶ dass die Menschenwürde mehr als „Respekt vor der Autonomie“ bedeutet und bedeuten muss, ▶ sodass sie nicht zur kleinen Münze [20] verkommt. Damit bildet das Prinzip der Menschenwürde ein fruchtbares Wertfundament für eine Ethik in der Psychiatrie. Doch kann es auch als stabil durch soziale Anerkennung verankert ausgewiesen werden?

Ein Wertfundament im Pluralismus: die Menschenwürde !

Angesichts unterschiedlicher psychotherapeutischer Schulen hat etwa die Psychologin und Philosophin Stella Reiter-Theil schon 1991 dazu aufgerufen „partikularistische Tendenzen zugunsten einer universalistischen ethischen Orientierung zu überwinden. Partikularistische Tendenzen der Psychotherapie,szene‘ [sic] haben ihre therapeutischen und methodischen Bedingungen und Notwendigkeiten, für die ethische Dimension der Therapie muss dies m. E. bezweifelt werden.“ [21] In diesem Sinne ruft sie auch zu einer stärkeren interdisziplinären Zusammenarbeit auf, was sie 2012 mit einem Handbuch zur medizinethischen Entscheidungsfindung am Krankenbett auch gleich selbst einlöst [22]. Die verschiedenen widerstreitenden Vorschläge für Ansätze und methodische Zugänge einer psychiatrischen Ethik in Anlehnung an medizinethische Ansätze zeigen die Herausforderung einer pluralistischen Welt. Ein einfacher Rückgriff auf die philosophische Autorität eines Jeremy Bentham oder Immanuel Kant kann also nicht ausreichen, um normative Werturteile zu begründen. Vielmehr ist es notwendig, dass ein Wertfundament auch tatsächlich, wenn unter Umständen auch nur implizit, geteilt, akzeptiert und anerkannt wird. Mit dem Prinzip der Menschenwürde, wie es durch die Charta der Vereinten Nationen 1945 und die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen 1948 in einer innovativen Weise politisch wirkmächtig geworden ist, hat die „Menschheitsfamilie“ einen Grundwert beziehungsweise ein Grundprinzip sozialer Realität gefunden, das nicht als eine ontologische Beigabe des Menschen zu verstehen ist oder naturrechtlich begründet wird. John Searle erklärt, was dabei mit „Entdeckung“ von Menschenwürde und Menschenrechten gemeint ist: „The truth in the skepticism is that we do not discover that people have universal human rights the way we discover that they have noses on their faces. The existence of such rights is intentionalityrelative because they are human creations. But once we get clear about their ontological status, the existence of rights is no more

mysterious than the existence of money, private property, or friendship. „Nobody says the belief in money, private property, or friendship is nonsense. I hope it is obvious that in general, rights, such as property rights and marital rights, are status functions; that is, they are deontic powers deriving from collectively recognized statuses. They are deontic powers that are imposed on people and can function only by collective recognition or acceptance.“ [23] Menschenwürde besteht, weil sie als bestehend kollektiv anerkannt wird, und sie wird ebenso wenig über Nacht verschwinden wie die Anerkennung von Geld als Warentauschhilfe oder die Vorstellung, dass Menschen etwas ihr „Eigentum“ nennen können. Sie ist eine der besonderen Formen sozialer Institutionen, die dadurch entstehen, dass sie als bestehend vorgestellt und anerkannt werden. In diese Klasse von Entitäten reihen sich auch fröhliche Unterfangen wie „Cocktailpartys“ ein sowie ehrwürdigere soziale Übereinkünfte wie die „Ehe“. Wie letztere ist die Menschenwürde jedoch über eine Reihe von weiteren sozialen Institutionen etabliert und gefestigt. Prominent wird der Begriff der „Würde“ sowohl im ersten Artikel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 als auch im ersten Artikel des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland allen weiteren Regeln vorangestellt. Auch in den Verfassungen weiterer europäischer Länder [24] sowie in Entscheidungen des amerikanischen Supreme Court [25] findet sich die Menschenwürde. Sie kann also nach dieser kurzen Umschau bereits als ein pluralistisches Konzept und geteiltes Wertfundament bezeichnet werden. Zugleich bietet die Menschenwürde auch eine Antwort auf die historische Herausforderung einer Ethik in der Psychiatrie: dass sie ihrer Verantwortung in Bezug auf historische Missbrauchsfälle gerecht wird. In ihrer modernen Form wurde sie 1948 als Reaktion auf die Menschheitserfahrungen der nationalsozialistischen Verbrechen und des Missbrauchs entwickelt [2, 26, 27]. Gerade die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen (1948) wendet sich Artikel für Artikel gegen die grausamen Menschenrechtsverletzungen der Nationalsozialisten. Vor diesem Hintergrund lässt sich darum das Prinzip der Menschenwürde als Kontraposition gegenüber den nationalsozialistischen Prinzipien verstehen und in folgender Weise entfalten: 1. Das Prinzip der Menschenwürde als Prinzip eines grundsätzlichen Subjektstatus: Statt des NS-Prinzips „Du bist nichts, dein Volk ist alles“ wird jetzt affirmiert, dass der Einzelne nicht für das Volk oder sonstige Ziele aufgeopfert werden darf; 2. Das Prinzip der Menschenwürde als Gleichheitsgrundsatz: Statt des NS-Prinzips „Die arische Rasse ist besonders kostbar, andere Rassen sind als minderwertig zu versklaven oder sogar wie ,Ungeziefer‘ auszurotten“ wird jetzt die Gleichheit aller Menschen unabhängig von allen Eigenschaften affirmiert. Menschenwürde ist eine historische Errungenschaft. Sie stellt aber zugleich eine universalistische ethische Orientierung bereit. Menschenwürde ist damit prädestiniert, um in einer Ethik in der Psychiatrie Verwendung zu finden, um so der historischen Verantwortung und Sonderstellung des Fachs gerecht zu werden. Mehr noch – die historische Errungenschaft der Menschenwürde abzulehnen, ist, was angesichts dessen Geltung und verbreiteter Anerkennung eigentlich erklärungspflichtig ist.

Achatz J, Knoepffler N. Menschenwürde als Grundlage … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S81–S85

S83

Heruntergeladen von: University of Pittsburgh. Urheberrechtlich geschützt.

Originalarbeit

Originalarbeit

Ein kritischer Einwand !

Kritiker der Menschenwürde führen mitunter aus, dass es sich bei der Würde nicht um eine echte Innovation handele, vielmehr sei es nur eine Art neumodische Umkleidung für die altbekannte „Autonomie“ – also die Achtung vor der Selbstbestimmung einer Person. Darüber hinaus leiste das Konzept der Menschenwürde nichts und sei damit hinfällig, erklärt etwa Ruth Macklin: „’[D]ignity’ seems to have no meaning beyond what is implied by the principle of medical ethics, respect for persons: the need to obtain voluntary, informed consent; the requirement to protect confidentiality; and the need to avoid discrimination and abusive practices.“ [28] Darauf lässt sich erstens entgegnen: Eine Besonderheit psychiatrischer Arbeit ist es, dass manche Patienten nicht autonom sind. Oder keine Person im reichhaltigen Sinn. Oder mehrere Personen. Gerade wenn „Autonomie“ kein grundlegender Ausgangspunkt ist, versagt der „Respekt vor der Autonomie“, um die Situation zu fassen, während die auf der Menschenwürde beruhenden Prinzipien der grundsätzlichen Subjektstellung und Gleichheit noch greifen. Hinzu kommt: Menschenwürde drückt ein „Mehr“ als bloßen Respekt vor der Autonomie aus, ein „Mehr“, das nicht „useless“ [28] ist, sondern bei Marginalisierung und fehlender Autonomie den wesentlichen Rettungsanker im Wertfundament ausmachen kann. Gerade in der diffizilen psychiatrischen Forschung mit nicht einwilligungsfähigen Patienten [29] fällt dieses „Mehr“ ins Gewicht. So spricht Helmchen in Bezug auf „inkompetente Patienten“ wie Kinder oder geistig Kranke von einem „Recht an der Teilnahme bei Forschungen, die für sie möglicherweise hilfreiche Forschungsergebnisse ergeben könnten“ [30]. Problematisch ist hier der Ausdruck „Recht“, denn für sich selbst können nicht einwilligungsfähige, unmündige Patienten kein solches Recht einfordern. Vielmehr wird hier eine fiktive, autonome Rechtsperson konstruiert, deren mutmaßlicher Wille von Dritten benannt wird – in diesem Fall einem Psychiater, der ja selbst ein Interesse an Forschung hat. Böse Absichten müssen hier also keinesfalls unterstellt werden, um die ungünstige Anreizsituation deutlich werden zu lassen. Auch wenn ein (rationales) Interesse des Patienten an der Teilnahme von Forschungen zum eigenen, möglichen Vorteil zweifelsfrei unterstellt werden kann, sollte doch die Anerkennung der Würde des Patienten als weitere Vorsichtsmaßnahme in den Entscheidungsprozess einbezogen werden. Noch ein Drittes lässt sich gegen Macklin einwenden: Gerade vor dem Hintergrund der wechselvollen Geschichte der Psychiatrie und deren Missbrauchsfällen kann die Anerkennung der Menschenwürde auch als Akt mit dem symbolischen Charakter des „Nie wieder!“ gefordert werden: Der Mehraufwand, der für die Anerkennung der Menschenwürde betrieben werden muss, ist gering, aber der Schaden, der durch eine zu kurz gedachte Autonomie entstehen kann, ist beträchtlich, wie die Missbrauchsfälle (NS-Regime, Umerziehungslager, Irrenanstalten, …) zeigen.

Fazit: Die Bedeutung der Anerkenntnis der Menschenwürde

Menschenwürde stattfinden – eine Bedingung, die in der Regel auch durch Anwendung des principlism, dem Respekt vor der Autonomie einer Person und anderen hier verhandelten ethischen Orientierungshilfen erfüllt wird. Eine Ethik in der Psychiatrie, die in letzter Instanz auf die Menschenwürde verweist, kann aber im Einzelfall als „Ethik des Zauns“ und als „Ethik der Waage“ [32] fungieren: ▶ Wird ein nicht einwilligungsfähiger Mensch von einem nicht selbstbestimmten Subjekt zu einem fremdbestimmten Versuchsobjekt gemacht, greift die Ethik des Zauns, die eine solche Entmenschlichung mit Verweis auf die grundsätzliche Subjektstellung des Menschen verbietet. ▶ Wird ein nicht einwilligungsfähiger Mensch von einem nicht einwilligungsfähigen Subjekt zu einer nicht zu berücksichtigenden Randerscheinung marginalisiert, greift die Ethik der Waage, die eine grundsätzliche Gleichheit fordert – auch in Bezug auf gesundheitliche Vorteile durch Forschung. Die mühsame Arbeit einer Ausdifferenzierung verschiedener Grade der Einwilligungsfähigkeit und verschiedener Grade von Risiken und Chancen von Behandlung sowie der Zulässigkeit von Forschungen [30, 31] soll und muss also fortgesetzt werden. Mit diesem stabilen, auf Anerkennung in einer pluralistischen Gesellschaft beruhenden und philosophisch konsistenten Wertefundament der Menschenwürde kann aber den besonderen Herausforderungen des Handlungsbereichs der Psychiatrie begegnet und eine Rechtfertigung für normative Forderungen einer Ethik in der Psychiatrie gegeben werden. Eine solche Ethik wird der historischen Verantwortung wie auch den besonderen ethischen Fragen im Umgang mit nicht einwilligungsfähigen Patienten gerecht. Hier also, als medizinische Ethik mit besonderem Bezug zur Menschenwürde als letzter Instanz, hat eine Ethik in der Psychiatrie ihren systematischen Platz und so kann ein Versuch gelingen, die ganze Spannbreite vom Einzelfall der Handlungspraxis bis zu den Höhen philosophischer Theorie bruchlos zu umfassen.

Konsequenzen für Klinik und Praxis In der psychiatrischen Praxis treffen die möglichst naturwissenschaftlich korrekte Erfassung und zugleich handlungsleitende Bewertung eines bestimmten Menschen in seiner bestimmten Lebenssituation und seinem konkreten Gesundheitszustand aufeinander. In dabei auftretenden medizinethischen Grenzfällen bietet die Menschenwürde ein klares und festes Korrektiv, das als letzte Instanz bei normativen Urteilen die grundsätzliche Subjektstellung und Gleichheit von Probanden und Patienten sicherstellen kann.

Interessenkonflikt !

Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Abstract

!

Human Dignity as Foundation of an Ethics in Psychiatry

Eine Ethik in der Psychiatrie, die in letzter Instanz auf die Menschenwürde verweist, kann nicht fordern, dass Patienten der Psychiatrie zu „therapeutischen Waisen“ [31] werden. Sie fordert lediglich, dass Forschungen und Behandlungen unter Wahrung der

!

Psychiatry is distinguished from other fields of medical expertise and bears a particular kind of responsibility, namely the treatment of persons incapable of informed consent per se. The Histo-

Achatz J, Knoepffler N. Menschenwürde als Grundlage … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S81–S85

Heruntergeladen von: University of Pittsburgh. Urheberrechtlich geschützt.

S84

ry of psychiatry shows that much too often inhuman abuse was happening in psychiatric facilities. An ethics of psychiatry therefore requires a reliable and stable foundation for values that allow justifying normative claims embracing both characteristics. Such a basic foundation already exists in form of the pluralistic and international recognition of human dignity. We argue that human dignity does and has to go beyond “respect for autonomy” and by that it can function as highest authority on questions concerning value judgments on critical cases in psychiatric bioethics.

Literatur 1 Beauchamp TL, Childress JF. Principles of biomedical ethics. 7. ed. New York: Oxford University Press; 2013 2 Knoepffler N. Menschenwürde in der Bioethik. Berlin: Springer; 2004 3 Pies I. Optimierung versus Koordinierung: Zur ordonomischen Klärung des wirtschaftsethischen Kernproblems. In: Baumbach-Knopf C, Achatz J, Knoepffler N, Hrsg. Facetten der Ethik. Würzburg: Königshausen & Neumann; 2013: 113 – 135 4 McNamee M, Schramme T. Moral Theory and Theorizing in Healthcare Ethics. Ethical Theory Moral Pract 2011; 14: 365 – 368 5 Fangerau H. Psychiatrische Erkrankungen und geistige Behinderung. In: Schulz S, Steigleder K, Fangerau H, Paul N, Hrsg. Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 2006: 368 – 398 6 Kumbier E, Teipel SJ, Herpertz SC, Hrsg. Ethik und Erinnerung: zur Verantwortung der Psychiatrie in Vergangenheit und Gegenwart. Lengerich u. a.: Pabst Science Publ; 2009: 204 7 Hohendorf G, Rotzoll M. Zur Geschichte der Ethik psychiatrischer Forschung. In: Bormuth M, Wiesing U, Hrsg. Ethische Aspekte der Forschung in Psychiatrie und Psychotherapie. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag; 2005: 13 – 42 8 Rosenman S. Psychiatrists and compulsion: a map of ethics. Aust N Z J Psychiatry 1998; 32: 785 – 793 9 Kick H. The Ethical Crisis in Psychiatry: Consequences for a Comprehensive Diagnosis and Therapeutic Practice. Psychopathol 1999; 32: 159 – 167 10 Steinert T. Psychiater in Facharzt für psychische Erkrankungen oder für psychosoziale Medizin umbenennen – Pro. Psychiat Prax 2014; 41: 11 – 12 11 Wolfersdorf M. Psychiater in Facharzt für psychische Erkrankungen oder für psychosoziale Medizin umbenennen – Kontra. Psychiat Prax 2014; 41: 13 – 14 12 Dewey J. Die Suche nach Gewißheit: eine Untersuchung des Verhältnisses von Erkenntnis und Handeln. Frankfurt am Main: Suhrkamp; 2001

13 Barocka A, Lungershausen E. Ethische Brennpunkte der Psychiatrie. Würzburg: Königshausen und Neumann; 1999 14 Widdershoven G, McMillian J, Hope T, van der Scheer L, eds. Empirical ethics in psychiatry. Oxford u. a.: Oxford University Press; 2008: 255 15 Wirth M. Psychiatrie und Freiheit: Geschichte und Ethik einer Menschheitsfrage. Köln: Bachem-Medien; 2013 16 Bloch S, Green SA. Psychiatric ethics. In: Singer PA, Viens AM, eds. The Cambridge textbook of bioethics. 3. ed. Cambridge u. a.: Cambridge University Press; 2009: 487 – 494 17 Carson A, Lepping P. Ethical psychiatry in an uncertain world: conversations and parallel truths. Philos Ethics Humanit Med 2009; 4: 7 18 Hutterer-Krisch R. Grundriss der Psychotherapieethik: Praxisrelevanz, Behandlungsfehler und Wirksamkeit. Wien u. a.: Springer; 2007 19 Schramme T. New trends in philosophy of psychiatry. Theor Med Bioeth 2010; 31: 1 – 4 20 Dreier H. Grundgesetz: Kommentar. Bd. 1, Artikel 1–19. Tübingen: Mohr Siebeck; 1996 21 Reiter-Theil S. Ethik der Verhaltens- und Familientherapie. Warum – Woher – Wofür? In: Pöldinger W, Wagner W, Hrsg. Ethik in der Psychiatrie: Wertebegründung – Wertedurchsetzung. Berlin u. a.: Springer; 1991: 148 – 167 22 Albisser Schleger H, Mertz M, Meyer-Zehnder B, Reiter-Theil S. Klinische Ethik – METAP Leitlinie für Entscheidungen am Krankenbett. Berlin, Heidelberg: Springer-Verlag; 2012 23 Searle JR. Making the social world: the structure of human civilization. Oxford u. a.: Oxford University Press; 2011 24 Durande M. Das Menschenwürdekonzept im Rahmen der Europäischen Union. In: Baumbach C, Kunzmann P, Hrsg. Würde – dignité – godność – dignity: die Menschenwürde im internationalen Vergleich. München: Utz; 2010: 143 – 165 25 Eberle EJ. Human dignity, privacy, and personality in german and american constitutional law. In: Knoepffler N, Kunzmann P, O’Malley M, Hrsg. Facetten der Menschenwürde. Freiburg im Breisgau: Alber; 2011: 102 – 140 26 Knoepffler N. Angewandte Ethik: ein systematischer Leitfaden. Köln u. a.: Böhlau; 2010 27 Knoepffler N. Menschenwürde heute – ein wirkmächtiges Prinzip und eine echte Innovation. In: Knoepffler N, Kunzmann P, O’Malley M, Hrsg. Facetten der Menschenwürde. Freiburg u. a.: Alber; 2011: 9 – 30 28 Macklin R. Dignity is a useless concept. BMJ 2003; 327: 1419 – 1420 29 Helmchen H. Ethik psychiatrischer Forschung. Berlin, Heidelberg: Springer; 2013 30 Helmchen H. Ethics of clinical research with mentally ill persons. Eur Arch Psychiatry Clin Neurosci 2012; 262: 441 – 452 31 Knoepffler N. Forschung: Ethische Normen angesichts medizinischer Forschung am Menschen. Bundesgesundheitsbl Gesundheitsforsch Gesundheitsschutz 2008; 51: 880 – 886 32 Kunzmann P. „Ethik des Zaunes“ und „Ethik der Waage“ – Argumentationstypen in der Bioethik. Politische Studien 2007; 58: 76 – 85

Achatz J, Knoepffler N. Menschenwürde als Grundlage … Psychiat Prax 2014; 41, Supplement 1: S81–S85

S85

Heruntergeladen von: University of Pittsburgh. Urheberrechtlich geschützt.

Originalarbeit

[Human dignity as foundation of an ethics in psychiatry].

Psychiatry is distinguished from other fields of medical expertise and bears a particular kind of responsibility, namely the treatment of persons inca...
93KB Sizes 5 Downloads 4 Views