Leitthema HNO 2014 · 62:88–92 DOI 10.1007/s00106-013-2807-z Online publiziert: 14. Februar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

S. Euteneuer · M. Praetorius Hals-Nasen-Ohren-Klinik, Universitätsklinikum Heidelberg

Neues aus der Hörforschung Von peripher nach zentral

In den letzten 2 Jahrzehnten haben grundlagenwissenschaftlichen Arbeiten, v. a. an Mausmodellen, das Verständnis der Innenohrphysiologie, der Pathophysiologie und der assoziierten genetischen sensorineuralen Schwerhörigkeiten deutlich erweitert (aktuelle Übersicht in [3]. Zeitgleich hatten in den späten 1980erJahren 2 unabhängige Arbeitsgruppen den Nachweis der Regeneration von Haarzellen im Innenohr von Vögeln nach Lärmtrauma publiziert und so eine wahre Euphorie bezüglich der Übertragbarkeit auf das Säugetier- und letztlich das menschliche Innenohr angestoßen [2, 16]. In der Tat wurden in den folgenden Jahren einzelne Gene zur Überwindung des Teilungstopps im Zellzyklus von ausgereiften Säuger-Haarzellen und umgebenden Stützzellen identifiziert (u. a. [10, 22]). Durch Aktivierung des Atho1-Gens während der Ausreifung im Säugerinnenohr konnte sogar die Transdifferenzierung von Stützzellen in zusätzliche funktionelle Haarzellen erreicht werden [7, 23]. Die folgenden Abschnitte diskutieren eine Auswahl der aktuellen grundlagenwissenschaftlichen Ergebnisse und unterstreichen den Stellenwert der Hirnstammaudiometrie in der klinischen Hördiagnostik.  Trotz aller Meilensteine scheint die Aussicht auf die kurz- bis mittelfristigen Umsetzung der experimentellen Ergebnisse in alltagstaugliche regenerative Innenohrtherapien in der Patientenversorgung

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in weiter Ferne: Zu therapeutischen Hindernissen wie der chirurgisch anspruchsvollen Erreichbarkeit des Innenohrs über das runde Fenster und der ungleichmäßigen Verteilung von an das runde Fenster applizierten Substanzen, meist nur der basalen Windung [12], kommen gravierende zellbiologische Hindernisse: Bisher zeigen die in Zellkultur oder Tiermodellen eingebrachten Genkonstrukte eine fehlende Zellspezifität mit Transfektionen aller Zellarten der Cochlea, und nicht nur der Stützzellen im Corti-Organ [7]. Außerdem führten die eingebrachten Genkonstrukte zu einer temporären Transfektion der Zellen, und Sicherheitsbedenken bezüglich lokaler und systemischer Tumorinduktion bzw. Immunreaktionen bei permanenter Transfektion konnten bisher nicht sicher entkräftet werden [1]. Bereits heute kann jedoch das Hörvermögen der an sensorineuralen Schwerhörigkeiten leidenden Patienten mit Hörprothesen wie den klassischen Hörgeräten und den Cochleaimplantaten klinisch signifikant gebessert werden. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Verbesserung dieser Hörprothesen schneller in der praktischen Patientenversorgung anwendbar sein wird als alle regenerativen Therapieansätze. Folgerichtig hat auch von grundlagenwissenschaftlicher Seite die Untersuchung der zentralnervösen Verarbeitung von auditorischen Signalen – bei Normalhörigkeit wie bei Hörminderung – im letzten Jahrzehnt zunehmende Beachtung erfahren.

Pathogenese des Hörschadens Als Beginn der „funktionellen Synaptopathologie“ der afferenten Innenohrsynapse und des Hörnervs kann die Arbeit von Kujawa und Liberman aus dem Jahr 2009 [8] angesehen werden. Es hat eine Fokusverlagerung von der Regeneration der Haarzellen des Innenohrs zum Verständnis des neuralen Teils des „sensorineuralen“ Hörverlusts stattgefunden.

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Es besteht eine Fokusverlagerung von der Haarzellenregeneration zum neuralen Teil des „sensorineuralen“ Hörverlusts Im Lärmtraumamodell der Maus hatten Kujawa und Liberman erstmals einen dauerhaften Funktionsverlust der neuralen Leitungsstrukturen trotz erhaltener innerer und äußerer Haarzellen sowie vollständiger Hörschwellenregeneration nachgewiesen. In den nächsten Jahren folgten aus der gleichen Bostoner Arbeitsgruppe weitere Untersuchungen zur Art des Hörnervenfaserschadens im Lärmmodell [5] sowie zur Altersschwerhörigkeit im Mausmodell [20].

Lärmtrauma In der klinischen Praxis kommt es nach Lärmtrauma oder Hörsturz, in Abhängigkeit vom initialen Schaden, bei den meisten Patienten zu einem Wiederanstieg der Hörschwelle. Tierexperimente zur lärminduzierten Schwerhörigkeit haben gezeigt, dass im Fall einer persistierenden

Abb. 1 8 Konfokalmikroskopische Aufnahme einer Immunfluoreszenzfärbung der Region der afferenten Innenohrsynapse. In den Hörnervenfasern ist das 200-kDa-Neurofilament grün und in den inneren Haarzellen das CtBP-2 im Bänderproteinkomplex und im Zellkern rot gefärbt. Die Abbildung zeigt ein normales Innervationsmuster und eine normale Dichte der präsynaptischen Bänderproteinkomplexe bei einer 7 Wochen alten C57Bl6/J-Maus bei deren bester Hörfrequenz von 8 kHz

Erhöhung der Hörschwelle nach Trauma diese durch permanente Schäden der Stria vascularis und der cochleären Haarzellen, gefolgt vom langsamen Untergang der cochleären Spiralganglienneurone, verursacht wird [21]. Bei einer Resititutio der Hörschwellen im Tonaudiogramm und der Rückkehr von otoakustischen Emissionen wird klinisch bisher von einem rein temporären Schaden ohne verbleibende Langzeitstrukturfolgen ausgegangen. Im Tierversuch wurden als pathophysiologisches Korrelat die vorübergehende Lösung der synaptischen Verbindungen von Haarzellen und Hörnervenfasern mit anschließender Rekonnektion beobachtet ([13], . Abb. 1). Passend zu diesem etablierten Konzept beobachteten Kujawa und Liberman 8 Wochen nach einer „leichten“ Lärmexposition im Mausmodell in Anschluss an einen vorübergehenden Hörschwellenanstieg unmittelbar nach dem Trauma die vollständige Schwellenregeneration der BERA und der DPOAE im Verlauf. Die überschwellige Amplitude der Welle I in der BERA blieb jedoch permanent reduziert. Die DPOAE-Amplituden und -Schwellen der gleichen Frequenzen waren jedoch im Vergleich zu vor der Lärmexposition unverändert, was die stattgehabte vollständige Regeneration der Funktion der äußeren Haarzellen bestätigte. In der histologischen Aufarbeitung der exponierten Cochleae konnten Kujawa und Liberman dann einen persistierenden Verlust der synaptischen Verbindungen der terminalen Nervenfasern zu den inneren Haarzellen als anatomisches Korrelat der Ampitudenreduktion nachweisen. Zum gleichen 8-Wochen-

Zeitpunkt war die Neuronenzahl im Spiralganglion nur wenig reduziert, ein Jahr nach Exposition und permanenter Synapsenlösung war ihre Zahl jedoch auf 60% gesunken. Kujawa und Liberman [8] ist damit der Nachweis der umgehenden afferenten Neurodegeneration beim Lärmtrauma und einer zeitlich weit darüber hinaus gehenden Nervenzellkörperdegeneration gelungen. Dieses Trauma wäre zuvor als „unbedeutend“ mit einer Restitutio ad integrum beurteilt worden. Nach Lärmtraumata kommt es also trotz Schwellenregeneration zum Nervenschaden.

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Nach Lärmtraumata kommt es trotz Schwellenregeneration zum Nervenschaden Fazit.  Die Folgen dieser experimentellen Ergebnisse für Begutachtungsrichtlinien von Patienten mit Lärmtrauma sind auf den kommenden Tagungen unserer Fachgesellschaft kritisch zu diskutieren. Bisher gilt in den Begutachtungsleitlinien, dass „die Schwerhörigkeit sich während der Lärmarbeit entwickelt haben muss“, um in der Begutachtung Berücksichtigung zu finden [4]. Ob diese hörschwellenbasierende „Ausschlussklausel“ der aktuellen Richtlinie aufrechterhalten werden kann, ist in Anbetracht der Daten von Kujawa und Liberman [8] neu zu überdenken.

Altersschwerhörigkeit Das Hörvermögen sinkt zunehmendem Alter. Die Betroffenen schildern im klinischen Alltag einen Verlust der Sprachver-

ständlichkeit in anspruchsvollen Hörsituationen mit Umgebungsgeräuschen. Dieser im Sprachaudiogramm mit Störgeräusch objektivierbare Verständlichkeitsverlust korreliert nicht immer mit den oft noch guten Hörschwellen im Tonaudiogramm bzw. geht dem Hörschwellenanstieg um Jahre voraus. Grundlagenwissenschaftlich konnte in den letzten Jahrzehnten der audiometrische Hörschwellenanstieg – beim Menschen und in verschiedenen Tiermodellen – histomorphologisch gut mit dem sensorischen Verlust der Haarsinneszellen korreliert werden. Über das physiologische Altern der neuralen Komponenten, v. a. der afferenten Innenohrsynapse und der Hörnervenfasern, und deren Beitrag zum altersbedingten Hörverlust war jedoch bis zur Arbeit von Sergeyenko aus 2013 [20] wenig bekannt. Ähnlich wie in der beschriebenen Studie zum Lärm 2009 [8] bestimmten Sergeyenko et al. in regelmäßigen Abständen die BERA- und DPOEA-Schwellen von jungen (4 Wochen) bis greisen (144 Wochen) CBAMäusen. Gleichzeitig untersuchten sie die Struktur der afferenten Innenohrsynapse konfokalmikroskopisch. CBA-Mäuse sind ein geeignetes Modell zur Untersuchung der Altersschwerhörigkeit, da sie ein dem Menschen vergleichbares Verhältnis von Hörschwellenanstieg und relativem Lebensalter zeigen [20].

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Afferente Synaptopathie und Hörnervenfaserverlust bestehen vor Hörschwellenanstieg Bei den alternden CBA-Mäusen sahen Sereyenko et al. ab der 80. Lebenswoche (74% der mittleren Lebensdauer) einen progredienten Anstieg der BERA- und DPOAE-Schwellen. Mikroskopisch zeigte sich ab diesem Alter ein dramatischer Untergang der äußeren Haarsinneszellen bei erhaltenen inneren Haarsinneszellen als pathophysiologisches Korrelat. Auch ein 20%iger Verlust von Spiralganglienneuronen konnte objektiviert werden. Bereits viel früher, nämlich ab der 32. Lebenswoche (30% der mittleren Lebensdauer), war eine signifikante Reduktion der Amplitude I der BERA – bei noch unveränderter Schwelle – offensichtlich. Die HNO 2 · 2014 

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Leitthema Reduktion der BERA Wellen II–V war dahingegen weniger ausgeprägt. Als histomorphologisches Korrelat konnte hier ein kontinuierlicher Verlust von afferenten Synapsen an den inneren Haarzellen nachgewiesen werden. Dieser Synapsenverlust betraf zunächst v. a. die hohen Frequenzen, wurde mit zunehmendem Alter dann pantonal. Der prozentuale Synapsenverlust korrelierte dabei linear mit dem prozentualen Amplitudenverlust der Welle I. Sergyenko et al. [20] ist damit der Nachweis einer ausgedehnten altersbedingten Synaptopathie vor dem Beginn des altersbedingten Untergangs der äußeren Haarzellen mit Hörschwellenanstieg gelungen. Afferente Synaptopathie und Hörnervenfaserverlust bestehen also vor dem Hörschwellenanstieg.

Selektiver Hörnervenfaserverlust Eine plausible Erklärung für den zuvor sowohl bei der Lärm- als auch bei der Altersschwerhörigkeit beschriebenen Hörnnervenfaserverlust bei erhaltener Hörschwelle liefert die Arbeit von Furman et al. [5] am Lärmschwerhörigkeitsmodell des Meerschweinchens. Zum Verständnis der Arbeit ist folgendes Hintergrundwissen erforderlich: Jede innere Haarzelle bei den Säugerarten, so auch beim Menschen, wird von etwa 10– 30 Hörnervenfasern erreicht. Die einzelnen Fasern unterscheiden sich in ihrer spontanen Aktionspotenzialrate (SAR) und ihrer Schwelle bei akustischer Stimulation. Dieses Innervationsmuster trägt zur Vergrößerung des Dynamikbereichs des auditorischen Systems bei. Fasern mit langsamerer SAR haben die höheren Schwellen und sind daher wichtig für das Hören im Störgeräusch. Fasern mit hoher SAR haben niedrige Schwellen und sind für das hörschwellennahe Hören in Ruhe essenziell.

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Selektiver Faserverlust ist die Ursache für den Amplitudenverlust der BERA bei erhaltener Schwelle Furman et al. [5] konnten in ihrem Lärmtraumamodell, ähnlich wie bei dem von Kujawa und Liberman bei der Maus be-

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Zusammenfassung · Abstract HNO 2014 · 62:88–92  DOI 10.1007/s00106-013-2807-z © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 S. Euteneuer · M. Praetorius

Neues aus der Hörforschung. Von peripher nach zentral Zusammenfassung In der klinischen Praxis wird das Hörvermögen der Patienten zumeist mittels Tonaudiogramm und Sprachaudiogramm quantifiziert. Die Messung und detaillierte Analyse auditorisch evozierter Hirnstammpotenziale   (BERA) bei Hörstörungen geht beim Menschen über die Routinediagnostik in der HNO-Praxis hinaus. In grundlagenwissenschaftlichen Studien werden BERA regelmäßig zur Hörschwellenbestimmung der jeweiligen Tiermodelle eingesetzt. In den letzten Jahren hat die Auswertung der überschwelligen BERA, insbesondere der Welle-I-Amplituden, zur Aufdeckung und zum neuen Verständnis der Synaptopathologie der afferenten Innenohrsynapse und des Hörnervs geführt. Im Tiermodell und beim Menschen sichtbar werden diese Veränderungen an einer Amplitudenreduktion der Welle I der BERA. So konnte nach stattgehabter leichter Lärmbelastung sowie im zunehmenden Alter die den sensorischen Defiziten (Haarzell-

verlust) vorauseilende neurale Komponente der sensorineuralen Schwerhörigkeit identifiziert werden, nämlich der Verlust von afferenten Synapsen der inneren Haarzelle mit Untergang der zugehörigen Hörnervenfasern. Eben diese Ampitudenreduktion konnte auch bei Patienten mit Tinnitus bei scheinbar normalen Hörvermögen identifiziert werden. Neue funktionelle Magnetresonanztomographiestudien deuten darauf hin, dass das limbische System die Wahrnehmung der Tinnitussensation im Sinne eines endogenen Noise-cancelling-Systems beeinflussen kann und unterstreichen damit die Bedeutung psychotherapeutischer Ansätze bei chronischem Tinnitus. Schlüsselwörter Sensorineurale Schwerhörigkeit · Tinnitus · Zentrale auditorische Verarbeitung · Auditorisch evozierte Hirnstammpotenziale · Versteckter Hörverlust

Hearing research news. From the periphery to the center Abstract In the clinical setting, a patient’s hearing level is usually quantified by determining the hearing threshold in pure tone and speech audiometry. The measurement and analysis of auditory brainstem responses (ABRs) for quantification of hearing impairment go beyond the scope of routine ENT diagnostic practice. In basic scientific studies, ABRs are commonly used to determine hearing thresholds in animal models. In the last few years, analysis of suprathreshold ABRs, particularly ABR wave I suprathreshold amplitudes, have led to the discovery and understanding of previously undetected hearing impairments in noise-induced and age-related hearing loss models. Deafferentation of inner hair cells and auditory nerve fiber degeneration were identified as pathophysiological correlates to the ob-

schriebenen Modell [8], eine komplette Regeneration von DPOAE-Schwellen und -Amplituden nachweisen, während sich bei den BERA-Untersuchungen lediglich die Schwellen, nicht jedoch die Amplituden normalisierten. Der verbleibende Amplitudenverlust der BERA-Welle I betrug 40% bei überschwelligen Reizen. In Einzelfaserableitungen zeigten Furman

served reduction in ABR wave I amplitudes. Such reductions in ABR wave 1 amplitudes could also be identified in chronic tinnitus patients with apparently normal hearing. Recent functional magnetic resonance tomography studies in humans have shown that the limbic system can influence the perception of tinnitus by interacting with an endogenous noise-cancelling system. This highlights the importance of psychotherapeutic treatment approaches for chronic tinnitus. Keywords Sensorineural hearing loss · Tinnitus · Central auditory processing · Auditory brain stem evoked responses · Hidden hearing loss

et al., dass v. a. die Fasern mit langsamer SAR und hohen Erregungsschwellen von diesem Verlust betroffen waren. Da diese Fasern erst bei überschwelliger Reizung rekrutiert werden, wird klar, warum die BERA-Schwellen (gemessen an der Welle I) in dieser und den beiden anderen vorgestellten Studien unverändert blieben, während die überschwelligen Amp-

lituden stark reduziert waren. Gleichzeitig wird klar, warum beim Patienten das Sprachverstehen im Störgeräusch, welches auf die Intaktheit der langsamen SARHörnvervenfasern baut, im Alter besonders beeinträchtigt ist. Es besteht also ein selektiver Faserverlust, der Ursache für den Amplitudenverlust der BERA bei erhaltener Schwelle ist. Fazit.  Die Ergebnisse unterstreichen erneut die Bedeutung des „versteckten“, weil in der Tonaudiometrie nicht erfassbaren, Hörschadens in der Pathogenese der häufigen Hörstörungen. Die Daten legen nahe, BERA-Untersuchungen – nicht nur zum Ausschluss eines Akustikusneurinoms – in das diagnostische Routinerepertoire bei Hörstörungen aufzunehmen.

Tinnitus Auch wenn mittlerweile Konsens besteht, dass eine Tinnitusempfindung im zentralen Nervensystem generiert wird, wird doch eine Schädigung des peripheren auditorischen Systems als notwendige Voraussetzung zur Tinnitusentstehung postuliert. Die soeben diskutierten Arbeiten von Kujawa und Liberman [8], Sergeyenko [20] und Furman [5] zum persistenten Hörnervenschaden bei Restitutio sowohl der Hörschwelle als auch der Funktion der äußeren Haarzellen liefern hier eine Erklärungsmöglichkeit für die klinisch beobachtete Tinnitusentstehung bei Patienten mit normaler Hörschwelle – aber eben nicht normaler Neurotransmission. Die aktuelle Arbeit von Schaette und McAlpine [18] untermauert dieses Modell durch die detaillierte Analyse von BERA-Untersuchungen bei Patienten mit chronischem Tinnitus, aber normaler Hörschwelle im Tonaudiogramm.

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Bei Tinnituspatienten bestand eine signifikante Reduktion der Amplitude der Welle I Bei den Tinnituspatienten wiesen die Autoren, bei normaler BERA-Schwelle im Vergleich zu Kontrollpersonen ohne Tinnitus, eine signifikante Reduktion der Amplitude der Welle I der BERA bei normaler Amplitude der Welle V der BE-

RA nach. Die reduzierte Welle I der BERA lässt auf eine reduzierte Signalübertragung im Hörnerv schließen, welche von der zentralen Hörbahn bis zum Erreichen des auditorischen Kortex (Welle V) jedoch wieder „ausgeglichen“ wird. Eine aktuelle Übersicht über die neurophysiologischen Korrelate der Tinnitusentstehung gibt die Arbeit von Schaette und Kempter aus dem Jahr 2012 [19].

Tinnitus und psychische Belastung Psychische Belastung durch chronischen Tinnitus – oder Tinnituschronifizierung nur bei psychischer Belastung? Mit dieser Suggestion bezüglich der Umkehr von Ursache und Wirkung provozieren zumindest 2 Beiträge, die 2010 und 2011 in der renommierten Zeitschrift „Neuron“ publiziert wurden [9, 14]. Leaver et al. [9] verglichen mittels funktioneller MRT-Bildgebung die Aktivierungsmuster zentraler auditorischer und limbischer Zentren während der Exposition gegenüber einem Schmalbandrauschen von 60–65 dB bei Tinnituspatienten mit nach Alter und Hörschwellen gematchten Kontrollpatienten. Bei Stimulation mit einem der Tinnitusfrequenz entsprechenden Schmalbandrauschen fanden sie im Gruppenvergleich eine erhöhte Aktivierung im linken primären auditorischen Kortex und im Nucleus accumbens bei den an Tinnitus erkrankten Patienten, während die Aktivierungsmuster nur ein Neuron tiefer in der Hörbahn, dem Corpus geniculatum mediale, noch vergleichbar waren. Außerdem war bei Tinnituspatienten auf alle Stimulationsfrequenzen hin die Aktivität im sekundären auditorischen Kortex erhöht und Veränderungen im ventromedialen präfontalen Kortex sichtbar. Diese Daten sollen nicht zum Fehlschluss verleiten, dass der Entstehungsort der gesteigerten neuronalen Aktivität und Synchronisierung, die als Ursache für die auditorischen Phantomwahrnehmnung Tinnitus postuliert wird (Übersicht in [15]), nun im auditorischen Kortex identifiziert worden sei. Nach wie vor ist nicht geklärt, wo im auditorischen System erstmals die im Tierexperiment beobachtete gesteigerte Spontanaktivität und Synchronisierung der neuronalen Aktivität

auftritt. Was Daten von Leaver [9] jedoch liefern, ist das neurophysiologische Korrelat für die klinisch und therapeutisch zu beobachtende Verschaltung der zentralen Hörbahn mit jenen Zentren des limbischen Systems, die Emotionen, bewusste Wahrnehmung und Aufmerksamkeit steuern. Aus neurophysiologischer Sicht nehmen die limbischen Efferenzen an den Nervenfasern vom Corpus geniculatum mediale des Thalamus zum auditorischen Kortex, der Schaltstelle zum Bewusstwerden des Höreindrucks, zumeist inhibierenden Einfluss auf die aufsteigenden Höreindrücke [11].

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Limbische Efferenzen inhibieren vom Corpus geniculatum mediale zum auditorischen Kortex aufsteigende Höreindrücke Rauschecker [14] postuliert in seinem Positionspapier daher die mögliche Ablation eines Hör- bzw. Tinnitussignals auf Thalamusebene durch das limbischen System im Sinne eines körperinternen Noise-cancelling-Systems. Erst die Dysfunktion dieses Filters, so die These, ermögliche die bewusste Wahrnehmung des Ohrgeräusches [14]. Aus der Perspektive des Therapeuten betrachtet, liefert die Rauschecker-Hypothese damit eine neurophysiologische Erklärung für die klinisch beobachten Erfolge der Tinnitus-Retraining-Therapie und der Psychotherapie (Übersicht in [17]): Die Modulation der Aufmerksamkeit und der Emotion führt zur Modulation der Intensitätswahrnehmung und damit zur möglichen der Linderung eines Ohrgeräusches. Fazit.  Diese Daten sollten dazu motivieren, die Kollegen der Psychologie und Psychotherapie frühzeitig in die schwierige Behandlung der HNO-Patienten mit chronischem Tinnitus einzubinden.

Ausblick Die in dieser Übersichtarbeit diskutierten Publikationen untersteichen die direkte klinische Relevanz der zentralen auditorischen Signalverarbeitungsmechanismen und die Bedeutung des „versteckten“ Hörverlusts für die Entstehung der häuHNO 2 · 2014 

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Leitthema figsten Hörstörungen. Es ist höchst erfreulich, dass die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) mit ihrem aktuellen Sonderforschungsprojekt „Ultrafast and temporally precise information processing: normal and dysfunctional hearing“ explizit die deutsche Grundlagenforschung an der zentralen auditorischen Signalverarbeitung unterstützt. Gleichzeitig motivieren die in dieser Übersicht genannten Arbeiten zur detaillierteren Auswertung der heute bereits in der klinischen Routinediagnostik zur Verfügung stehenden Messverfahren wie z. B. der BERA-Untersuchung. Es bleibt spannend, wie die Interaktion von „bench to bedside“ – und zurück – in den nächsten Jahren das Verständnis und die klinischen Behandlungskonzepte von Hörstörungen beeinflussen wird.

Fazit für die Praxis F Die Detailanalyse der überschwelligen BERA im Tiermodell hat zu einem ganz neuen Verständnis der Synaptopathologie der afferenten Innenohrsynapse und der Pathologie des Hörnervs geführt. F Bei der progredienten sensorineuralen Schwerhörigkeit im Alter oder bei Lärmbelastung eilt die neurale Komponente mit Untergang der afferenten Synapsen und Hörnervenfasern den sensorischen Defiziten (Haarzellverlust) voraus. F Im Tiermodell und beim Menschen werden diese Veränderungen an einer Ampitudenreduktion der Welle I der BERA sichtbar, daher empfiehlt sich die vermehrte Beachtung der   BERA in der audiologischen Diagnostik häufiger Hörstörungen.

Korrespondenzadresse S. Euteneuer Hals-Nasen-Ohren-Klinik,   Universitätsklinikum Heidelberg Im Neuenheimer Feld 400, 69120 Heidelberg [email protected]

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Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  S. Euteneuer und M. Praetorius geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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