Leitthema Z Rheumatol 2014 DOI 10.1007/s00393-013-1258-y © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

A. Zink1, 2 1 Programmbereich Epidemiologie, Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Berlin 2 Rheumatologie und Klinische Immunologie, Charité Universitätsmedizin Berlin

Versorgungsforschung in der Rheumatologie Aktueller Stand

Die Rheumatologie in Deutschland verfügt seit mehr als 25 Jahren über eine systematische Versorgungsforschung. Leitende Fragestellungen waren und sind: F Wie umfassend erreicht die spezialisierte Versorgung die Rheumakranken in der Bevölkerung? F Wie gut ist die Versorgung in und außerhalb der Rheumatologie? F Welche Entwicklungen im Versorgungsgeschehen können im Zeitverlauf beobachtet werden? F Welche Schlussfolgerungen können aus den Ergebnissen der Versorgungsforschung für den einzelnen Patienten gezogen werden? Im Folgenden werden wesentliche Ergebnisse der Versorgungsforschung am Beispiel der rheumatoiden Arthritis (RA) als der häufigsten entzündlich-rheumatischen Gelenkerkrankung in Deutschland zusammengefasst.

Reichweite rheumatologischer Versorgungsangebote Eine grundlegende Frage der Versorgungsforschung ist es, welcher Anteil der Kranken in der Bevölkerung durch rheumatologische Versorgungsangebote erreicht wird. Bei der RA kann beispielsweise von der weitgehend unumstrittenen Grundannahme ausgegangen werden, dass Diagnosestellung und Therapieeinleitung sowie Therapieänderungen durch internistische Rheumatologen erfolgen sollten [9].

D Die Versorgungsforschung ermög-

licht eine Abschätzung, wie gut die Rheumakranken durch die spezialisierte Versorgung erreicht werden Für die Berechnung, welcher Anteil der RA-Kranken in der Bevölkerung (wahre Prävalenz) oder der Neuerkrankten (wahre Inzidenz) durch Rheumatologen betreut wird, werden Informationen benötigt F über Prävalenz und Inzidenz der Erkrankung in Deutschland, F über die Zahl der durchschnittlich von einem Rheumatologen betreuten Patienten, F über die Zahl ambulant tätiger Rheumatologen und schließlich F über die aktuelle Bevölkerungszahl.

Prävalenz und Inzidenz Daten zur Prävalenz der RA sowie zur rheumatologischen Versorgung in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts liegen aus der Studie von Wasmus und Raspe in Hannover [14] vor. In dieser Studie wurden 8044 repräsentativ ausgewählte Personen aus der Region Hannover befragt und bei Vorliegen typischer Beschwerden rheumatologisch untersucht. Die Mindestprävalenz wurde mit 0,56% (CI 0,37–0,75%) und die angenommene Prävalenz (unter Einrechnung von Verzerrungsfaktoren) mit 0,91% (CI 0,64– 1,18%) berechnet [14, 15]. In den Jahren 2006 und 2007 führte das Deutsche Rheuma-Forschungszentrum (DRFZ) unter Nutzung des TNS

Health Care Panels eine bundesweite Untersuchung (Survey) zur Versorgungssituation RA-Kranker durch [19]. Dieser Survey umfasste 54.979 Normalpersonen, die in einem dreistufigen Verfahren F zunächst schriftlich auf Beschwerden an den Bewegungsorganen gescreent, F bei Angabe von Beschwerden intensiver schriftlich befragt und F schließlich rheumatologisch untersucht oder durch einen Rheumatologen telefonisch befragt wurden. Hierbei wurden insgesamt 499 RA-Kranke identifiziert. Dies entspricht einer Prävalenz der RA von 0,9%. Da ein Teil der Diagnosen nur per ärztlichem Telefoninterview gestellt werden konnte, kann eine leichte Überschätzung nicht ausgeschlossen werden. Im Folgenden wird von der international vielfach bestätigten Prävalenz der RA von 0,8% [13] ausgegangen, die auch im Bereich der Daten von Wasmus und Raspe sowie des Surveys liegt. Nach der Volkszählung im Jahr 2011 leben in Deutschland derzeit 67.081.090 Erwachsene [10]. Hieraus ergibt sich eine erwartete Zahl von 537.000 erwachsenen RA-Kranken. An inzidenten Fällen werden bei 0,04% [2, 4] etwa 26.800 Neuerkrankungen pro Jahr erwartet.

Erreichungsgrad der Kranken in der Bevölkerung In der Studie von Wasmus und Raspe [14] befanden sich in den Jahren 1985–1988 im Raum Hannover nur 16% der identiZeitschrift für Rheumatologie 2014 

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Leitthema fizierten RA-Kranken zum Zeitpunkt der Untersuchung in rheumatologischer Betreuung, 33% hatten jemals einen Rheumatologen gesehen. Dies hat sich tiefgreifend gewandelt: Der DRFZ-Survey aus den Jahren 2007 und 2008 zeigte, dass von den in der Bevölkerung identifizierten RA-Kranken 64% in den letzten 12 Monaten vor Dokumentation in rheumatologischer Betreuung waren, 29% waren früher bei einem Rheumatologen gewesen und nur 7% hatten nie einen Rheumatologen aufgesucht. Knapp 20% litten beim ersten Rheumatologenbesuch bereits seit mindestens 2 Jahren an RA-typischen Symptomen [19].

Patientenzahlen je Rheumatologe Aufschluss über die Versorgung innerhalb des rheumatologischen Versorgungssegments gibt die seit dem Jahr 1993 durchgeführte Kerndokumentation der Rheumazentren [20]. Sie stellt jährlich aktualisierte Daten zum Diagnose- und Behandlungsspektrum sowie zu Schweregraden und Krankheitsfolgen bereit. Hinweise auf die Zahlen der durch einzelne vertragsärztlich tätige Rheumatologen betreuten Patienten gibt die im Auftrag des Berufsverbandes Deutscher Rheumatologen durchgeführte Untersuchung der Universität Hannover aus dem Jahr 2005 [7, 8]. Es wurden 133 vertragsärztlich tätige und 64 ermächtigte Rheumatologen befragt. Die mittlere Zahl betreuter Patienten je Rheumatologe und Jahr wurde mit 1200 angegeben. Der Anteil der RA-Kranken betrug bei vertragsärtzlich tätigen Rheumatologen rund 40%. Dies sind 480 RA-Kranke je Praxis und Jahr. In der Kerndokumentation werden durch derzeit 16 Einrichtungen (davon 9 Vertragsärzte) jährlich rund 8000 Patienten mit RA erfasst, im Durchschnitt also 500 RA-Kranke pro Einrichtung und Jahr. Wird dies nun als Anhalt zugrunde gelegt, so wäre im Durchschnitt bei internistischen Rheumatologen in Deutschland mit 500 RA-Patienten pro Jahr zu rechnen, die sich dauerhaft in rheumatologischer Betreuung befinden.

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Im Durchschnitt betreut ein ambulant tätiger Rheumatologe 500 RA-Kranke Die beiden Schätzungen stimmen gut überein, daher wird im Folgenden von 500 RA-Kranken je ambulant tätigen Rheumatologen ausgegangen.

Ambulant tätige Rheumatologen und Anzahl rheumatologisch betreuter RA-Kranker Prävalente Fälle

Ende des Jahres 2012 waren 407 internistische Rheumatologen vertragsärztlich im Facharztbereich tätig und 25 fachinternistisch in freier Praxis angestellt [6]. Sie würden auf dieser Berechnungsgrundlage 216.000 RA-Kranke dauerhaft rheumatologisch (mit)betreuen. Nimmt man für F die 138 hausärztlich in freier Praxis tätigen oder in Praxen angestellten Rheumatologen, F die 116 ermächtigten und F die mindestens 86 in Ambulanzen nach §116b tätigen Rheumatologen jeweils zwei Drittel der Versorgungsleistung der fachärztlich niedergelassenen Rheumatologen (s. Beitrag von E. Edelmann in diesem Heft) sowie für die 27 Rheumatologen mit Doppelzulassung 50% der Versorgungsleistung an, so kämen weitere 120.000 rheumatologisch versorgte RA-Kranke hinzu. Von den 537.000 RA-Kranken in Deutschland würden demnach 336.000 oder 63% rheumatologisch mitbetreut. Im Survey wurden 64% rheumatologisch mitbetreute RA-Kranke in der Bevölkerung gefunden. Es kann also davon ausgegangen werden, dass rund zwei Drittel der RA-Kranken in der Bevölkerung rheumatologisch mitbetreut werden. Die obigen Zahlen zugrunde gelegt, würde dies außerdem bedeuten, dass 80% der ambulanten rheumatologischen Versorgungsleistung durch Vertragsärzte erbracht werden.

Inzidente Fälle

Im Rahmen des Zuweiserprojekts [16] wurden in einem Quartal des Jahres 2008 insgesamt 17.908 Erstzuweisun-

gen durch 198 rheumatologische Einrichtungen dokumentiert. Davon wurden 16.371 Patienten durch 178 vertragsärztlich tätige internistische Rheumatologen betreut. Bezogen auf die Vertragsärzte waren dies 92 neue Patienten pro Quartal oder 368 pro Jahr. In den Klinikambulanzen waren es 77 neue Patienten pro Quartal oder 308 pro Jahr. Von den Erstzuweisungen hatten 19% eine RA als Überweisungsdiagnose, die in 80% (81% in Klinikambulanzen) der Fälle durch den Rheumatologen bestätigt wurde. Dies ergibt pro Jahr 56 neue Fälle von gesicherter RA je vertragsärztlicher und 47 je klinischer Einrichtung. Von den vertragsärztlich betreuten Patienten wurden 44%, von den in Kliniken betreuten 53% innerhalb des ersten Jahres nach Symptombeginn gesehen. Dies ergibt jeweils 25 inzidente RA-Fällen pro Jahr je vertragsärztlich oder in einer Klinik tätigen Rheumatologen. Wird für die 713 als Vertragsärzte oder in Klinikambulanzen tätigen Rheumatologen in Deutschland die aus dem Zuweiserprojekt errechnete Zahl von 25 inzidenten RA-Fällen pro Jahr zugrunde gelegt, so würden jährlich 17.800 Fälle mit inzidenter RA rheumatologisch versorgt. Von den insgesamt in Deutschland erwarteten 26.800 inzidenten RA-Fällen würden demnach 67% rheumatologisch mitbetreut. Unter der Prämisse, dass das Zuweiserprojekt, die Befragung durch den Berufsverband und die Kerndokumentation ein realistisches Bild abgeben, kann davon ausgegangen werden, dass derzeit jeweils rund zwei Drittel der prävalenten und der inzidenten RA-Fälle rheumatologisch erreicht werden.

Versorgungsqualität Eine zweite Aufgabe der Versorgungsforschung ist es, die Qualität der Versorgung zu bewerten.

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Mithilfe der Versorgungsforschung lässt sich die Versorgungsqualität bewerten Neben dem Erreichungsgrad spielen hier die Frühzeitigkeit der Therapieeinleitung

Zusammenfassung · Abstract und die Versorgung entsprechend evidenzbasierter Leitlinien eine Rolle.

Frühzeitigkeit des Rheumatologenkontakts Der bessere Erreichungsgrad von Kranken in der Bevölkerung geht einher mit einer deutlichen Verkürzung der mittleren Symptomdauer bis zum ersten Rheumatologenkontakt von rund 2 Jahren auf 1 Jahr (Kerndokumentation 1994 und 2012). Während im Jahr 1994 noch 36% aller erstmalig beim Rheumatologen gesehenen RA-Kranken eine Krankheitsdauer von mehr als einem Jahr hatten, waren es im Jahr 2008 nur noch 15% [21]. Im Zuweiserprojekt betrug im Jahr 2008 die mittlere Symptomdauer neu zugewiesener Patienten mit Verdacht auf RA 33 Wochen. Es wurden 39% der Patienten innerhalb des „window of opportunity“ von

[Healthcare research in rheumatology. Current state].

Health services research in rheumatology investigates the healthcare needs, the quality of care and trends in healthcare for patients with musculoskel...
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