Leitthema Nervenarzt 2015 DOI 10.1007/s00115-014-4151-2 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

A. Mehnert · T.J. Hartung Sektion Psychosoziale Onkologie, Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig, Leipzig

Psychoonkologische Versorgungsforschung Die Versorgungsforschung in der Psychoonkologie nimmt vor dem Hintergrund sich verändernder demographischer Entwicklungen, zahlreicher Fortschritte in Diagnostik und Krebstherapie, der zunehmenden Patientenorientierung innerhalb der Versorgung, fundierten Kenntnissen über die psychosozialen Belastungen und die psychische Komorbidität bei Patienten und Angehörigen sowie der Bandbreite evidenzbasierter psychoonkologischer Interventionen eine zunehmend wichtige Rolle ein.

Hintergrund Steigende Inzidenzraten und eine verbesserte Diagnostik sowie Behandlungen haben in den letzten Jahren dazu geführt, dass immer mehr Menschen mit einer Krebserkrankung leben. Im Jahr 2010 gab es rund 477.300 Neuerkrankungen in Deutschland, ein Anstieg von 21% bei Männern bzw. 14% bei Frauen zwischen 2000 und 2010. Die Sterberaten sind dabei im gleichen Zeitraum bei Männern um 17%, bei Frauen um 11% zurückgegangen. Die häufigsten Tumorentitäten sind Prostata-, Brust-, Darm- und Lungenkrebs [24]. Multimodale Behandlungsschemata, die zu einem tumorfreien Überleben oder zur Verlängerung der Lebenszeit beitragen, können allein oder in Kombination das Risiko für körperliche Folgeprobleme oder Spätkomplikationen erhöhen. Für zahlreiche Patienten nimmt die Krebserkrankung einen chronischen Verlauf und ist mit teilweise erheblichen Einschränkungen und Belastungen verbun-

den, die auch in mittel- und längerfristiger Perspektive die Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigen. Die psychosozialen Krankheitsfolgen resultieren dabei aus einem vielschichtigen Zusammenspiel verschiedener Einflüsse wie den individuellen Charakteristika einer Person, Merkmalen des sozialen Umfelds, Lebensstilfaktoren, Folgen des normalen Alterungsprozesses sowie der Langzeit- oder verzögert auftretenden Toxizität verschiedener Krebstherapien [21]. Zu den häufigsten Problemen von Krebspatienten im längerfristigen Krankheitsverlauf zählen chronische Schmerzen, krebsspezifische Fatigue, psychosoziale Belastungen sowie Einschränkungen der Selbstständigkeit, der Teilhabe an Arbeit und der Lebensqualität [1]. Interventionsprogramme zur Verbesserung des Gesundheitsverhaltens und des Lebensstils nehmen deshalb eine zunehmend wichtige Rolle ein. Auch für Patienten mit einer nicht heilbaren Krebserkrankung hat sich die Überlebenszeit in den letzten Jahren z. T. deutlich verlängert. Die American Society of Clinical Oncology (ASCO) empfiehlt in einer klinischen Stellungnahme, dass für Patienten mit einer metastasierten Erkrankung und solchen mit vielen oder schweren Symptomen bereits frühzeitig und parallel zur aktiven Antikrebstherapie palliative Versorgung („early palliative care“) angeboten wird [29].

Psychoonkologische Versorgung Psychoonkologische Versorgung findet in Deutschland vor allem durch psychosoziale Krebsberatungsstellen, Akutkran-

kenhäuser, onkologische Rehabilitationseinrichtungen und ambulante Psychotherapie statt. Stationär ist die Psychoonkologie meist an Fachabteilungen wie z. B. der Medizinischen Psychologie, Psychosomatik oder Psychiatrie angegliedert, teilweise aber auch als eigenständige Abteilung in onkologischen Zentren zu finden. Psychoonkologische Versorgung ist dabei eine Zertifizierungsvoraussetzung für Krebszentren der Deutschen Krebsgesellschaft (DKG). Die Versorgung im Akutkrankenhaus erfolgt im Rahmen der stationären oder ambulanten Versorgung durch Konsiliar- und Liaisondienste sowie Institutsambulanzen [12].

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Patientenseitige psychosoziale Bedürfnisse werden häufig nicht erkannt Krebspatienten steht eine Anschlussrehabilitation als Rehabilitationsmaßnahme zu, die von den Renten- oder Krankenversicherungen getragen wird. Diese erfolgt meist stationär und umfasst medizinische, Physio- und Sporttherapien, aber auch Angebote aus Psychologie, Ergotherapie und künstlerische Therapien. Ambulante Krebsberatungsstellen mit meist multidisziplinären Teams z. B. aus Sozialarbeitern/-pädagogen und Psychologen stehen nicht nur Patienten, sondern auch Angehörigen zur Verfügung. Deren Angebote reichen von Informationsvermittlung, Sozialberatung und Psychoedukation bis hin zu Krisenintervention und Kurzzeitpsychotherapie. Psychoonkologische Versorgung kann außerdem von niedergelassenen Psychotherapeuten geleisDer Nervenarzt 2015 

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Leitthema tet werden. Für eine patientenzentrierte Versorgung ist darüber hinaus die Krebsselbsthilfe in Form zahlreicher Gruppen von großer Bedeutung. Die Versorgungssituation in vielen onkologischen Behandlungszentren ist trotz zahlreicher notwendiger Verbesserungen hinsichtlich der Implementierung psychosozialer Versorgungsangebote für Krebspatienten dadurch gekennzeichnet, dass patientenseitige Bedürfnisse nach psychosozialer und psychoonkologischer Unterstützung meist nicht oder nicht ausreichend erkannt werden. Wird der Bedarf erfasst, fehlt in der Praxis häufig eine zeitnahe Bereitstellung entsprechender Unterstützungsangebote, die sektorenübergreifend eine kontinuierliche Begleitung ermöglichen, sodass zahlreiche Patienten und Angehörige keine Hilfe erhalten, obwohl sie von Unterstützungsangeboten profitieren könnten. Die Versorgungssituation hat sich vor allem auch durch die Zertifizierungsanforderungen im stationären Bereich deutlich verbessert. Dagegen besteht für die ambulante psychoonkologische Versorgung vor allem aufgrund der fehlenden Regelfinanzierung von psychoonkologischen und psychosozialen Beratungs- und Interventionsangeboten eine Unterversorgung. Aufgrund der langen Wartezeiten und der hohen Anforderungen an zeitliche Flexibilität gerade bei körperlich schwer kranken Patienten kann der ambulante Bedarf durch niedergelassene Psychotherapeuten nur bedingt gedeckt werden.

Psychoonkologischer Versorgungsbedarf In den letzten Jahren wurden die Frage des Bedarfs psychosozialer Versorgung in der Onkologie und die Frage der Bedarfsgerechtigkeit sowohl in der Fachöffentlichkeit als auch bei politischen Entscheidungsträgern kontrovers diskutiert. Die Relevanz dieser Diskussion wird insbesondere im Hinblick auf die Forderungen nach einer bedarfsabhängigen angemessenen psychoonkologischen Versorgung im Nationalen Krebsplan (Handlungsfeld 2, Ziel 9; [7]) und im Rahmen der Umsetzung der Empfehlungen der S3-Leitlinie Psychoonkologie [26] deutlich. Die psychoonkologische und psychosoziale Ver-

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sorgung von Krebspatienten sollte qualitätsgesichert, geplant und rational strukturiert erfolgen. Der erste Schritt im Prozess relevanter Planungen ist die Analyse des Bedarfs. Bedarf erfordert definitionsgemäß zum einen das Vorhandensein eines relevanten Gesundheitsproblems bzw. einer krankheitswertigen Störung, zum anderen die Verfügbarkeit wirksamer Interventionen zur Linderung oder Heilung dieser Störung bzw. zur Reduktion des gesundheitlichen Problems [27].

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Ein Drittel aller Krebspatienten leidet an einer psychischen Störung Epidemiologische Studien und Metaanalysen zur Punktprävalenz psychischer Komorbidität zeigen, dass durchschnittlich ein Drittel aller Krebspatienten an einer psychischen Störung leidet, wobei eine hohe Varianz zwischen den unterschiedlichen Tumorentitäten zu beobachten ist [18, 28]. Brustkrebspatientinnen haben mit 42% die höchste Prävalenz, während Patientinnen und Patienten mit Pankreaskrebs (20%) sowie Magen- und Speiseröhrenkrebs (21%) die niedrigsten Prävalenzraten aufweisen [18]. Unter den komorbiden Störungsbildern finden sich am häufigsten Angststörungen, Anpassungsstörungen sowie affektive Störungen [19, 18, 30]. Subsyndromale psychische Belastungen wie eine erhöhte Ängstlichkeit und Depressivität treten weitaus häufiger bei bis zu zwei Dritteln der Patienten auf [16, 31, 32]. Wird im Rahmen einer patientenzentrierten Versorgung in der Onkologie die Perspektive des Patienten einbezogen, ergibt sich ein anderer Bedarf. Aktuelle Studien zeigen, dass knapp die Hälfte der befragten Patienten ein mittleres bis hohe Bedürfnis nach Unterstützung hat [4, 5]. Besonders häufig werden Bedürfnisse nach psychologischer Unterstützung, nach Unterstützung bei der Alltagsbewältigung sowie nach Informationen genannt [11]. Ob und wann ein Patient Beratung und Unterstützung wünscht und in Anspruch nimmt, hängt von einer Vielzahl von Faktoren und nicht allein von seiner psychosozialen Belastung ab. Zu diesen Faktoren gehören u. a. die Information über

Angebote, niedrigschwellige Zugangswege, Empfehlung Dritter, die Überweisung durch den behandelnden Arzt sowie Vorerfahrungen mit psychosozialen Unterstützungsangeboten. So zeigt eine deutsche Studie über Zugangswege, psychische Belastungen und Unterstützungsbedürfnisse von Patienten und Angehörigen in der ambulanten psychoonkologischen Versorgung, dass 28% der Krebspatienten Unterstützungsangebote auf eigene Initiative aufsuchen, während die Mehrzahl auf Empfehlung des behandelnden Arztes (67%) und/oder von Angehörigen und Freunden (17%) kommt [25]. Je nachdem, welcher Krankheits- oder Störungsbegriff und welche Perspektive zugrunde gelegt wird, d. h. ob Forderungen nach psychosozialer Versorgung ausschließlich an psychische Störungen gekoppelt werden oder auch an subsyndromale psychische Belastungen, emotionales Leiden oder Dysfunktionen sowie an Informations- und Unterstützungsbedürfnisse der Patienten, wird sich ein anderer psychoonkologischer und psychosozialer Versorgungsbedarf ergeben. Die S3-Leitlinie Psychosoziale Onkologie entspricht dieser Tatsache mit einem screeningbasierten gestuften Versorgungsmodell und dem Vorhalten eines Spektrums an psychosozialen Interventionen, das von Information und Beratung bis hin zu Psychotherapie reicht. Zukünftig bedarf es jedoch einer stärkeren empirischen Datengrundlage, inwieweit durch entsprechende Versorgungsmodelle tatsächlich diejenigen Patienten erreicht werden, die von psychosozialen Interventionen profitieren könnten [17]. Die Wirksamkeit psychoonkologischer Interventionen kann inzwischen als gut belegt gelten. Eine umfassende Metaanalyse zeigt die Evidenz aus randomisierten, kontrollierten Studien (RCTs) für die Wirksamkeit psychoonkologischer Interventionen (Einzel- und Gruppentherapie, Psychoedukation und Entspannungsverfahren) hinsichtlich der Reduktion emotionaler Belastungen und der Verbesserung der Lebensqualität [10]. Diese Metaanalyse zeigt aber auch den Bedarf an weiteren methodisch hochwertigen Psychotherapiestudien in der Onkologie und in der (frühen) palliativen Versorgung.

Zusammenfassung · Summary

Herausforderungen für die Versorgungsforschung in der Psychoonkologie Diese dargestellten Entwicklungen verdeutlichen wichtige Veränderungen sowohl in der kurativen als auch palliativen onkologischen Versorgung, die verschiedene Implikationen für die psychoonkologische Versorgungsforschung haben. So werden aktuell sowohl im Rahmen des Nationalen Krebsplans (BMG) als auch im Rahmen der zweiten Ausschreibungsrunde des Förderungsschwerpunktprogramms „Psychosoziale Onkologie“ der Deutschen Krebshilfe (DKH) verschiedene Forschungsprojekte in Deutschland zu versorgungsrelevanten psychoonkologischen Themen gefördert. Krebspatienten überleben heute länger mit vielfältigen körperlichen und psychosozialen Folgeproblemen für den Einzelnen wie für die Gesellschaft. Dies betrifft zum einen die Gruppe der jungen Krebsüberlebenden („adolescents and young adults“, AYAs), zum anderen die älteren Patienten mit spezifischen Gesundheits- und Versorgungsbedürfnissen [9]. So zeigen epidemiologische Daten, dass 50% der Krebsüberlebenden („cancer survivor“) 70 Jahre und älter sind [23]. Neben einer heute überwiegend kurzen stationären Behandlungsdauer führt das Langzeitüberleben zu einem höheren Bedarf an ambulanten psychoonkologischen Beratungs- und Versorgungsangeboten. Die zunehmende Urbanisierung und Veränderungen städtischer und ländlicher Gesundheitsversorgung sowie die Zunahme an kultureller und sozialer Diversität in unserer Gesellschaft führt zu einer höheren Notwendigkeit von zielgruppenspezifischen und innovativen psychosozialen und psychoonkologischen Versorgungskonzepten (z. B. webbasierte Angebote, Angebote für Patienten anderer Kulturkreise) und deren wissenschaftlicher Evaluation.

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Langzeitüberleben erhöht den ambulanten Versorgungsbedarf Die Nebenwirkungen verschiedener, u. a. zielgerichteter Therapien („targeted the-

Nervenarzt 2015 · [jvn]:[afp]–[alp]  DOI 10.1007/s00115-014-4151-2 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 A. Mehnert · T.J. Hartung

Psychoonkologische Versorgungsforschung Zusammenfassung Vor dem Hintergrund der steigenden Krebsinzidenz und einer gleichzeitig verbesserten Diagnostik und onkologischen Behandlung steigt die Anzahl an Krebspatienten in den Industrienationen weltweit an. Multimodale Behandlungsschemata, die zu einem tumorfreien Überleben oder zur Verlängerung der Lebenszeit beitragen, können allein oder in Kombination das Risiko für körperliche und psychosoziale Folgeprobleme oder Spätkomplikationen erhöhen. Für viele Patienten nimmt die Krebserkrankung einen chronischen Verlauf und ist mit teilweise erheblichen körperlichen und psychosozialen Belastungen verbunden, die auch in mittel- und längerfristiger Perspektive die Lebensqualität der Betroffenen beeinträchtigen. Zu häufigen Problemen von Krebspatienten im längerfristigen Krankheitsverlauf zählen chronische Schmerzen, krebsspezifische Fatigue, psychosoziale Belastungen sowie Einschränkungen der Selbstständigkeit, der Teilhabe an Arbeit

und der Lebensqualität. Diese Entwicklungen sowohl in der kurativen wie palliativen onkologischen Versorgung haben verschiedene Implikationen für die psychoonkologische Versorgungsforschung. Diese betreffen Fragen des Versorgungsbedarfs und der Bedarfsgerechtigkeit, Fragen der Entwicklung, Implementierung und wissenschaftlichen Evaluation von patientenzentrierten und finanzierbaren Versorgungskonzepten für unterschiedliche Gruppen von Krebspatienten mit unterschiedlichen Unterstützungsbedürfnissen, Fragen des Zugangs und der Inanspruchnahme von Versorgungsangeboten sowie Fragen nach geeigneten Ergebniskriterien der Versorgungsforschung. Schlüsselwörter Psychoonkologie · Versorgungsforschung · Psychosoziale Unterstützungsbedürfnisse · Versorgungskonzepte · Krebs

Health services research in psycho-oncology Summary Given the increasing incidence of cancer and improved diagnostics and cancer treatments, the number of cancer patients in industrialized nations is increasing worldwide. Multimodal treatment regimens, which contribute to a tumor-free survival or extend patients life expectancy can, however, alone or in combination increase the risk of physical and psychosocial long-term problems or late complications. For many patients cancer has become a chronic disease and is associated with significant physical and psychosocial problems that affect the quality of life in the medium and longer-term perspective. Common problems of cancer patients in the longer course of the disease include chronic and post-cancer pain, cancer-specific fatigue, psychosocial distress and impairment in selfmanagement and activities of daily living, work participation and quality of life. Cur-

rapies“) haben sich verändert und führen zu unterschiedlichen Beeinträchtigungen im Alltag und im Berufsleben der Patienten. Aber auch die Untersuchung der Versorgungssituation von Patienten mit unterschiedlichen Therapieoptionen bzw. aktiver Überwachung („active surveillance“) im klinischen Alltag stellt eine Auf-

rent developments with respect to both curative and palliative oncological care have various implications for health services research in psycho-oncology. These questions relate to issues of care needs, service provision and the appropriateness of care, issues of development, implementation and scientific evaluation of patient-centered and affordable support programs for different groups of cancer patients with different supportive care needs, issues of access and utilization of supportive care services, as well as questions of appropriate outcome criteria of health services research. Keywords Psycho-oncology · Health services research · Psychosocial care needs · Healthcare concepts · Cancer

gabe der psychoonkologischen Versorgungsforschung dar [13]. Vor dem Hintergrund der Stärkung der Patientenorientierung sind darüber hinaus die Umsetzung einer patientenzentrierten Kommunikation, der partizipativen Entscheidungsfindung und die Stärkung der Patientenkompetenz vor dem Hintergrund verschiedeDer Nervenarzt 2015 

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Leitthema ner Versorgungsstrukturen von Bedeutung [3]. Eine weitere Herausforderung der Versorgungsforschung in der Psychoonkologie liegt in der Konzeption und Evaluation von Screening- und Versorgungskonzepten für Krebspatienten, die einen zeitnahen und niedrigschwelligen Zugang zu psychosozialen und psychoonkologischen Versorgungsangeboten erleichtern sollen. Solche Versorgungskonzepte können auf unterschiedliche Patientengruppen z. B. mit kurativer oder palliativer Behandlungsintention ausgerichtet sein. Die Effektivität von Screening-Tools wurde in den letzten Jahren lebhaft diskutiert. In der S3-Leitlinie werden Instrumente wie das Distress-Thermometer (DT), das Depressionsmodul des Gesundheitsfragebogens für Patienten (PHQ-9) und die Hospital Anxiety and Depression Scale (HADS-D) empfohlen [26]. Doch selbst wenn solche Instrumente einen Bedarf effektiv und günstig identifizieren können, ist dadurch noch keine zeitnahe Versorgung sichergestellt. So hat ein flächendeckendes Screening oft keinen Einfluss auf die Inanspruchnahme psychologischer Hilfe oder die Kommunikation von Patient und Behandlern [6]. Nur wenn das Screening mit einem persönlichen Gespräch und Vermittlungsangebot kombiniert wird, erhöht sich auch die Inanspruchnahme von Hilfeleistungen [8]. Darüber hinaus werden durch ein Screening die Folgekosten nicht unbedingt gesenkt [14]. Aufgrund der mangelnden Evidenz für den Nutzen flächendeckender Screenings, raten manche Autoren von einer Implementierung ab [20]. Eine Metaanalyse von Mitchell kommt jedoch zu dem Schluss, dass der entscheidende Engpass in der konsequenten Versorgung nach dem Screening besteht [22]. Nur wenn positiv gescreente Patienten persönliche Betreuung, bzw. eine angemessene Überweisung erhalten, vermindert ein flächendeckendes Screening den Leidensdruck der Patienten.

Psychoonkologische Versorgungskonzepte Wie kann es gelingen, eine Versorgung in der Medizin zu etablieren, die trotz knapper Ressourcen und Zeitdruck zentra-

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le körperliche wie psychosoziale Bedürfnisse von Patienten im Sinne der Patientenorientierung erfüllt? Versorgungsmodelle für Krebspatienten umfassen verschiedene Ansätze, um die kurz-, mittelund langfristigen körperlichen und psychosozialen Bedürfnisse von Patienten zu adressieren. Im angloamerikanischen Raum wird häufig auch von „survivorship care“ und „survivorship care plans“ gesprochen, wobei sich Versorgungsmodelle nicht nur auf Patienten mit kurativer Therapiestrategie beziehen, sondern auch für Patienten in palliativer Behandlungssituation konzipiert sein können. Solche Versorgungsmodelle umfassen nicht nur die onkologische Nachsorge, sondern sie sollen auch die Versorgung und Prävention der körperlichen wie psychosozialen Langzeit- und Spätfolgen der Erkrankung sicherstellen sowie Patienten helfen, einen gesünderen Lebensstil im Alltag umzusetzen. Der 2005 vom Institute of Medicine (IOM) herausgegebene Bericht „From Cancer Patient to Cancer Survivor: Lost in Transition“ [15] umfasst vier Komponenten der Nachsorge: F Prävention und Diagnose von neuen und wiederauftretenden Krebserkrankungen, F Überwachung bezüglich neuer und wiederkehrender Krebserkrankungen, F Interventionen für Langzeit- und Spätfolgen der Erkrankung und Behandlung und F Koordination der Versorgung zur Sicherstellung der Bedürfnisse der Patienten. Im Einzelnen beinhalten solche Versorgungsmodelle für Krebspatienten die Überwachung bezüglich neuer und wiederkehrender Krebserkrankungen, die Versorgung der psychosozialen und medizinischen Folgen der Erkrankung, die Bereitstellung von Früherkennungsempfehlungen für Zweittumoren, Gesundheitsaufklärung und Psychoedukation bezüglich Diagnose, Behandlungsrisiken sowie Langzeit- und Spätfolgen der Erkrankung und Behandlung, Beratung zu Ernährung, Bewegung und Gesundheitsförderung sowie zu sozialen und finanziellen Fragen, die Überweisung an Spezialisten bei Indi-

kationsstellung, familiäre genetische Risikoberatung sowie die Stärkung der Patientenkompetenz [2].

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Patientenbedürfnisse und zur Verfügung stehende Ressourcen sind zu berücksichtigen Die Konzeption und Implementierung psychoonkologischer Versorgungsmodelle im Sinne von „Best-practice-Modellen“ sollte sich an den Bedürfnissen der jeweiligen Patientenpopulation einerseits und den zur Verfügung stehenden Ressourcen andererseits orientieren. Die ASCO publizierte einen Überblick über verschiedene Versorgungskonzepte und „survivorship care plans“ [2], die zwar nur bedingt auf das Gesundheitssystem in Deutschland übertragbar sind, aber die grundsätzliche Vielfalt an möglichen Versorgungskonzepten für Krebspatienten aufzeigen. 1. Weiterführung der Versorgung/Nachsorge durch das onkologische Behandlungsteam („oncology specialist care“). 2. Weiterführung der Versorgung außerhalb der üblichen onkologischen Nachsorge durch ein interdisziplinäres Team, das auf krebs- und behandlungsbedingte Spät- und Langzeiteffekte spezialisiert ist („multidisciplinary survivorship clinic“). 3. Art und Intensität der Nachsorge wird in Abhängigkeit von den erhaltenen Krebstherapien durch ein Team durchgeführt, dass auf spezifische krebs- und therapiebedingte Probleme spezialisiert ist („disease/treatment specific survivor clinic“). 4. Weiterführung der Versorgung durch einen Arzt oder einen anderen spezialisierten Anbieter der Gesundheitsversorgung innerhalb eines CancerCenters, eines Krankenhauses oder einer Praxis („general survivorship clinic“). 5. Die weiterführende Versorgung und Nachsorge erfolgt durch das onkologische Behandlungsteam in Abstimmung mit der primär-/hausärztlichen Versorgung („consultative survivorship clinic“). 6. Die weiterführende Versorgung und Nachsorge erfolgt innerhalb der on-

kologischen Versorgung eines Cancer-Centers, Krankenhauses oder einer Praxis durch einen Arzt oder einen anderen spezialisierten Anbieter der Gesundheitsversorgung in Abstimmung mit der primär-/hausärztlichen Versorgung („integrated survivorship clinic“). 7. Die weiterführende Versorgung und Nachsorge erfolgt durch die primär-/ hausärztliche Versorgung („community generalist model“), 8. Die weiterführende Versorgung und Nachsorge erfolgt durch eine beliebige Kombination aus spezialisierten Fachdisziplinen, primär-/hausärztlicher Versorgung und Pflege („shared-care of survivor“). Die Implementierung eines „survivorship care plan“ erfordert für die konkrete Ausgestaltung verschiedene Überlegungen. Diese betreffen u. a. Fragen, wer das Programm federführend koordiniert, welche Dienste angeboten werden können und sollen (u. a. medizinische Nachsorge, psychosoziale Beratung und Unterstützung, Informationsangebote, rehabilitative Angebote, Ernährungsberatung, Forschungsinitiativen, palliative Versorgung und Symptommanagement) und welche Finanzierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. Welche strukturellen Voraussetzungen sind gegeben (u. a. elektronische Patientenakte) und wie können diese für die Versorgungskoordination und Kommunikation mit den Patienten und anderen Gesundheitsdienstleistern genutzt werden? Welche Fort- und Weiterbildungserfordernisse sind bei den entsprechenden Anbietern notwendig und wie soll das Versorgungsteam zusammengesetzt sein? Welche Unterstützungsangebote sind bereits vorhanden und können untereinander koordiniert und/oder erweitert werden? Wie kann die Selbsthilfe einbezogen werden? Welche Patientengruppen sollen versorgt werden und welche spezifischen Versorgungsbedürfnisse sind bei den Patientengruppen relevant?

Fazit für die Praxis Betrachtet man die Anforderungen an die Versorgung bei unterschiedlichen Gruppen von Krebspatienten und ihre

Umsetzungsmöglichkeiten im Hinblick auf Modelle für Langzeitüberlebende, aber auch im Hinblick auf Modelle für Patienten in palliativer Behandlungssituation und einer begrenzten Lebenserwartung, werden zentrale Herausforderungen für die psychoonkologische Versorgungsforschung deutlich: F Patientenzentrierte, wirksame und gleichzeitig finanzierbare Versorgungskonzepte müssen vor dem Hintergrund verschiedener struktureller und organisatorischer Voraussetzungen des Gesundheitssystems für unterschiedliche Gruppen von Krebspatienten mit unterschiedlichen Versorgungsbedürfnissen entwickelt und wissenschaftlich überprüft werden. F Für die Überprüfung der Wirksamkeit der Versorgungskonzepte müssen relevante Ergebniskriterien festgelegt werden.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. A. Mehnert Sektion Psychosoziale Onkologie, Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Universitätsklinikum Leipzig Philipp-Rosenthal-Str. 55, 04103 Leipzig [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  A. Mehnert und T. J. Hartung geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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[Health services research in psycho-oncology].

Given the increasing incidence of cancer and improved diagnostics and cancer treatments, the number of cancer patients in industrialized nations is in...
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