Leitthema Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:169–173 DOI 10.1007/s00103-013-1894-z Online publiziert: 23. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

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Hintergrund

achtung modifizieren bzw. stören können, sondern mitunter auch Ausgangshypothesen ins Leere laufen lassen. Die gesetzliche Einführung der Disease-Management-Programme im Jahr 2003 verdeutlicht exemplarisch diesen Konflikt. Die staatlichen DMPs verursachten gleich 2 negative Effekte: Auf lokaler Ebene bereits begonnene und dabei durch hohes Engagement gekennzeichnete Initiativen gerieten in Bedrängnis, etwa die regionalen Sächsischen Diabetesvereinbarungen [2] durch das bundesweite DMP Diabetes. Und die gleichzeitige und flächendeckende Einführung in ganz Deutschland schlug Versorgungsforschern in spe schon den Ansatz aus der Hand, durch regionale und/oder zeitliche Abgrenzung Kontrollbedingungen herzustellen, die eine aussagefähige Evaluation der Programme ermöglicht hätten. Die Evaluationen der DMPs zeichnen sich dementsprechend vor allem dadurch aus, dass sie regelmäßig Anlass zu konträren Interpretationen der Wirksamkeit bieten [3]. Wegbereitend für die DMPs, aber auch für eine systematische Auseinandersetzung mit Versorgungsforschung, war ohne Zweifel das Gutachten des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen von 2000/2001, das unter den Schlagworten von Über-, Unter- und Fehlversorgung ausführlich und dabei kritisch zur Versorgung chronisch Kranker in Deutschland Stellung genommen hatte [4]. Das Gutachten war von der Politik mit Verve aufgegriffen worden – nicht nur zur Reformierung

„Further research is needed.“ Mit dieser Botschaft entlässt so mancher wissenschaftliche Zeitschriftenaufsatz seine Leser aus der Lektüre und deutet an, dass man noch öfter vom soeben Besprochenen hören werde, da keineswegs schon alle Fragen geklärt seien. Dies wird in der Wissenschaft auch selten erwartet. Im Falle der Versorgungsforschung ist jedoch eine solche Ankündigung allein schon deshalb nicht ohne Berechtigung, da das untersuchte Sujet, die Versorgung von Einzelnen und der Bevölkerung mit gesundheitsrelevanten Produkten und Dienstleistungen unter Alltagsbedingungen [1], alles andere als statisch ist. Die Abfolge von Gesundheitsreformen in Deutschland ist durch immer kürzere Zeiträume gekennzeichnet, sodass es insbesondere bei längeren Beobachtungszeiten schwierig sein kann, Forschungsergebnisse auch nutzbringend in das System zurückfließen zu lassen. Nicht selten werden Zusammenhänge untersucht, in denen Veränderungen des Morbiditätsspektrums in einer Population oder Überlebensraten von Patienten wesentliche Ergebnisparameter darstellen. Wenn es sich bei dem betrachteten Versorgungsthema nicht gerade um akut infektiöse oder akzidentielle Geschehnisse handelt, sind lange Beobachtungszeiten erforderlich, um zu seriösen Aussagen zu gelangen – in der Gesundheitspolitik sind hingegen eher kurzlebige Entscheidungen zu beobachten, die nicht nur die Einflussgrößen auf eine laufende Beob-

Dezernat 3 - Qualitätsmanagement, Qualitätssicherung und Patientensicherheit, Bundesärztekammer, Berlin

Versorgungsforschung aus Sicht der Bundesärztekammer unter Berücksichtigung kleinräumiger Analysen

der Versorgungsformen chronisch kranker GKV-Versicherter, sondern darüber hinaus auch zu einer bis heute anhaltenden Demontage des Selbstverständnisses der Ärzteschaft, für die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung Kraft ihrer berufsimmanenten Professionalität die primäre Zuständigkeit beanspruchen zu können. Auch die pointierte Zuspitzung, wonach die deutschen GKV-Versicherten Mercedes zahlten, aber nur Golf fahren würden – zuletzt an exponierter Stelle zitiert in einem jüngeren Gutachten des Sachverständigenrats von 2012 [5] –, sorgt noch nach Jahren zuverlässig für den Einstieg in kontroverse Diskussionen. Ausgehend von der Vorstellung, solchen Diskurs durch eine möglichst breite und dabei zuverlässige Datenbasis zu versachlichen, bereitete die deutsche Ärzteschaft der Implementierung einer Initiative der Bundesärztekammer zur Förderung der Versorgungsforschung den Weg. Im Folgenden sollen zunächst die Meilensteine und bisherigen Ergebnisse dieser Initiative skizziert werden, um anschließend einige besondere Aspekte der Versorgungsforschung, darunter der kleinräumigen Analysen, aufzugreifen.

Förderung der Versorgungsforschung durch die deutsche Ärzteschaft Vor dem Hintergrund anhaltend zweifelhafter Darstellungen ärztlicher Berufsausübung, der demografischen Entwicklung, des medizinischen Fortschritts, der notorisch angespannten wirtschaftlichen

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Leitthema Übersicht 1  Report Versorgungsforschung: Verfügbare und geplante Bände Bd. 1: Monitoring gesundheitlicher Versorgung in Deutschland: Konzepte, ­Anforderungen, Datenquellen Bd. 2: Arbeitsbedingungen und Befinden von Ärztinnen und Ärzten: Befunde und Interventionen Bd. 3: Die Versorgung psychisch kranker alter Menschen: Bestandsaufnahme und Herausforderung für die Versorgungsforschung Bd. 4: Telemedizinische Methoden in der ­Patientenversorgung: Anwendungsspektrum, Chancen, Risiken Bd. 5: Transition – Spezielle Anforderungen an die medizinische Betreuung von Kindern und Jugendlichen beim Übergang zum ­Erwachsenenalter Bd. 6: Perspektiven junger Ärztinnen und Ärzte in der Patientenversorgung: Eine Herausforderung für die gesamte Ärzteschaft Bd. 7: Evidenz und Versorgung in der Palliativmedizin Bd. 8: Ergebnisverbesserung durch Qualitätsmanagement

Lage des Gesundheitswesens und den daraus resultierenden, fortlaufenden strukturellen Änderungen durch die Politik, die wiederum nicht ohne Folgen für die Bedingungen der medizinischen Versorgung und die Arbeitsweise und -zufriedenheit von Ärztinnen und Ärzten bleiben, forderte zunächst der Außerordentliche Deutsche Ärztetag 2003 eine solide Beschreibung der Versorgungsstandards im deutschen Gesundheitswesen. Wenig später stellte der 107. Deutsche Ärztetag 2004 den Willen der Ärzteschaft heraus, sich am Aufbau einer wissenschaftlichen Versorgungsforschung in Deutschland zu beteiligen. Im Jahr 2005 schließlich beschloss der 108. Deutsche Ärztetag den Aufbau einer wissenschaftlichen Versorgungsforschung aus Beitragsmitteln der Ärzte im Rahmen einer Förderinitiative der Bundesärztekammer. Für den Zeitraum von 6 Jahren wurden dabei zunächst Fördermittel in Höhe von insgesamt 4,5 Mio. EUR zur Verfügung gestellt [6]. Inhaltliche Grundlage der Förderinitiative ist ein Rahmenkonzept [7], das von dem beim Wissenschaftlichen Beirat der Bundesärztekammer angesiedel-

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ten Arbeitskreis „Versorgungsforschung“ erarbeitet wurde. Im Rahmenkonzept wurde nicht nur auf die Notwendigkeit der Schaffung wissenschaftlicher Grundlagen für Analysen der medizinischen Versorgungslage und daraus resultierender Steuerungsmaßnahmen der Gesundheitspolitik verwiesen, sondern es wurden auch gleich mehrere konkrete Handlungsfelder für eine erste Konkretisierung des Förderprojektes festgelegt: F Implementierung von Leitlinien in den ärztlichen Alltag, F Einfluss der Ökonomisierung der stationären und ambulanten ärztlichen Leistung auf die Patientenversorgung und die Freiheit der ärztlichen Tätigkeit, F Physician factor. Das Rahmenkonzept wird flankiert von einer Definition und Abgrenzung der Versorgungsforschung [1], in der auch zum Ausdruck kommt, dass der Gegenstand von Versorgungsforschung die „letzte Meile“ des Gesundheitssystems ist, sie sich also durch ihre besondere Nähe zur klinisch praktischen Patientenversorgung auszeichnet. Insofern ist das Attribut der „Kleinräumigkeit“ bereits mit dem kennzeichnenden Wesen der Versorgungsforschung verknüpft. Trotz dieser besonderen Nähe handelt es sich bei der Versorgungsforschung ausdrücklich nicht um eine auf die Mikroebene beschränkte Variante von Gesundheitssystemforschung, d. h. um eine Betrachtung der Geschehnisse vorrangig auf Ebene von Arztpraxen und Krankenhäusern. Vielmehr sollen die Ergebnisse der Förderinitiative auch die gesundheitspolitischen Entscheidungsträger bis hinauf zur Makroebene adressieren. Der 113. Deutsche Ärztetag im Jahr 2010 bekräftigte die Notwendigkeit der Versorgungsforschung und sprach sich dafür aus, unter Beibehaltung der Wissenschaftlichkeit die Forschungsfragen noch enger auf ärztlich relevante Versorgungsaspekte zu fokussieren [8]. Die Bundesärztekammer erhielt den Auftrag, in diesem Sinne eine Konzeption zur Fortentwicklung der Förderinitiative zu erstellen; dabei war auch eine Anpassung des Finanzierungsrahmens vorzunehmen. Im darauf folgenden Jahr

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sprach sich der 114. Deutsche Ärztetag dafür aus, die vorgelegte Konzeption für eine Fortentwicklung der Aktivitäten zur Versorgungsforschung der Bundesärztekammer zu realisieren und sie zukünftig unter dem Titel „Initiative der Bundesärztekammer zur Versorgungsforschung“ zu verstetigen [9]. Kern des Konzepts ist die Vergabe ausgewählter Expertisenaufträge sowie die Durchführung von Symposien zu spezifischen Themen der Versorgungsforschung mit begleitender Veröffentlichung weiterer Bände des „Reports Versorgungsforschung“ (s. unten).

Ergebnisse der Förderinitiative Schon die Bilanz der ersten Förderphase fiel aus Sicht der Bundesärztekammer positiv aus [10]. Zahlreiche Projekte konnten nach Durchlaufen eines Ausschreibungsprozesses erfolgreich gefördert werden. Ihre Ergebnisse sind bzw. werden noch in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert. Alle Forschungsvorhaben und Auftragnehmer sind auf der Homepage der Bundesärztekammer (http://www.baek.de/versorgungsforschung) einsehbar. Zusätzlich wurden spezielle Themen der Versorgungsforschung unter der Bezeichnung „Report Versorgungsforschung“ veröffentlicht. Diverse Bände sind bereits erschienen oder befinden sich in Vorbereitung (Übersicht 1, [11, 12, 13, 14, 15, 16, 17]). Doch nicht nur die geförderten Projekte und die damit generierten Ergebnisse sind als Erfolg zu werten. Auch unter methodisch-wissenschaftlichen Aspekten ist ein Gewinn an Anerkennung und Differenziertheit für die Versorgungsforschung zu verzeichnen, und die Demonstration der wissenschaftlichen Kompetenz der ärztlichen Selbstverwaltung bzw. ihrer fruchtbaren Kooperation mit der Wissenschaft kann als gelungen gelten.

Kleinräumigkeit Unter dem Aspekt der kleinräumigen Versorgungsforschung, in der die regionale Variabilität der Versorgung und ihre Folgen von besonderem Interesse sind, ließe sich eine ganze Reihe von Forschungsansätzen und Expertisen nennen, die durch die Initiative der Bundesärztekammer ge-

Zusammenfassung · Abstract fördert wurden bzw. noch werden. Exemplarisch genannt sei an dieser Stelle etwa eine Expertise aus dem Robert Koch-Institut (RKI), die sich explizit der Kleinräumigkeit von Bedarfsprognosen zuwendet [18]. Im Sinne einer Machbarkeitsstudie befasst sich die Expertise mit der Methodik und den Voraussetzungen von kleinräumigen Bedarfsprognosen in Deutschland unter Berücksichtigung der Verfügbarkeit und Qualität demografischer und epidemiologischer Daten auf kleinräumiger Ebene. Im Ergebnis der Expertise wird konstatiert, dass Bedarfsplanungen für die Versorgung durchaus auch in kleinräumigem Maßstab möglich, die Anforderungen an die dazu zu benutzenden Daten allerdings hoch seien. Diese Feststellung wird unter anderem für die Länder von großem Interesse sein, die sich erwartungsgemäß eine solide Datengrundlage zur Bedarfsplanung und belastbare Aussagen zu regionalen Unterschieden wünschen. So beauftragte im Sommer 2013 die 86. Gesundheitsministerkonferenz unter dem Stichwort „Gesundheit und Demografie“ einstimmig die Arbeitsgemeinschaft der Obersten Landesgesundheitsbehörden (AOLG) mit der Erstellung eines Berichts, in dem die Auswirkungen der demografischen Entwicklung auf den Bedarf an Versorgungsleistungen, den daraus resultierenden Fachkräftebedarf sowie ableitbare Handlungsbedarfe erkennbar werden sollen [19]. Zu diesem aktuellen Auftrag passend sei auf eine weitere – und bereits vorliegende – Expertise unter Förderung durch die Bundesärztekammer hingewiesen, die sich unter Verwendung von Daten für das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern mit der Frage befasst hat, inwieweit der demografische Wandel bei einem absehbaren Anstieg altersassoziierter Erkrankungen trotz rückgängiger Einwohnerzahlen einen erhöhten medizinischen Versorgungsbedarf zur Folge haben wird und welche Rolle dabei regionale Gegebenheiten haben, in welchen Regionen des Bundeslandes also konkrete Antworten in Gestalt von passenden Versorgungsangeboten einzuplanen sind [20]. Die zentrale Erkenntnis, wonach Prognosen über die Entwicklung von Fallzahlen bei der künftigen regionalen medizini-

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Versorgungsforschung aus Sicht der Bundesärztekammer unter Berücksichtigung kleinräumiger Analysen Zusammenfassung Die deutsche Ärzteschaft hat bereits im Rahmen ihres Außerordentlichen Deutschen Ärztetags im Jahr 2003 die Notwendigkeit eingefordert, nicht nur die Forschung innerhalb der Medizin voranzutreiben, sondern die medizinische Versorgung selbst zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung zu machen. Auf Beschluss des 108. Deutschen Ärztetags 2005 wurde der Aufbau einer wissenschaftlichen Versorgungsforschung aus Beitragsmitteln der Ärzteschaft im Rahmen einer Förderinitiative der Bundesärztekammer eingeleitet. Seither konnte eine Reihe von Projekten gefördert werden, deren Erkenntnisse fortlaufend publiziert werden. Aus Sicht der Bundesärztekammer belegen die Erfolge der Initiative zur Förderung der Versorgungsforschung auch eine gelungene Annäherung von Wissenschaft und ärztlicher

Selbstverwaltung. Auch wenn die laufenden Ergebnisse aus der Versorgungsforschung gesundheitspolitische Entscheidungen bis hinauf zur Makroebene unterstützen sollen, ist die Kleinräumigkeit ihrer Analysen ein nahezu intrinsisches Merkmal, da der Ansatzpunkt für Gestaltungen bevorzugt die regionale Ebene ist, um tatsächlich Wirkung entfalten zu können. Ohne regionale Bezüge und ohne eine Datengrundlage, die regionale Zuordnungen zulässt, wird sich die „letzte Meile“ des Gesundheitssystems, die Gegenstand von Versorgungsforschung ist, kaum sinnvoll erschließen lassen. Schlüsselwörter Versorgungsforschung · Förderinitiative · Bundesärztekammer · Kleinräumig ·   Gesundheitswesen

Health-care research from the German Medical Association’s perspective on small-area analysis Abstract As early as 2003, the German medical profession realized the necessity of not only forwarding medical research, but also analyzing the process of health care itself. Approved by a decision of the 108th German Medical Assembly in 2005, an initiative on health-care research paid by contributions of the medical profession was launched. Since then several projects have been supported with the results being published continuously. From the perspective of the German Medical Association, the success of the initiative also proves the effective approach of the scientific and medical communities’ self-administration. Although the current results from health-care

schen Bedarfsplanung mitberücksichtigt werden sollten und gleichzeitig innovative Konzepte zur Sicherstellung der medizinischen Versorgung entwickelt, implementiert und bevölkerungsbezogen evaluiert werden müssen, reicht dabei zweifellos über die Landesgrenzen von Mecklenburg-Vorpommern hinaus. Derartige Betrachtungen auf Ebene einzelner Bundesstaaten stehen in einer langen Tradition und verweisen etwa auf Untersuchungen in den USA aus den 1970er-Jahren. Dort brachen Wenn-

research can be used to support health-care politics and decision making at a macro level, a focus on small-area analysis tends to be an intrinsic attribute of health-care research, keeping a local approach toward changes so as to obtain real effects. Without local settings and without data reflecting the local situation, the“last mile” of a health-care system, which is the core subject of health-care research, will not be comprehensible. Keywords Health care research · Support initiative ·   German Medical Association · Small area · Health care system

berg und Gittelsohn [21, 22] in einigen Neuenglandstaaten die Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen auf Subregionen herunter und stießen dabei auf bemerkenswerte Unterschiede, die nicht ohne Weiteres durch den Bedarf – resultierend aus der mutmaßlich vorliegenden Morbidität der Bevölkerung in der jeweiligen Region – zu erklären waren. Die Aktualität dieser mittlerweile über 4 Jahrzehnte zurückliegenden Untersuchungen ist bemerkenswert, denn als Paradebeispiel epidemiologisch nicht erklärbarer

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Leitthema Variabilität von Behandlungshäufigkeiten im Bundesstaat Vermont führten die Autoren damals Tonsillektomien an, eine Indikation, die zuletzt im Sommer 2013 nach Auswertungen von Daten des Statistischen Bundesamtes durch die Bertelsmann Stiftung auch für deutsche Verhältnisse per medienwirksamer Pressemitteilung ins Blickfeld geriet [23, 24]. Zwar hat sich die Spanne der regionalen Variabilität vermindert – in Vermont 1970 von 13 bis 151 Eingriffen pro 10.000 Kindern, in Deutschland 2013 von 14 bis 109 Eingriffen, das Phänomen als solches ist aber erhalten geblieben und mit ihm vor allem die Frage der tatsächlichen Morbidität einer Population und damit nach dem Bedarf an Versorgungskapazitäten. Antworten werden zu einem großen Teil von der Verfügbarkeit entsprechender Daten abhängen. Dabei stellen Daten zur Leistungsinanspruchnahme, in Deutschland ohnehin geprägt durch ausgeprägte Hürden einer sektoral getrennten Versorgung und einem hohen Schutzbedürfnis für personenbezogene Informationen, noch keine ausreichende Perspektive dar. Bei der Datenproblematik sind Ansätze zur Verbesserung der Situation zu erkennen, nicht gelöst ist damit jedoch die Umsetzung der Erkenntnisse in verantwortungsvolles Handeln, erkennbar etwa am Dauerzustand der Krankenhausplanung, wo kommunale (Eigen-)Interessen häufig noch immer schwerer wiegen als ein wenigstens halbwegs objektivierter Bedarf an medizinischen Versorgungsleistungen. Auch die erst jüngst unter der Regie der Gemeinsamen Bundesausschusses reformierte Bedarfsplanung für die vertragsärztliche Versorgung beschäftigt sich, wenn auch ausgesprochen differenziert, eher mit dem Blickwinkel des Leistungsangebots, dies zudem nur lose gekoppelt an die Planungen des stationären Sektors.

Verfügbarkeit von Daten Von fundamentaler Bedeutung für Bedarfsplanungen, insbesondere bei gewünschter kleinräumiger Auflösung, werden die Verfügbarkeit und Qualität der erforderlichen Daten sein. Diese Fragestellung adressieren 2 weitere Expertisen aus der Förderinitiative der Bundes-

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ärztekammer, die sich der Notwendigkeit des Datenzugangs zu krankheitsbezogenen Versichertendaten und der Datentransparenz speziell für ärztliche Körperschaften zugewandt haben [25, 26]. Darin werden Datentransparenz und, damit verbunden, ein geregelter Datenzugang als wesentliche Voraussetzungen erkannt, um erfolgreich an der gesundheitlichen Sicherung und der Gestaltung der Krankenversorgung auf Systemebene und damit der Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung mitwirken zu können. Eine gründliche Kenntnis der Morbiditätsentwicklung, des Status quo und der zeitlichen Trends der Versorgung seien für die strategische Mitwirkung der Ärzteschaft sowie auch anderer Akteure essenziell. Auf dem Weg zu dieser Leistungstransparenz sollten deshalb die vorhandenen Routinedaten für alle Akteure mit Gestaltungsverantwortung im Gesundheitswesen verfügbar sein. Die Autorinnen und Autoren der Expertisen nehmen dabei auch kritisch Bezug auf die potenziellen Möglichkeiten, die die gesetzliche Regelung in § 303a–e SGB V eröffnet. Zwar ist die im Zuge des Gesetzes zur Verbesserung der Versorgungsstrukturen in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-VStG) erfolgte Konkretisierung bzw. Reanimierung des zuvor lange Zeit brachliegenden Paragraphenkomplexes auch aus Sicht der Bundesärztekammer unbestreitbar ein Fortschritt. Inwiefern die Daten aus dem morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich ausreichende Antworten insbesondere auch auf regionale Fragestellungen der Versorgungsplanung geben werden, muss aber zurückhaltend beurteilt werden [27]. Auch Vertreter der Länder sehen die Notwendigkeit, die Daten aus dem MorbiRSA zu ergänzen [28], etwa durch gesonderte epidemiologische Erhebungen oder durch Surveys, wie sie auch in der bereits erwähnten Expertise des RKI beschrieben werden [18].

Physician factor Mit mindestens ebenso viel Aufmerksamkeit wie die Verfügbarkeit verlässlicher Datenquellen betrachtet die Bundesärztekammer die Verfügbarkeit und den Zustand der Akteure, die das Ver-

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sorgungsgeschehen wesentlich bestimmen, nämlich die Ärztinnen und Ärzte in Deutschland. Dabei geht es um die Wechselwirkung zwischen arztseitigen Faktoren und der Versorgungsrealität. Unter dem Stichwort „physician factor“ wurden bereits in der ersten Förderphase der Bundesärztekammer die Arbeitsbedingungen und das Befinden von Ärztinnen und Ärzten zum Schwerpunktthema der Forschungsansätze erklärt, also noch bevor das Phänomen der „Generation Y“ in aller Munde war. Vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass der demografische Wandel auch an der deutschen Ärzteschaft nicht spurlos vorübergeht, ist im Rahmen der Initiative zur Versorgungsforschung die besondere Problematik des ärztlichen Nachwuchses in einem Symposium zu den Perspektiven junger Ärztinnen und Ärzte in der Patientenversorgung öffentlich diskutiert worden. Die Ergebnisse dieses Gedankenaustauschs, der im September 2011 in Berlin in der Charité stattfand, sind im sechsten Band der Reihe „Report Versorgungsforschung“ erschienen [16].

Ausblick Für eine der zentralen Fragen in der aktuellen Diskussion um die zunehmend kritischer werdende ärztliche Versorgung der Bevölkerung in ländlichen Regionen liefern die im Rahmen der Förderinitiative der Bundesärztekammer gesammelten Betrachtungen und Analysen sicherlich kein Patentrezept, aber doch umfangreiches Material und damit Anregungen für künftige Strategien. Es liegt dabei in der Natur der Sache, dass kleinräumige Betrachtungen eher zu verwertbaren Erkenntnissen für die Versorgung führen werden, da sich einerseits die Aussagekraft der Daten anhand der erlebten lokalen Realität besser abschätzen lässt, andererseits der Handlungsdruck für die als verantwortlich identifizierbaren Akteure vor Ort, mit den Erkenntnissen auch etwas anzufangen, höher sein dürfte. Solange diese Verantwortlichkeiten allerdings weiterhin der systeminternen Logik sektoral getrennter Versorgungszuständigkeiten folgen, und auch wenn die gestalterische Kraft zur Weiterentwicklung des

Gesundheitswesens vor allem einem freien Walten der Mechanismen eines Güter- und Warenmarktes zugebilligt wird, werden auch noch so treffsichere Versorgungsanalysen nur selten spürbare (und dabei spürbar positive) Effekte für die Bevölkerung zeitigen. Gleichwohl bedarf es der Versorgungsforschung, denn die Grundlage rationalen Handelns muss in möglichst genauen Kenntnissen der Ist-Situation bzw. ihrer Projektionen in die Zukunft liegen. Je engmaschiger dieses Netz aus Daten gestaltet werden kann, desto verbindlicher werden sich darin die notwendigen Handlungsaufträge an die Akteure des Gesundheitswesens erkennen lassen.

Korrespondenzadresse Dr. U. Zorn Dezernat 3 - Qualitätsmanagement,   Qualitätssicherung und Patientensicherheit, Bundesärztekammer Herbert-Lewin-Platz 1, 10623 Berlin [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  U. Zorn ist Mitarbeiter der ­Bundesärztekammer. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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[Health-care research from the German Medical Association's perspective on small-area analysis].

As early as 2003, the German medical profession realized the necessity of not only forwarding medical research, but also analyzing the process of heal...
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