Leitthema Ophthalmologe 2014 · 111:1157–1163 DOI 10.1007/s00347-014-3059-3 Online publiziert: 6. Dezember 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

C. Neuhaus · C. Betz · C. Bergmann · H.J. Bolz Bioscientia Zentrum für Humangenetik, Ingelheim

Genetik der kongenitalen Aniridie In diesem Beitrag werden insbesondere die durch PAX6-Mutationen verursachten Erkrankungen betrachtet, da sie die Hauptursache der genetisch bedingten Aniridien darstellen. Man unterscheidet isolierte (nichtsyndromale) und syndromale Aniridie. Die isolierte Aniridie (MIM 106210; [7, 10, 15]) ist trotz ihrer Bezeichnung eine panokuläre Erkrankung, bei der alle Gewebe des Auges betroffen sind. Neben einer Hypo- oder Aplasie der Iris besteht fast immer eine foveale Hypoplasie mit reduzierter Sehschärfe und Nystagmus. Häufige Komplikationen sind Keratopathie, Katarakt und Glaukom. Die klinische Ausprägung kann auch intrafamiliär stark variieren; dies ist jedoch weniger hinsichtlich der beiden Augen eines betroffenen Individuums der Fall. Zunehmend wird deutlich, dass extraokuläre Symptome nicht selten sind – hier sind vor allem Störungen des Riechvermögens und die zentrale auditorische Verarbeitung zu nennen. Magnetresonanztomographie (MRT)-Untersuchungen zeigen gehäuft zerebrale morphologische Auffälligkeiten, die jedoch normalerweise nicht mit kognitiven Funktionseinschränkungen einhergehen [1, 12]. Die Prävalenz beträgt 1:40.000–1:100.000. Patienten mit WAGR-Syndrom (Wilms-Tumor, Aniridie, Anomalien des Urogenitalsystems und geistige Retardierung; MIM 194072; [7, 10, 15]) haben ein Risiko von 50%, an einem bösartigen Nierentumor (Wilms-Tumor) zu erkranken. Die Aniridie ist ausgeprägt und fehlt nur sehr selten. Etwa 60% der männlichen Betroffenen weisen einen Kryptorchismus auf. Darüber hinaus können in-

nere und äußere urogenitale Fehlbildungen, aber auch Gonadoblastome vorliegen. Die meisten Patienten zeigen Verhaltensauffälligkeiten und mentale Retardierung. Etwa ein Drittel der Patienten manifestiert neurologische Symptome und zuweilen neuromorphologische Auffälligkeiten (Hyper- oder Hypotonie, Epilepsie, Hirnfehlbildungen, Mikrozephalie). Das WAGR-Syndrom ist mit einer Prävalenz von 1:500.000 deutlich seltener als die isolierte Aniridie.

PAX6-Gen und PAX6-Protein Im Jahr 1991 wurde durch positionelle Klonierung eine große, die Gene PAX6 („paired box gene 6“) und WT1 (WilmsTumor, Typ 1) einschließende Deletion auf dem kurzen Arm von Chromosom 11 (11p13) als Krankheitsursache bei sporadischen Patienten mit Aniridie und Wilms-Tumoren identifiziert [14]. Kurz darauf wurden dann auch PAX6Punktmutationen bei Patienten mit nicht-syndromaler Aniridie beschrieben ([8], . Abb. 1a). Die 14 Exons von PAX6 (MIM 607108) erstrecken sich über 22 Kilobasen; die Exons 4–13 sind proteinkodierend (. Abb. 1b). PAX6 kodiert für einen Transkriptionsfaktor (Protein, das die Ablesung bestimmter Gene reguliert) von 422 bzw. 436 (bei Inklusion des alternativ gespleißten Exons 5a) Aminosäuren. Es ist das humane Ortholog des eyeless-Gens der Fruchtfliege und essenziell für die embryonale Augenentwicklung. Dies wird eindrucksvoll illustriert durch die Ausbildung von Augen an Flügeln, Beinen und Fühlern der Fliege, wenn eyeless experimentell ektop exprimiert wird [6].

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PAX6 kodiert für einen Transkriptionsfaktor, dem eine zentrale Rolle bei der Embryonalentwicklung des Auges zukommt Darüber hinaus ist PAX6 auch in verschiedenen Hirnregionen exprimiert und reguliert hier die Ausbildung zahlreicher Strukturen. Das Protein besteht aus 2 hochkonservierten DNA-Bindungsdomänen („paired domain“, „homeobox domain“) und einer Prolin-Serin-Threonin (PST)-reichen Transaktivatordomäne (. Abb. 1c). Durch PAX6 regulierte Zielgene kodieren für andere entwicklungsregulatorische (z. B. SOX2) sowie Zelladhäsions- und Strukturproteine (Krystalline der Linse, korneale Keratine). Auch PAX6 selbst ist ein solches Zielgen.

Autosomal-dominanter Erbgang Sowohl der isolierten Aniridie als auch dem WAGR-Syndrom liegen Mutationen des PAX6-Gens zugrunde, die einem autosomal-dominanten Erbgang folgen: Eine heterozygote (eine der beiden Genkopien betreffende) Mutation reicht aus, um die Erkrankung hervorzurufen. Für Nachkommen Betroffener besteht ein Risiko von 50%, die Mutation zu erben und ebenfalls zu erkranken (man geht bei PAX6-Mutationen von einer 100%igen Penetranz aus, d. h., alle Mutationsträger erkranken). Dementsprechend haben etwa 70% Patienten mit isolierter Aniridie Der in der Humangenetik üblichen Nomenklatur folgend, werden Gennamen (PAX6) kursiv geschrieben. Wo das Protein gemeint ist, gilt dies nicht (PAX6). Der Ophthalmologe 12 · 2014 

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Abb. 1 9 Struktur und Position des PAX6-Gens. a Chromosom 11 mit der Region 11p13, die die Gene PAX6, RCN1 und WT1 enthält. b Genomische Struktur von PAX6 (Isoform NM_000280.4) mit kodierenden (Exons; senkrechte Linien) und dazwischen liegenden nicht-kodierenden Abschnitten (Introns). c PAX6-Protein. (Mod. nach Dansault et al. [3])

Genotyp-PhänotypKorrelationen

Abb. 2 9 Autosomaldominanter Erbgang.   a Typischer Stammbaum bei nicht-syndromaler Aniridie mit familiärem ­Auftreten. Heterozygote Träger einer ­PAX6-Mutation erkranken und vererben diese mit einer Wahrscheinlichkeit von jeweils 50% an ihre Nachkommen. b Simplex-Fall durch eine Neumutation in einer elterlichen Keimzelle

einen betroffenen Elternteil oder eine darüber hinausgehende positive Familienanamnese (. Abb. 2a).

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Etwa 70% der Patienten mit isolierter Aniridie haben einen betroffenen Elternteil 1158 | 

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Eine Erklärung für sporadische Erkrankungsfälle (selten bei isolierter Aniridie, aber die Regel beim WAGR-Syndrom) sind meist PAX6-Neumutationen, die bei keinem Elternteil vorliegen, sondern in einer der beiden zur Befruchtung gelangten Keimzellen neu entstanden sind (. Abb. 2b).

Fast 400 PAX6-Mutationen sind in der Human Gene Mutation Database (HGMD) gelistet. Die meisten dieser über das gesamte Gen verteilten Mutationen sind mit der „klassischen“ nicht-syndromalen Aniridie assoziiert. Hinsichtlich ihrer Lage im PAX6-Locus und ihrer Konsequenz auf Gen- und Proteinebene lassen sie sich wie im Folgenden ausgeführt klassifizieren (. Abb. 3).

Intragenische Funktionsverlustmutationen Dieser Mutationstyp ist weitaus am häufigsten und führt zum Funktionsverlust des betroffenen Allels (Haploinsuffizienz). Der resultierende Phänotyp ist typischerweise die isolierte Aniridie (ohne Irisrestgewebe), die mit zusätzlichen okulären Pathologien vergesellschaftet sein kann (Sehnervenfehlbildungen, Glaukom, Katarakt, Hornhautveränderungen), nicht jedoch mit einem erhöhten Tumorrisiko. Es handelt sich um F Nonsense-Mutationen, die vorzeitige Stoppcodons in der proteinkodierenden Sequenz generieren (. Abb. 4a), F Mutationen, die das Startcodon (ATG) des Gens eliminieren (. Abb. 4b), F Insertionen oder Deletionen einiger Nukleotide der kodierenden Se-

Zusammenfassung · Abstract

2,5%

Komplex

12%

Verlust von Start- oder Stoppcodon 0,5%

Große Deletionen 13%

20% Missense

Spleißen

Nonsense 15%

Frameshift 37%

Abb. 3 8 Häufigkeit der verschiedenen PAX6Mutationstypen. [Nach Human Gene Mutation Database (HGMD); 381 Einträge, davon 328 mit Aniridie assoziiert]

quenz, die den Leserahmen verschieben (Frameshift-Mutationen), meist mit der Folge eines vorzeitigen Stoppcodons im aberranten Leserahmen, F Spleißmutationen an der Exon-Intron-Grenze, die dazu führen, dass das Zusammenfügen der kodierenden Genanteile (Exons) nach dem Spleißen („Herausschneiden“) der dazwischen liegenden nicht-kodierenden Sequenzen (Introns) zur Bildung der reifen mRNA nicht korrekt abläuft, F große Deletionen, die eines oder mehrere Exons betreffen, F Mutationen in nicht-kodierenden regulatorischen Regionen, die die Ablesung des PAX6-Gens steuern [2]. In den meisten Fällen ist davon auszugehen, dass mutante RNA mit vorzeitigen Terminationscodons rasch abgebaut wird („nonsense-mediated decay“) und somit die Bildung eines trunkierten PAX6-Proteins verhindert wird (Ausnahmen bilden vor allem Stoppmutationen im letzten Exon eines Gens „in Reichweite“ des natürlichen Stoppcodons).

Missense-Mutationen Diese Mutationen führen zum Austausch einer Aminosäure im ansonsten unveränderten Protein (. Abb. 4c). Die Konsequenzen auf Proteinebene reichen je nach Lokalisation von erhaltener Restfunktion (bestimmte Mutationen in der „paired domain“ reduzieren die DNA-Bindungs-

Ophthalmologe 2014 · 111:1157–1163  DOI 10.1007/s00347-014-3059-3 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 C. Neuhaus · C. Betz · C. Bergmann · H.J. Bolz

Genetik der kongenitalen Aniridie Zusammenfassung Hintergrund.  PAX6-Mutationen führen beim Menschen überwiegend zu nicht-syndromaler Aniridie, die autosomal-dominant vererbt wird und meist familiär gehäuft zu beobachten ist. Die ursächlichen Punktmutationen oder Deletionen im PAX6-Locus gehen mit dem Funktionsverlust einer Genkopie einher (Haploinsuffizienz). Mutationen, die mit einer PAX6-Restfunktion vereinbar sind, führen oft zu milderen Ausprägungen, mitunter aber auch zu anderen – auch schwerwiegenderen – okulären Phänotypen. Kombinierte Deletionen von PAX6 und dem benachbarten Tumorsuppressorgen WT1 führen zum WAGR (Wilms-Tumor, Aniridie, Anomalien des Urogenitalsystems und geistige Retardierung)Syndrom mit einem hohen Risiko für WilmsTumoren. Fragestellung.  Der genetischen Diagnostik kommt große Bedeutung für Diagnosesicherung, Einschätzung des Wiederholungsrisikos

und die frühe Erkennung der Kinder mit assoziiertem Tumorrisiko zu. Ergebnisse und Diskussion.  Durch die Sequenzierung des PAX6-Gens einerseits und die quantitative Analyse des PAX6-Locus andererseits lassen sich die Verdachtsdiagnosen sowohl einer isolierten als auch einer syndromalen Aniridie sehr effizient molekulargenetisch abklären. Bei klinischer Überschneidung mit anderen monogenen Erkrankungen können zunehmend durch simultane Hochdurchsatzsequenzierung vieler Gene auch Differenzialdiagnosen (z. B. Mikrophthalmiesyndrome) mit erfasst werden. Für eine optimale Betreuung von Aniridiepatienten ist eine enge Zusammenarbeit von Augenärzten und Humangenetikern erforderlich. Schlüsselwörter PAX6 · WT1 · Wilms-Tumor · Genetische Beratung · Genetische Diagnostik

Genetics of congenital aniridia Abstract Background.  Mutations in the PAX6 gene mostly cause non-syndromic aniridia with autosomal dominant inheritance and familial occurrence. The underlying point mutations and deletions in the PAX6 locus cause lossof-function of one gene copy (haploinsufficiency). Mutations with residual PAX6 function often result in milder disease expression but may also cause distinct and more severe ocular phenotypes. Combined deletion of PAX6 and the adjacent WT1 tumor suppressor gene causes Wilms tumor, aniridia, genitourinary anomalies and mental retardation (WAGR) syndrome with a high risk for Wilms tumors in infancy. Purpose.  Genetic diagnostics are important for confirming the clinical diagnosis, for the assessment of the risk of recurrence and ear-

funktion des PAX6-Transkriptionsfaktors, eliminieren diese jedoch nicht) bis zu komplettem Funktionsverlust. Dementsprechend werden statt schwerer isolierter Aniridie häufig mildere okuläre Krankheitsbilder bei PAX6-Missense-Mutationen mit Proteinrestfunktion beobachtet wie Aniridie mit erhaltenem Irisgewebe und gut erhaltener Sehschärfe sowie auf Teilmanifestationen des klassischen Aniridiekomplexes begrenzte

ly recognition of children with associated tumor risk. Results and discussion.  Sequencing of the PAX6 gene and quantitative analysis of the PAX6 locus allow for efficient molecular genetic evaluation of the clinical diagnosis of both isolated and syndromic aniridia. In cases of clinical overlap with other entities, highthroughput sequencing of multiple additional genes can simultaneously cover genes for differential diagnoses (e.g. microphthalmia syndromes). Optimal care of aniridia patients requires close cooperation of ophthalmologists and medical geneticists. Keywords PAX6 · WT1 · Wilms tumor · Genetic counseling · Genetic diagnostics

Phänotypen (isolierte Keratitis, Katarakt, Glaukom oder foveale Hypoplasie). Fehlbildungen des Sehnervs, Peters-Anomalie, Mikrokornea, Mikrophthalmie und neurologische Auffälligkeiten (Entwicklungsverzögerung, zerebelläres Syndrom) repräsentieren das schwere Ende des klinischen Spektrums von Erkrankungen, die aus PAX6-Missense-Mutationen resultieren können. Der Ophthalmologe 12 · 2014 

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Abb. 4 9 Beispiele heterozygoter PAX6-Mutationen anhand von Elektropherogrammen (DNA-Sequenzierung nach Sanger). Da nur ein Allel mutiert ist, ist an der mutierten Position (bei „frameshifts“ auch an allen Folgepositionen) auch das normale Nukleotid sichtbar. a Die Mutation c.607C>T führt zu einem vorzeitigen Stoppcodon, TGA (p.Arg203*). b Die Mutation c.2T>C zerstört das natürliche Startcodon (ATG); das Allel „fällt aus“. c Die Missense-Mutation c.356G>A verändert das Codon AGC (Serin) zu AAC (Asparagin): p.Ser119Asn. d Die Mutation c.1268A>T zerstört das natürliche Stoppcodon (TAA), die Translation wird fortgesetzt („NoStop-Mutation“) und trifft erst „verspätet“ auf ein Stoppcodon (p.*423Leufs*15)

C-terminale Extensionsmutationen Durch Frameshift-Mutationen nahe dem C-Terminus des Gens oder durch Punktmutationen, die das natürliche Stoppcodon des Gens in ein Aminosäurecodon umwandeln, kommt es zu einem verlängerten PAX6-Protein, bei dem dann auch normalerweise nicht-kodierende Nukleotide der 3’-UTR („untranslated region“) in Aminosäuren „übersetzt“ werden (. Abb. 4d). Typischerweise geht dies mit einem ausgeprägten Aniridiephänotyp (allerdings oft mit residualem Irisgewebe), starker Sehbeeinträchtigung, Hornhautpathologie und Katarakt einher. Darüber hinaus wurden retinale Auffälligkeiten abseits des fovealen Bereichs (exsudative Retinopathie, chorioretinale De-

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generation) bisher nur bei C-terminalen Extensionsmutationen (CTE)-Mutationen beschrieben.

Kombinierte Deletion von PAX6 und WT1 beim WAGR-Syndrom Erkrankungen durch große genomische Deletionen, die mehrere benachbarte Gene umfassen, werden als Mikrodeletionssyndrome („contiguous gene syndrome“) bezeichnet. Diese Deletionen, die PAX6 und WT1 umfassen, resultieren im WAGR-Syndrom und ereignen sich in der Regel de novo (s. oben; . Abb. 5). Allerdings sind auch Chromosomentranslokationen eine mögliche (aber seltene) Ursache. Dies sind Mutationen, bei denen Chromosomenabschnitte an eine andere

Position innerhalb des Chromosomenbestandes verlagert werden. Bei einer unbalancierten Translokation kann dabei – im Gegensatz zur balancierten – genetisches Material verloren gehen – z. B. in Form einer PAX6-/WT1-Deletion. Hier kann ein gesunder Elternteil Träger einer balancierten den 11p13-Chromosomenlocus einschließenden Translokation sein, mit dann erhöhtem Wiederholungsrisiko für ein WAGR-Syndrom bei weiteren Nachkommen. Ein deutlicher Hinweis auf eine solche Chromosomentranslokation ist daher eine familiäre Häufung des WAGR-Syndroms.

Biallelische PAX6-Mutationen Es gibt nur wenige Beschreibungen von Patienten, bei denen beide Genkopien mutiert sind. Dies geht mit einem schweren Phänotyp (Anophthalmie, Hirnfehlbildungen, Mikrophthalmie, Mikrozephalie, frühe Letalität) einher [4, 11, 13].

Genetische Beratung Bei der humangenetischen Beratung ist der autosomal-dominante Erbgang PAX6-assoziierter Erkrankungen zu erörtern (s. oben). Bei genetisch gesicherten Patienten mit negativer Familienanamnese handelt es sich wahrscheinlich um eine De-novo-Mutation. Aufgrund der mitunter ausgeprägten klinischen Variabilität innerhalb einer Familie wird aber empfohlen, die Eltern auf Mikrosymptome (z. B. leichte Iris- und Foveahypoplasie) zu untersuchen. Darüber hinaus stellt die molekulargenetische Untersuchung der Eltern auf eine beim Indexpatienten gesicherte ursächliche PAX6-Mutation eine schnelle und günstige Methode zur konkreten Einschätzung der Situation dar. Trägt keiner der Eltern die beim betroffenen Kind nachgewiesene Mutation, so ist das Wiederholungsrisiko bei zukünftigen Kindern vermutlich nicht wesentlich erhöht. Ausnahmen hiervon bilden Keimbahnmosaike bei einem Elternteil: In diesen seltenen, bei Aniridie jedoch bereits beschriebenen Fällen [5] weist der jeweilige Elternteil die Mutation nur in einem Teil seiner Keimzellen, meist jedoch nicht im Blut (daher kein Mutationsnachweis anhand der Blutpro-

Abb. 5 8 Beispiel einer PAX6-WT1-Deletion (WAGR-Syndrom). Bei einer Patientin mit kongenitaler Aniridie und Glaukom wurden per Hochdurchsatzsequenzierung („next-generation sequencing“, NGS) die Gene FOXC1, MYOC, PAX6, PITX2 und WT1 untersucht. Die Sequenzanalyse ergab keine Punktmutationen. a Die quantitative Auswertung der „coverage“ aus NGSDaten (Anzahl der Exon-spezifischen Sequenzkopien; Patient: rot; normal/Wildtyp: grün) ergab eine Deletion von PAX6 und WT1, die durch b MLPA („multiplex ligation-dependent probe amplification“)-Analyse bestätigt wurde

be) auf. Aus diesem Grund kann nur eine pränatale Untersuchung (Chorionzottenbiopsie, Amniozentese) das Vorliegen der Mutation beim Feten ganz sicher ausschließen.

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Nur eine pränatale Untersuchung kann das Vorliegen der Mutation beim Feten sicher ausschließen Besteht ein erhöhtes Wiederholungsrisiko für ein WAGR-Syndrom aufgrund einer elterlichen balancierten Chromosomentranslokation, kann ebenfalls durch eine vorgeburtliche Diagnostik untersucht werden, ob und in welcher Konstellation (balanciert vs. unbalanciert) diese an den Feten vererbt wurde.

Das Risiko für – auch bilaterale – Wilms-Tumoren ist bei Kindern mit WAGR-Syndrom hoch. Die Keimbahnmutation mit Verlust einer WT1-Genkopie stellt nach der „2-Treffer-Hypothese“ von Knudson den ersten Treffer dar [9]. Eine zweite (somatische) Mutation der anderen Kopie des Tumorsuppressorgens im Nierengewebe führt zum kompletten WT1-Funktionsverlust und in der Folge zur Tumorentstehung. Bei Kindern mit Aniridie und nachgewiesener WT1-Deletion sollten bis zum 8. Lebensjahr alle 3 Monate renale Ultraschalluntersuchungen durchgeführt werden; danach ist das Auftreten von Wilms-Tumoren sehr unwahrscheinlich. Aufgrund des generell erhöhten Risikos für Störungen der Nierenfunktion sollte diese lebenslang regelmäßig kontrolliert werden.

Zusammenfassend sei betont, dass die molekulargenetische Untersuchung immer Bestandteil der diagnostischen Abklärung bei Aniridiepatienten sein sollte. Aufgrund der insgesamt ausgeprägten klinischen Variabilität fallen Neugeborene mit WAGR-Syndrom zunächst oft nur durch eine Aniridie auf. Bei einem Teil der sporadischen Aniridiepatienten ergibt die molekulargenetische Diagnostik eine Deletion von PAX6 und WT1, was regelmäßig oben genannte Vorsorgeuntersuchungen erforderlich macht.

Genetische Diagnostik Die genetische Diagnostik ist für Diagnosesicherung, Einschätzung des Wiederholungsrisikos und die frühe Erkennung der Der Ophthalmologe 12 · 2014 

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Leitthema

V. a. Aniridie

Sequenzierung

negativ

PAX6

V a. WAGR

klin. Überlappung mit anderen Entitäten

MLPA

inkl. CNV-Analyse

NGS

PAX6, WT1

positiv

positiv

PAX6-Mutation

PAX6 + WTIDeletion

- PAX6, WT1, PITX2, PITX3, FOXC1 - Mikrophthalmie-Panel - Glaukom-Panel

positiv Mutation in anderem Gen

Differenzialdiagnosen Aniridie

-

WAGR

Mikrophthalmie Katarakt Glaukom ...

FISH

Ausschluss balancierte 11p13-Translokation bei den Eltern

Abb. 6 8 Humangenetische Diagnostik bei Verdacht auf Aniridie. V. a. Verdacht auf, MLPA „multiplex ligation-dependent probe amplification“, NGS „next-generation sequencing“, CNV „copy number variation“, FISH „fluorescence in situ hybridization“

Kinder mit assoziiertem Tumorrisiko essenziell. Vor Durchführung einer genetischen Diagnostik müssen die Patienten bzw. deren Eltern über deren Inhalt und Tragweite aufgeklärt werden und ihr schriftliches Einverständnis geben (Gendiagnostikgesetz). Das Ergebnis der Diagnostik ist im Rahmen einer humangenetischen Beratung, die in einem Gutachten zusammengefasst wird, zu erläutern.

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Die genetische Diagnostik ist für Diagnosesicherung, Einschätzung des Wiederholungsrisikos und frühe Erkennung der Kinder mit assoziiertem Tumorrisiko essenziell Bei Verdacht auf Aniridie und/oder WAGR-Syndrom wird zunächst durch MLPA („multiplex ligation-dependent probe amplification“)-Analyse auf Deletionen/Duplikationen in den Genen PAX6 und WT1 untersucht. MLPA-Sonden bestehen jeweils aus 2 Teilsonden, die ab-

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hängig vom Vorhandensein der entsprechenden Zielsequenz ligiert (d. h. zur funktionellen Sonde zusammengefügt) werden und dann die Amplifikation eines fluoreszenzmarkierten Produkts ermöglichen. Die Stärke des Fluoreszenzsignals im Vergleich zu einer Kontrolle lässt Rückschlüsse auf Deletionen oder Duplikationen zu. Bei Nachweis einer Deletion (und somit Sicherung eines WAGR-Syndroms) sollten die Eltern mittels konventioneller zyto- oder molekularzytogenetischer Methoden [“fluorescence in situ hybridization“ (FISH) zur Detektion submikroskopischer Rearrangements] auf balancierte Translokationen unter Beteiligung von Chromosom 11p13 untersucht werden. Bei fehlendem Deletionsnachweis wird anschließend die Sanger-Sequenzierung des PAX6-Gens zur Detektion von Punktmutationen durchgeführt. Diese nach Frederick Sanger benannte Methode der DNA-Sequenzierung mittels Kettenabbruchsynthese stellt aktuell noch den Goldstandard dar. Im Gegensatz zu NGS-Methoden (s. unten) stößt sie jedoch bei der Analyse vieler bzw. großer

Gene schnell an Grenzen, weil Exons einzeln amplifiziert und sequenziert werden müssen. Überlappt der Phänotyp mit anderen Entitäten, empfiehlt sich eine Hochdurchsatzsequenzierung („next-generation sequencing“, NGS) unter Einschluss einer Vielzahl von Genen für mögliche Differenzialdiagnosen (PAX6, WT1, PITX2, PITX3, FOXC1, Mikrophthalmie- und Glaukomgene). Die hohe Abdeckung („coverage“) exonischer Sequenzen durch Sequenzierung mehrerer 100 Kopien lässt bei entsprechender bioinformatischer Auswertung auch quantitative Aussagen zu (Deletion/Duplikation einzelner Exons), sodass neben Punktmutationen auch Deletionen/Duplikationen erkannt werden (. Abb. 6). Da NGS eine sehr junge Technik ist, die erst seit Kurzem Einzug in die genetische Diagnostik hält, handelt es sich aktuell noch nicht um eine im Leistungskatalog der Krankenkassen abgebildete Analyse.

Fazit für die Praxis F Mutationen, die sich auf das PAX6Gen beschränken, führen in der Regel zur isolierten (nicht-syndromalen) Aniridie. F Der klassischen Aniridie liegt eine Haploinsuffizienz von PAX6 zugrunde. F Missense-Mutationen mit Restfunktion des betroffenen PAX6-Allels können zu milder Aniridie führen, aber auch zu schweren Formen oder anderen okulären Phänotypen. Verluste des natürlichen Stoppcodons gehen ebenfalls mit stark ausgeprägtem Phänotyp einher. F Das WAGR-Mikrodeletions-Syndrom resultiert aus kombinierter Deletion von PAX6 und WT1 und geht mit einem hohen Risiko für Wilms-Tumoren einher. F Die klaren Genotyp-Phänotyp-Korrelationen geben eine eindeutige und effiziente diagnostische Strategie vor. Hochdurchsatzsequenzierungstechniken ermöglichen die simultane genetische Abklärung von Differenzialdiagnosen im Falle atypischer klinischer Symptome. F Beim Aniridiekomplex handelt es sich um eine Erkrankungsgruppe, die eine

Fachnachrichten Datenbanken, Weblinks https://portal.biobase-international.com/ hgmd http://lsdb.hgu.mrc.ac.uk/home.php?select_db=PAX6 http://omim.org http://www.ncbi.nlm.nih.gov/books/ NBK1360/ http://www.gesetze-im-internet.de/gendg/ index.html

enge Zusammenarbeit von Augenärzten und Humangenetikern erfordert. Die humangenetische Beratung der betroffenen Familien muss fester Bestandteil der ärztlichen Betreuung sein.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. H.J. Bolz Bioscientia Zentrum für Humangenetik Konrad Adenauer-Str. 17, 55218 Ingelheim [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  C. Neuhaus, C. Betz, C. Bergmann und H.J. Bolz sind Angestellte von Bioscientia, einem privatwirtschaftlichen Unternehmen der medizinischen Diagnostik. Alle im vorliegenden Manuskript beschriebenen Untersuchungen am Menschen wurden mit Zustimmung der zuständigen Ethik-Kommission, im Einklang mit nationalem Recht sowie gemäß der Deklaration von Helsinki von 1975 (in der aktuellen, überarbeiteten Fassung) durchgeführt. Von allen beteiligten Patienten liegt eine Einverständniserklärung vor.

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Medizinstudium muss wissenschaftliches Arbeiten stärker betonen Nur noch rund die Hälfte der angehenden Ärzte in Deutschland erwirbt einen Doktortitel. Damit geht der Medizin seit rund zehn Jahren der Forschungsnachwuchs kontinuierlich verloren. Die AWMF (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V.) fordert in einer aktuellen Stellungnahme, wissenschaftliches Arbeiten umgehend als Wahlpflichtfach in den Lehrplan des Medizinstudiums aufzunehmen. Im Gegensatz zu anderen akademischen Fächern fehlt in der Medizin eine Grundausbildung in den wissenschaftlichen Arbeitstechniken, betont die AWMF. Dadurch bringe sich das Fach nicht nur um die Chance, die wissenschaftliche Neugier der Studierenden zu wecken. „Die forschende Medizin geht damit auch das Risiko ein, sich zunehmend abhängig zu machen vom Import von Nachwuchswissenschaftlern aus anderen akademischen Fächern“. Die Grundlagen ließen sich durch einen individuellen, standortspezifischen Schwerpunkt ergänzen. Ausdrücklich begrüßt die AWMF auch die Position des Wissenschaftsrats, dass das Medizinstudium auf mindesten sechs Jahre angelegt sein sollte, und dass die Zwischenprüfung („M1-Examen“) wieder bundeseinheitlich abgenommen werden sollte. Die AWMF empfiehlt zudem, wissenschaftliche Methodenkurse von der Grundlagenforschung über klinische Studien bis zur Versorgungsforschung anzubieten. Denn der Nachwuchsmangel in den theoretischen und klinisch-theoretischen Fächern der Medizin veranschauliche dieses Defizit der derzeitigen Ausbildungsordnung ebenso wie das fehlende Interesse an klinischer Forschung. Auch für Versorgungsforschung und translationale Forschung müsse das Studium Interesse wecken. Zumindest in Teilen könnten die Fakultäten diese Ideen und Forderungen sofort in die Tat umsetzen, für andere Teile ist eine Änderung der Approbationsordnung nötig. Quelle: Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e.V. (AWMF), www.awmf.org

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[Genetics of congenital aniridia].

Mutations in the PAX6 gene mostly cause non-syndromic aniridia with autosomal dominant inheritance and familial occurrence. The underlying point mutat...
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