Originalarbeit

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Geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich Depressivität bei Migranten der ersten und zweiten Generation: Ergebnisse einer Querschnittsuntersuchung an Beschäftigten einer Universitätsklinik Gender-Specific Differences Relating to Depressiveness in 1st and 2nd Generation Migrants: Results of a Cross-Sectional Study amongst Employees of a University Hospital

Autoren

S. Maksimović1, 2, M. Ziegenbein3, I. T. Graef-Calliess2, B. Ersöz4, W. Machleidt1, M. Sieberer1

Institute

1

3 4

Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover Zentrum für Transkulturelle Psychiatrie und Psychotherapie, Klinikum Wahrendorff, Sehnde/Hannover Psychiatrie Wunstorf/Langenhagen, Klinikum Region Hannover, Wunstorf/Hannover KRH Klinikum Nordstadt, Hannover

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

Abstract

"

!

!

Ziele der Studie: In dieser Untersuchung wird das Depressivitätsrisiko von Frauen und Männern mit Migrationshintergrund im Vergleich zu der einheimischen Bevölkerung anhand einer Querschnittsstudie an Beschäftigten einer deutschen Universitätsklinik analysiert. Darüber hinaus werden geschlechtsspezifische Unterschiede bezüglich der Risikofaktoren für Depressivität in den Subgruppen identifiziert. Methoden: 7062 erwerbstätige Personen mit und ohne Migrationshintergrund der ersten (1G) und zweiten (2G) Generation wurden zum sozioökonomischen Status, zu einzelnen Akkulturationsmerkmalen sowie zum Vorliegen depressiver Symptome befragt, die über die Allgemeine Depressionsskala (ADS-L) erfasst wurden. Odds Ratios (OR) wurden mittels logistischer Regression berechnet. Ergebnisse: Die Rücklaufquote betrug 41,7 % (n = 2932). Im Vergleich zu Nicht-Migranten ist das Risiko für eine klinisch relevante Depressivität für männliche Migranten der 1G (OR 2,35, 95 % Cl 1,11–4,96), für weibliche Migranten der 1G (OR 1,94, 95 % Cl 1,26 – 2,97) sowie für die Migrantinnen der 2G (OR 1,82, 95 % Cl 1,03 – 3,19) erhöht. Für die männlichen Migranten der 2G (OR 1,06, 95 % Cl 0,31 – 3,62) ist dieses Risiko hingegen nicht relevant erhöht. Migrantinnen der 2G, die „enge Beziehungen zur Heimatkultur“ angeben, haben ein erhöhtes Depressivitätsrisiko im Vergleich zu den männlichen Migranten der 2G (OR 7,31; p = 0,032). Männliche Migranten der 1G ohne „enge Beziehungen zur Heimatkultur“ haben ein erhöhtes Depressionsrisiko im Vergleich zu denen mit „engen Beziehungen zur Heimatkultur“ (OR 5,79; p = 0,010). Schlussfolgerung: Die Ergebnisse dieser Untersuchung deuten auf geschlechterspezifisch unterschiedliche Risikokonstellationen für Depressivität bei Migrantinnen und Migranten der 1. und 2.

Aims: This study analysed the risk of depression in men and women with a background of immigration by means of a cross-sectional study amongst employees of a German university hospital. In addition we identified gender-specific differences related to risk factors for depressiveness in the subgroups. Methods: 7062 employees with or without a 1st (1G) or 2nd (2G) generation background of migration were questioned with regard to their socio-economic status, to single markers of acculturation, and to existing symptoms of depression assessed on the general depression scale (CES-D). Odds ratios (OR) were calculated using logistic regression. Results: The response rate was 41.7 % (n = 2932). In comparison to non-migrants a higher risk of clinically relevant depressiveness was found for 1G male migrants (OR 2.35, 95 % Cl 1.11 – 4.96), 1G female migrants (OR 1.94, 95 % Cl 1.26 – 2.97) and for 2G female migrants (OR 1.82, 95 % Cl 1.03 – 3.19). There was no significant increase in risk for 2G male migrants (OR 1.06, 95 % Cl 0.31 – 3.62). 2G female migrants who considered themselves to retain a “close relationship to their native culture” had a significantly higher risk of depression than 2G male immigrants (OR 7.31; p = 0.032). Male 1G migrants without a “close relationship to their native culture” had a significantly higher risk of depression than those with a “close relationship to their native culture” (OR 5.79; p = 0.010). Conclusions: The results of this study point to gender-specific risk constellations for depression amongst 1st and 2nd generation migrants. It would appear that a strong orientation to the native culture increases the risk of depression for 2G female migrants, whereas for 1G male migrants this factor is associated with a lower risk of depression.

● Depression ● Migranten ● Gender ● sozioökonomischer Status ● Akkulturation " " " "

Key words

● depression ● migrants ● gender ● socio-economic status ● acculturation " " " " "

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1366801 Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82: 579–585 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0720-4299 Korrespondenzadresse PD Dr. Marcel Sieberer Klinik für Psychiatrie, Sozialpsychiatrie und Psychotherapie, Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover Sieberer.Marcel@mh-hannover. de

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Originalarbeit

Generation hin. So scheint eine stärkere Orientierung hin zur Herkunftskultur bei Migrantinnen der 2G mit einem im Vergleich höheren Risiko für Depressivität, bei männlichen Migranten der 1G hingegen mit einem niedrigeren Depressivitätsrisiko zusammenzuhängen.

Menschen mit Migrationshintergrund stellten in Deutschland im Jahre 2011 einen Bevölkerungsanteil von 19,5 % [1]. Die bisher vorliegende Datenlage in der internationalen Literatur bezüglich der Prävalenz von Depressionen bei Zuwanderern und ihren Nachkommen ist heterogen. Nach Meinung etlicher Autoren sind Migranten häufiger von Depressionen betroffen als die einheimische Bevölkerung [2 – 12, 32], da sie spezifischen Belastungen ausgesetzt sind, die zum Teil direkt in Verbindung mit der Migration stehen und gleichzeitig die Entstehung depressiver Störungen beeinflussen können [2, 11, 13, 14]. Hingegen belegen andere Studien, dass nicht bei allen untersuchten Migrantenstichproben erhöhte Prävalenzraten für Depressionen nachgewiesen werden können [6 – 8, 13, 14]. Der Frauenanteil an der zugewanderten Bevölkerung mit deren Nachkommen in Deutschland lag im Jahre 2011 bei 49,7 % [1]. Ob sich migrationsassoziierte Belastungen in gleicher Weise auf die weiblichen Migranten auswirken oder ob sie hierdurch eventuell psychosozial stärker belastet sind als die männlichen, lässt sich nicht zuletzt aufgrund einer mangelnden empirischen Befundlage bisher nicht zweifelsfrei beantworten. Geschlechterunterschiede in der Gesundheit lassen sich z. T. durch zwei soziale Hypothesen erklären. Nach der DifferentialExposure-Hypothese ergeben sich gesundheitliche Unterschiede zwischen den Geschlechtern dadurch, dass ein Geschlecht im Vergleich zu dem anderen häufiger sozialen Belastungen ausgesetzt ist, die ihrerseits Einfluss auf die Gesundheit haben [15 – 17]. Frauen weisen im Vergleich zu Männern bekanntlich erhöhte Prävalenzraten für eine Depression auf. Der Einfluss sozioökonomischer Bedingungen auf die Entstehung der Depression wurde umfassend untersucht. Der Geschlechterunterschied bezüglich der Prävalenz von Depressionen wird darauf zurückgeführt, dass Frauen wesentlich häufiger in sozioökonomisch benachteiligten Schichten vertreten sind [15 – 17]. Nach der Differential-Vulnerability-Hypothese ergeben sich Geschlechterunterschiede in der Gesundheit dadurch, dass ein Geschlecht im Vergleich zu dem anderen auf bestimmte soziale Belastungen irritabler reagiert [15, 16]. Frauen reagieren beispielsweise auf kritische Lebensereignisse, die Einfluss auf das soziale Netzwerk haben, eher durch eine depressive Entwicklung als Männer [15 – 18]. Die Gründe scheinen u. a. darin zu liegen, dass das soziale Netzwerk für Frauen mutmaßlich aufgrund geschlechtsspezifischer Rollenerziehung und -erwartungen eine höhere subjektive Wertigkeit besitzt [17 – 20]. Bezüglich depressiver Erkrankungen bei Menschen mit Migrationshintergrund diskutiert Bhugra in seinem Modell zu den Zusammenhängen von Migration und Depression [13, 14] mehrere potenzielle Morbiditätsfaktoren: Neben der Bedeutung des Grads der Freiwilligkeit einer Migration und negativen Kontrollüberzeugungen können kritische Lebensereignisse im Zusammenhang mit dem Migrationsakt wie beispielsweise der Verlust von nahen Angehörigen, ein „Kulturschock“, intergenerationale Akkulturationskonflikte oder eine negative Bilanzierung der Migration zu einer Depression beitragen. Wir nehmen an, dass die potenziellen Morbiditätsfaktoren in der Genese der Depression geschlechtsspezifisch unterschiedlichen

Impact haben könnten. Ein Geschlecht könnte im Sinne der Exposure-Hypothese einerseits bestimmten migrationsassoziierten Belastungen häufiger ausgesetzt sein, beispielsweise könnten der Grad der Freiwilligkeit der Migration oder negative Kontrollüberzeugungen häufiger mit einem Geschlecht verbunden sein. Andererseits könnte ein Geschlecht im Sinne der Vulnerabilitätshypothese auf bestimmte Belastungen empfindlicher reagieren. So könnte etwa eine geschlechterdifferente Vulnerabilität in Bezug auf Probleme im sozialen Netzwerk dazu führen, dass weibliche und männliche Migranten auf den Verlust der in der Heimat zurückgelassenen Familienangehörigen oder auf innerfamiliäre Generationskonflikte psychisch unterschiedlich belastet reagieren. Einige Autoren konstatieren einen Mangel an aussagekräftigen epidemiologischen Untersuchungen über die Zusammenhänge von Depression und Migration [10, 12, 21, 22]. Lindert und Kollegen [23] bemerken in ihrer Übersichtsarbeit, dass die Angaben von Depressionshäufigkeiten außerdem selten nach dem Geschlecht differenziert sind. In dieser Übersichtsarbeit konnten wir nur in sieben von 27 internationalen Untersuchungen zu dieser Thematik geschlechtergetrennte Prävalenzraten finden. In drei der sieben Untersuchungen wurden Flüchtlinge und in vier Arbeitsmigranten untersucht z. B. [4, 5, 24, 25]. Empirische Studien deuten mehrheitlich darauf hin, dass ein Migrationshintergrund bei den Migrantinnen stärker mit einer depressiven Erkrankung zusammenhängt als bei den männlichen Migranten [4 – 7, 9, 10, 32, 33]. Glaesmer und Kollegen [7] fanden im Vergleich zu der deutschen Bevölkerung ohne Migrationshintergrund bei den weiblichen, jedoch nicht bei männlichen Migranten eine erhöhte Zwei-Wochen-Prävalenz der Major Depression. Carta und Kollegen [4] berichteten im Vergleich zu Frauen und Männern in Sardinien erhöhte Häufigkeiten von Depressionen bei im Ausland lebenden sardischen Migrantinnen, jedoch nicht bei den männlichen sardischen Migranten. Wit und Kollegen [6] beobachteten unter Berücksichtigung sozioökonomischer Merkmale in ähnlicher Weise im Vergleich zu der einheimischen niederländischen Bevölkerung erhöhte Häufigkeiten für Depressionen und/oder Ängste bei türkischen Migrantinnen, nicht aber bei den türkischen Migranten. Soziodemografische und -ökonomische Merkmale wurden bereits mehrfach als Risikofaktoren für eine Depression bei Migranten untersucht [5, 8 – 11]. Alleinsein, nachteilige sozioökonomische Bedingungen, Diskriminierungserfahrungen und fehlende soziale Unterstützung sind demnach identifizierte gemeinsame Risikofaktoren für eine Depression bei Frauen und Männern. Geschlechterunterschiede bezüglich solcher oder anderer Risikofaktoren für Depressionen bei Migranten wurden bei der von uns gesichteten Literatur bislang nicht untersucht. Obwohl es naheliegend erscheint, dass sich migrationsassoziierte Belastungen in Abhängigkeit vom Geschlecht der Betroffenen unterschiedlich auswirken, ist die empirische Datenlage im Sinne einer geschlechtssensiblen Forschung bisher dürftig. In dieser Untersuchung soll daher das geschlechtsspezifische Depressivitätsrisiko von Migrantinnen und Migranten im Vergleich zu der einheimischen Bevölkerung dargestellt und in einem zweiten

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Originalarbeit

Schritt sollen mögliche gemeinsame und geschlechtsspezifische Risikofaktoren für Depressivität identifiziert werden.

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dauer in Deutschland lag für die Migranten der ersten Generation bei durchschnittlich 22,5 Jahren (Range 2 – 58 Jahren, SD 1 1,6).

Statistik Stichprobe und Methoden !

Studiendurchführung Nach Genehmigung durch die lokale Ethikkommission und mit Genehmigung durch den Betriebsrat wurde der kompletten Belegschaft einer Universitätsklinik (MHH) ein zweiseitiger Fragebogen zum Thema „psychisches Wohlbefinden und Migrationshintergrund“ zugesandt. Insgesamt wurden 7062 Fragebögen an die jeweiligen Hauspostadressen aller verzeichneten Mitarbeiter versandt. Die Teilnahme an der Befragung war anonym und freiwillig. Der Rücklauf der Fragebögen erfolgte streng anonymisiert durch beigelegte Rückumschläge über die Hauspost. Bei einer Rücklaufquote von 41,7 % (n = 2932) und nach Ausschluss von n = 146 nicht auswertbaren Fragebögen aufgrund fehlender Angaben gingen die Daten von 2786 Untersuchungsteilnehmern in die statistische Auswertung ein.

Die statistische Auswertung der Daten erfolgte mit SPSS, Version 17.0, in mehreren Schritten. Es wurde mit gültigen Prozentwerten gearbeitet. Im Rahmen der Stichprobenbeschreibung wurde zunächst mittels χ²-Tests geprüft, ob das Geschlecht unabhängig von den einzelnen Stichprobenmerkmalen ist. Die ADS-L-Mittelwerte der Stichproben mit und ohne Migrationshintergrund wurden in Beziehung zu der repräsentativen Bevölkerungsstichprobe „Repräs2“ der ADS-L [27] gesetzt und die Ergebnisse in Prozenträngen dargestellt. Mittels hierarchischer logistischer Regressionen wurden die geschlechtergetrennten Risikoverhältnisse für eine klinisch relevante Depressivität bei den Teilnehmern mit und ohne Migrationshintergrund bestimmt. Risikofaktoren für Depressivität wurden mittels hierarchischer logistischer Regression untersucht, in die zur Überprüfung von Geschlechterunterschieden Interaktionstherme aufgenommen wurden. Die Ergebnisse werden in Odds Ratios (OR) mit 95 %-Konfidenzintervallen (95 %CI) dargestellt.

Der Fragebogen umfasste Fragen zum Geschlecht, zur Altersgruppe, zur Schulbildung, zur Berufsausbildung bzw. zum Studium und zur gegenwärtig ausgeübten beruflichen Tätigkeit. Migrationsstatus. Der Migrationsstatus wurde in Anlehnung an den „Mindestindikatorensatz zur Erfassung des Migrationsstatus“ nach Schenk et al. [26] erhoben. Migranten erster Generation sind per definitionem jene, die selbst in einem anderen Land als Deutschland geboren wurden. Migranten zweiter Generation haben mindestens ein Elternteil, der in einem anderen Land als Deutschland geboren wurde. Akkulturationsindikatoren. Als Anhaltspunkt für die Akkulturationsstile der Teilnehmer mit Migrationshintergrund wurden die Fragen „Fühlen Sie sich in Deutschland zu Hause?“ (ja/nein) und „Haben Sie enge Beziehungen zu Ihrer Heimatkultur?“ (ja/ nein) gestellt. Depressivität. Die Depressivität wurde mit der Allgemeinen Depressionsskala (ADS-L) erfasst [27]. Das Verfahren fragt mit 20 Items auf einer vierstufigen Skala nach depressiven Symptomen. Ein Wert von ≥ 23 Punkten weist eine hohe Spezifität (89 %) für die Gruppe depressiver Probanden mit klinischer Relevanz auf. In dieser Untersuchung wurden die Werte in klinisch auffällige (ADS-Score ≥ 23) und klinisch unauffällige Fälle dichotomisiert. Die kultur- und geschlechtsbezogene Messäquivalenz der ADS-L wurde in einer vorangegangenen Untersuchung überprüft [28].

Stichprobe Insgesamt berichteten 85 % (n = 2370) der Teilnehmer, keinen Migrationshintergrund zu haben; davon waren 75 % (n = 1772) weiblich. Der Altersmedian der Frauen und Männer ohne Migrationshintergrund liegt in der Alterskategorie 40 bis 49 Jahren. Einen Migrationshintergrund gaben 15 % (n = 416) der Teilnehmer an, davon waren 72 % (n = 301) weiblich. Der Altersmedian der Frauen und Männer mit Migrationshintergrund liegt in der Kategorie 30 bis 39 Jahren. Die am stärksten repräsentierten Herkunftsländer der Migranten erster Generation, die aus insgesamt 54 Ländern stammen, sind Polen (n = 59), Russland (n = 33), Kasachstan (n = 21) und die Türkei (n = 20). Von allen Migranten schätzten 92,8 % (n = 384) die eigenen Deutschkenntnisse selbst als „sehr gut“ bis „gut“ und eine Minderheit von 7,2 % (n = 30) als „mittelmäßig“ oder schlechter ein. Die Länge der Aufenthalts-

Ergebnisse ! " Tab. 1 ist die Untersuchungsstichprobe zusammenfassend In ● dargestellt. Die weiblichen Teilstichproben weisen im Vergleich zu den korrespondierenden männlichen Stichproben einen niedrigeren sozioökonomischen Status auf. Die weiblichen Teilnehmerinnen verfügen über einen geringeren Schulabschluss (Nicht-Migranten (NM): χ² (2, n = 2357) = 75,14, p < 0,001; erste Generation (1G): χ² (2, n = 271) = 12,06, p = 0,007; zweite Generation (2G): χ² (2, n = 142) = 13,70, p = 0,001), über eine geringere Berufsausbildung (NM: χ² (2, n = 2338) = 133,15, p < 0,001; 1G: χ² (2, n = 271) = 22,10, p < 0,001; 2G: χ² (2, n = 143) = 10,60, p = 0,005), und sie gingen aktuell einer geringer qualifizierten Tätigkeit nach (NM: χ² (4, n = 2349) = 158,50, p < 0,001; 1G: χ² (4, n = 265) = 41,43, p < 0,001; 2G: χ² (4, n = 143) = 24,7, p < 0,001). Bei den Migranten erster und zweiter Generation wurden keine relevanten Zusammenhänge von Geschlecht und Alter gefunden (1G: χ² (3, n = 273) = 6,12, p = 0,106; 2G: χ² (3, n = 143) = 6,41, p = 0,093) oder von Geschlecht und den Akkulturationsmerkmalen („… sich in Deutschland zu Hause fühlen“: 1G: χ² (1, n = 268) = 0,25, p = 0,62; 2G: χ² (1, n = 139) = 2,62, p = 0,105; „… enge Beziehungen zu Ihrer Heimatkultur“: 1G: χ² (1, n = 267) = 1,05, p = 0,306; 2G: χ² (2, n = 134) = 0,094, p = 0,760). Die Prozentränge der ADS-L-Mittelwerte der Stichproben stellen sich wie folgt dar: 47 % der deutschen Referenzstichprobe [27] weisen einen gleich hohen oder einen geringeren ADS-Wert auf als die Nicht-Migranten der Stichprobe dieser Untersuchung mit einem ADS-Score von 11,3 (SD = 7,9). 58 % der deutschen Referenzstichprobe [27] weisen einen gleich hohen oder einen geringeren ADS-Wert auf als die Migranten der ersten Generation mit einem ADS-Score von 13,1 (SD = 9,3) und der zweiten Generation mit einem ADS-Score von 12,9 (SD = 9,4). " Tab. 2 sind die geschlechtergetrennten Risikoverhältnisse In ● dargestellt. Im Vergleich zu den männlichen Nicht-Migranten ist das Risiko für eine relevante Depressivität (ADS-Score ≥ 23) für die männlichen Migranten erster Generation ca. 2,2-mal größer und für die männlichen Migranten zweiter Generation nicht erhöht. Der Haupteffekt bleibt unter Einbezug des Alters und sozioökonomischer Merkmale statistisch signifikant. Im Vergleich

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Soziodemografische und -ökonomische Merkmale

Originalarbeit

Tab. 1

Stichprobenmerkmale nach Migrationsstatus und Geschlecht (n = 2786).

Nicht-Migranten

Alter in Jahren, n (%)

Migranten 1. Generation

Migranten 2. Generation

weibliche

männliche

weibliche

männliche

weibliche

männliche

n = 1772

n = 598

n = 199

n = 74

n = 102

n = 41

0

18 – 29

438 (25 %)

108 (18 %)

51 (26 %)

17 (23 %)

39 (38 %)

16 (39 %)

30 – 39

396 (22 %)

178 (30 %)

48 (24 %)

28 (38 %)

24 (24 %)

17 (41 %)

40 – 49

573 (32 %)

162 (27 %)

59 (30 %)

14 (19 %)

24 (24 %)

5 (12 %)

50 – 59

361 (20 %)

150 (25 %)

41 (21 %)

15 (20 %)

15 (15 %)

3 (7 %)

6 (6 %)

1 (2 %)

Schulausbildung, n (%) 0,1,2 Hauptschule

91 (5 %)

35 (6 %)

10 (5 %)

1 (1 %)

Realschule

726 (41 %)

128 (22 %)

63 (32 %)

10 (14 %)

47 (48 %)

7 (17 %)

Gymnasium

947 (54 %)

430 (72 %)

125 (63 %)

62 (85 %)

46 (47 %)

33 (80 %)

Berufausbildung, n (%) 0,1,2 Keine

30 (2 %)

8 (1 %)

12 (6 %)

1 (1 %)

6 (6 %)

1 (2 %)

1184 (68 %)

246 (42 %)

109 (55 %)

21 (28 %)

68 (68 %)

17 (41 %)

533 (30 %)

337 (57 %)

76 (39 %)

52 (70 %)

28 (27 %)

23 (56 %)

Ärzte/Wissenschaftler

307 (17 %)

251 (42 %)

39 (20 %)

43 (59 %)

15 (15 %)

21 (51 %)

Verwaltung

275 (16 %)

72 (12 %)

37 (20 %)

6 (8 %)

24 (23 %)

1 (2 %)

Pflegepersonal

597 (34 %)

126 (21 %)

66 (34 %)

7 (7 %)

37 (36 %)

10 (24 %)

Ausbildung Universitätsabschluss Tätigkeit, n (%)0,1,2

Med.-Techn. Service

336 (19 %)

66 (11 %)

19 (10 %)

6 (8 %)

11 (11 %)

5 (12 %)

Sonstige

240 (14 %)

80 (13 %)

31 (16 %)

11 (15 %)

15 (15 %)

4 (10 %)

Sich in Deutschland zu Hause fühlen, n (%) a

180 (92 %)

66 (90 %)

98 (98 %)

36 (92 %)

Enge Beziehung zu Ihrer Heimatkultur, n (%) a

140 (72 %)

48 (66 %)

73 (77 %)

29 (74 %)

Ja-Antwortena. Der χ2-Test verweist auf signifikante Geschlechterunterschiede auf dem p ≤ 0,001-Niveau unter den Nicht-Migranten0, Migranten erster Generation1 und Migranten zweiter Generation2.

Tab. 2 Hierarchische logistische Regression: Prädiktoren für Depressivität (ADS ≥ 23) durch die schrittweise Einbeziehung von Migrationsstatus, Alter und sozioökonomischen Variablen mittels logistischer Regression (n = 2786).

Modell 1

Modell 2

Modell 1

Modell 2

OR

(95 %Cl)

OR

(95 %Cl)

OR

NM Frauen

1,36

(0,94 – 1,94)

1,23

(0,85 – 1,78)

1(ref)

NM Männer

1(ref)

0,74

(0,51 – 1,05)

0,81

(0,56 – 1,18)

1. GM Frauen

2,56***

(1,55 – 4,25)

2,37***

(1,42 – 3,96)

1,89**

(1,24 – 2,88)

1,94**

(1,26 – 2,97)

1. GM Männer

2,19*

(1,04 – 4,60)

2,35*

(1,11 – 4,96)

1,62

(0,81 – 3,22)

1,92

(0,95 – 3,88)

2. GM Frauen

2,56**

(1,37 – 4,79)

2,23*

(1,18 – 4,21)

1,89*

(1,08 – 3,31)

1,82*

(1,03 – 3,19)

2. GM Männer

1,08

(0,32 – 3,65)

1,06

(0,31 – 3,62)

0,79

(0,24 – 2,61)

0,87

(0,26 – 2,86)

–2Log likelihood

1670,78

1657,38

1670,78

1657,38

Chi-Wert (df)

18,80 (6)**

13,40 (6)*

18,80 (6)**

13,40 (6)*

1(ref)

(95 %Cl)

OR

(95 %Cl)

1(ref)

NM = Nicht-Migranten, GM = Generation Migrant. Odds Ratio (OR), 95 %-Konfidenzintervall (95 %Cl), Referenzkategorie (ref), Freiheitsgrade (df). Variablen im Modell 1 sind Migrationsstatus und Alter; Variablen im Modell 2 sind Migrationsstatus, Alter sowie Schulbildung, Berufsausbildung und Tätigkeitsbereich. OR der Variablen Alter, Schulbildung, Berufsausbildung und Tätigkeitsbereich sind nicht dargestellt. Die Wald-Statistik (nicht abgebildet) ist signifikant auf dem ***p ≤ 0,001-, **p ≤ 0,01-, *p ≤ 0,05-Niveau.

zu den weiblichen Nicht-Migranten liegt das Risiko für einen ADS-Score ≥ 23 bei den Migrantinnen der ersten und zweiten Generation ca. 1,9-mal höher. Die Haupteffekte bleiben auch hier unter Berücksichtigung des Alters und sozioökonomischer Merkmale statistisch signifikant. " Tab. 3) zeigt sich altersadjustiert, dass MiIm ersten Modell (● grantinnen im Vergleich zu männlichen Migranten und Migranten der ersten Generation im Vergleich zu denen der zweiten Generation keine signifikant erhöhten Odds Ratios hinsichtlich des Risikos für eine relevante Depressivität (ADS-Score ≥ 23) aufweisen. In das zweite Modell wurden die sozioökonomischen Merkmale (Schulbildung, Berufsausbildung und ausgeübte Berufstätigkeit) aufgenommen; zur Senkung des Multikollinaritätsproblems

wurde a priori das Merkmalsselektionsverfahren mit dem Vorwärts-Schrittweise-Verfahren verwendet. Migranten mit geringerer Schulbildung haben ein höheres Risiko für einen ADS-Score ≥ 23 als Migranten mit höherer Schulbildung. In das dritte Modell wurden die Akkulturationsmerkmale aufgenommen. Migranten, die angaben, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen, haben ein geringeres Risiko für eine klinisch relevante Depressivität als Migranten, die sich in Deutschland nicht zu Hause fühlen. Im vierten Modell wurden Interaktionseffekte mit Geschlecht, Migrationsgeneration und den Akkulturationsmerkmalen unabhängig voneinander geprüft. Die Interaktion zwischen den Variablen Geschlecht und „Haben Sie enge Beziehungen zu Ihrer Heimatkultur“ ist statistisch signifikant. Außerdem zeigt sich für die zuletzt

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Originalarbeit

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Tab. 3 Hierarchische logistische Regression: Prädiktoren für Depressivität (ADS ≥ 23) durch die schrittweise Einbeziehung von Geschlecht, sozioökonomischen und Akkulturationsvariablen mittels logistischer Regression (Migrantenstichprobe n = 416).

Modell 1 OR

Modell 2 (95 %Cl)

OR

Modell 3 (95 %Cl)

OR

Modell 4 (95 %Cl)

OR

(95 %Cl)

Frauen a

1,42

(0,71 – 2,83)

1,21

(0,59 – 2,45)

1,28

(0,62 – 2,62)

0,53

Erste Generation b

1,29

(0,68 – 2,45)

1,44

(0,75 – 2,77)

1,34

(0,69 – 2,59)

1,33

(0,18 – 1,52) (0,69 – 2,59)

Alter

0,86

(0,65 – 1,14)

0,80

(0,60 – 1,07)

0,82

(0,61 – 1,09)

0,79

(0,60 – 1,07)

0,58*

(0,36 – 0,94)

0,54*

(0,33 – 0,89)

0,54*

(0,32 – 0,88)

Zu Hause fühlen c

2,81*

(1,01 – 7,80)

2,52

(0,89 – 7,16)

Enge Beziehungen d

0,65

(0,35 – 1,21)

0,20*

(0,54 – 0,73)

4,99*

(1,10 – 22,6)

Schulbildung

Frauen × Enge Bezieh. –2Log likelihood Chi-Wert (df)

305,091 2,55 (3)

300,517 4,57 (1)*

295,595 5,27 (2)

290,980 4,62 (1)*

genannte Variable ein konditionaler Haupteffekt [29] bei den männlichen Migranten. " Tab. 3 zeigt sich in weiterführenBezüglich der Interaktion in ● den χ²-Testungen, die nach der Migrantengeneration stratifiziert waren, dass Migrantinnen der zweiten Generation ohne enge Beziehungen zur Heimatkultur im Vergleich zu den männlichen Migranten der zweiten Generation, die jeweils angaben, keine engen Beziehungen zu ihrer Heimatkultur zu haben, kein erhöhtes Risiko für Depressivität haben (OR = 0,91; χ² (1, n = 32) = 0,01, p = 0,930). Migrantinnen der zweite Generation mit engen Beziehungen zur Heimatkultur hingegen weisen ein 7,3-fach größeres Risiko für einen ADS-Score ≥ 23 auf als männliche Migranten der zweiten Generation mit engen Beziehungen zur Heimatkultur (OR = 7,31; χ² (1, n = 102) = 4,59, p = 0,032). Bei den Migranten der ersten Generation zeigt sich ein trendmäßiger Zusammenhang von Geschlecht und engen Beziehungen zur Heimatkultur (χ² (1, n = 188) = 2,77, p = 0,096). " Tab. 3 zeigt sich, dass Hinsichtlich des konditionalen Effekts in ● männliche Migranten der ersten Generation ohne enge Beziehungen zur Heimatkultur ein 5,7-fach erhöhtes Risiko für einen ADS-Score ≥ 23 aufweisen im Vergleich zu männlichen Migranten der ersten Generation mit engen Beziehungen zur Heimatkultur (OR = 5,79; χ² (1, n = 73) = 6,58, p = 0,010). Bei den männlichen Migranten der zweiten Generation konnte ein solcher Zusammenhang nicht nachgewiesen werden (χ² (1, n = 39) = 0,65, p = 0,418).

Diskussion !

In dieser Studie wurde eine Stichprobe erwerbstätiger Menschen mit und ohne Migrationshintergrund der ersten und zweiten Generation untersucht. Die weiblichen und männlichen Untersuchungsteilnehmer unterscheiden sich in den sozioökonomischen Merkmalen dahin gehend, dass die weiblichen Teilnehmerinnen einen geringeren Schulabschluss und eine geringere Berufsausbildung haben sowie einer geringer qualifizierten Tätigkeit nachgehen. Die Teilnehmer ohne Migrationshintergrund zeigen im Vergleich zu der repräsentativen Bevölkerungsstichprobe der ADS-L [27] eine depressive Symptomausprägung mit einem Prozentrang um 50 %. Sie scheinen entsprechend mit der repräsentativen Bevölkerungsstichprobe approximativ vergleichbar zu sein und dienten in den Berechnungen als Referenzgruppe.

Die erste Untersuchungsfrage ist, wie hoch das geschlechtsspezifische Depressivitätsrisiko von Frauen und Männern mit Migrationshintergrund im Vergleich zu der einheimischen Bevölkerung ist. Empirische Studien lassen meist darauf schließen, dass ein Migrationshintergrund bei Migrantinnen häufiger mit einer depressiven Erkrankung zusammenhängt als bei den männlichen Migranten [4 – 7, 9, 10, 32, 33]. In dieser Untersuchung wurde unter Berücksichtigung des Alters und sozioökonomischer Merkmale das Risiko für eine klinisch relevante Depressivität nach der Migrantengeneration stratifiziert. Bei den Migranten der ersten Generation wird deutlich, dass die männlichen Migranten ein relativ höheres Depressivitätsrisiko aufweisen als die weiblichen Migranten. Für die Migranten der zweiten Generation zeigt sich hingegen, dass die Migrantinnen ein höheres Depressivitätsrisiko haben als die männlichen Migranten. Die vorliegende Untersuchung konnte Untersuchungsergebnisse aus anderen Studien, die eine allgemein erhöhte Prävalenz für Depressionen bei weiblichen Migranten annehmen, daher nur teilweise, nämlich für die Gruppe der Migranten zweiter Generation, bestätigen. Differenzierter betrachtet, deuten die Ergebnisse unserer Untersuchung darauf hin, dass es hinsichtlich der Risikoverhältnisse für das Vorliegen einer Depression zwischen den Migrationsgenerationen Geschlechterunterschiede gibt. Ein weiteres Ergebnis dieser Untersuchung ist der Hinweis auf die Differential-Exposure-Hypothese, wonach gesundheitsbezogene Geschlechterunterschiede auf eine unterschiedliche Exposition gegenüber sozialen Belastungen zurückgeführt werden können [15, 16]. Die Frauen dieser Untersuchung wiesen einen niedrigeren sozioökonomischen Status auf als die Männer. Die Risikoverhältnisse der Frauen für eine klinische Depressivität verringern sich durch die Berücksichtigung sozioökonomischer Merkmale, bzw. die Risikoverhältnisse der Männer für eine klinische Depressivität erhöhen sich. Die Geschlechterunterschiede in der Depressivität lassen sich also z. T. darauf zurückführen, dass Frauen und Männer dieser Stichprobe unterschiedliche sozioökonomische Voraussetzungen haben. Zukünftige Untersuchungen sollten überprüfen, ob weitere Belastungen, vor allem migrationsassoziierte Faktoren, häufiger mit einem bestimmten Geschlecht verbunden sind. Die zweite Untersuchungsfrage ist, welche gemeinsamen und geschlechtsspezifischen Risikofaktoren sich für eine klinisch relevante Depressivität identifizieren lassen. In bisherigen Untersuchungen wurden häufig soziodemografische und -ökonomische

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Odds Ratio (OR), 95 %-Konfidenzintervall (95 %Cl), Freiheitsgrade (df), Referenzkategorie: a = Männer, b = zweite Generation, c = Ja-Antwort, d = Nein-Antwort. In Modell 2 mit den Variablen Schulbildung, Berufsausbildung und Tätigkeitsbereich wurde zur Senkung des Multikollinaritätsproblems a priori das Vorwärts-Schrittweise-Verfahren (Wald) eingestellt. Der Logit-Koeffizient des Prädiktors Schulbildung besitzt in allen Modellen ein negatives Vorzeichen. Die Wald-Statistik (nicht abgebildet) ist auf *p ≤ 0,05-Niveau signifikant.

Originalarbeit

Merkmale als Risikofaktoren für eine Depression bei Migranten untersucht [5, 8 – 11]. In dieser Untersuchung konnten wir zwei gemeinsame Risikofaktoren für eine klinische Depressivität nachweisen. Migranten mit geringer Schulbildung haben ein höheres Depressivitätsrisiko. Dieses Ergebnis befindet sich damit im Einklang mit den Ergebnissen einer internationalen Studie in über 22 Ländern, die auch gezeigt hat, dass eine geringe Schulbildung mit einem erhöhten Depressivitätsrisiko einhergeht [30]. Migranten, die angaben, sich in Deutschland zu Hause zu fühlen, weisen in unserer Untersuchung ein geringeres Risiko für Depressivität auf. Untersuchungen zufolge wirken sich Ablehnungsund Diskriminierungserfahrungen negativ auf die psychische Gesundheit von Migranten aus z. B. [10, 13, 14] mit der Folge einer erhöhten Prävalenz für Depressivität. Unlängst konnte in einer deutschsprachigen Studie der Zusammenhang von wahrgenommener Diskriminierung und Depressivität bei türkisch- und polnischstämmigen Migranten überzeugend nachgewiesen werden [34]. In dieser Untersuchung wurden keine Ablehnungs- und Diskriminierungserfahrungen erfragt, jedoch sehen wir dieses Ergebnis insofern in Übereinstimmung mit den Befunden, als Menschen mit Ablehnungserfahrungen sich in der Aufnahmekultur wahrscheinlich nicht zu Hause fühlen. Bisher wurden Geschlechterunterschiede hinsichtlich potenzieller Risikofaktoren für eine Depression bei Migranten in der von uns gesichteten „Depressions-Literatur“ nicht untersucht. In diesem Zusammenhang bleibt uns der Hinweis auf einige deutschsprachige Studien zum erhöhten Suizidrisiko junger Türkinnen [31, 35, 36]. Junge türkischstämmige Frauen weisen ein erhöhtes Suizidrisiko im Vergleich zu ihren gleichaltrigen deutschen Geschlechtsgenossinnen und gleichaltrigen türkischstämmigen Männern auf [31, 35]. Eine weitergehende Studie [36] konnte altersabhängige Risikofaktoren und Beweggründe für suizidale Krisen junger, türkischstämmiger Frauen aufdecken, die u. a. mit empfundenen Akkulturationsdissonanzen, fehlender Selbstbestimmung und familiären Problemen zusammenhängen. In dieser Untersuchung konnten wir Hinweise dafür finden, dass Migrantinnen der zweiten Generation ein im Vergleich zu männlichen Migranten der zweiten Generation erhöhtes Depressivitätsrisiko besitzen, wenn sie subjektiv enge Beziehungen zu ihrer Heimatkultur haben. Möglicherweise deuten vor dem Hintergrund der Studien zum Suizidrisiko junger Migrantinnen „enge Beziehungen zu der Heimatkultur“ auf (transkulturelle) Konflikte im Akkulturationsprozess hin. Beispielsweise könnte eine stärkere Orientierung hin zur Heimatkultur für die Migrantinnen eher zu Rollenkonflikten im Zusammenhang mit der Akkulturation führen, etwa als Hindernis bei dem Bestreben nach einer Integration oder Assimilation an kulturelle Bedingungen der Aufnahmegesellschaft oder durch stärkere intergenerationelle Konflikte. Ob allerdings tatsächlich (transkulturelle) Konflikte im Akkulturationsprozess in den engen Beziehungen zur Heimatkultur zum Ausdruck kommen, bleibt in dieser Untersuchung unbeantwortet, da keine differenzierte Analyse der Akkulturationsstile vorgenommen wurde. Dazu scheinbar kontrastierend ist ein weiterer Befund unserer Untersuchung, dass die männlichen Migranten erster Generation ein erhöhtes Depressionsrisiko besitzen, wenn sie eben keine engen Beziehungen zur Heimatkultur angeben, im Vergleich zu männlichen Migranten der ersten Generation mit engen Beziehungen zur Heimatkultur. Dieses Ergebnis könnte auf mögliche Akkulturationsphänomene hinweisen, die mit der sozialen Identität, Entwurzelungserleben und/oder mit einer negativen Bilanzierung der Migration zusammenhängen. Eine differenziertere

Interpretation ist allerdings mangels einer weiter verfolgten Analyse der Akkulturationsstile spekulativ. Das Ergebnis verdeutlich jedoch, dass die Untersuchung von Risikofaktoren für Depressivität sinnvollerweise nach Migrantengenerationen getrennt erfolgen sollte, weil mit dem Generationsstatus unterschiedliche Belastungen verbunden sein könnten.

Limitationen der Studie und Konsequenzen für die Praxis !

Diese Untersuchung weist einige nennenswerte Einschränkungen auf. Zunächst ist die Stichprobe nicht bevölkerungsrepräsentativ, weshalb die Ergebnisse nicht direkt auf die Allgemeinbevölkerung und andere Migrantengruppen übertragbar sind. Zudem beruhen die als depressiv eingestuften Fälle dieser Untersuchung lediglich auf einem Selbstbeurteilungsinstrument mit einem Cutoff-Wert (ADS-L), der keine operationalisierte Diagnosestellung ersetzen kann. Ferner erlauben die erhobenen Daten keine differenzierte Auswertung unterschiedlicher Migrantengruppen nach Herkunft oder ethnischer Zugehörigkeit. Außerdem stellen die erfassten einfachen Akkulturationsmerkmale dieser Untersuchung keine operationalisierten Konstrukte dar und bieten daher einen erheblichen Interpretationsspielraum. Wünschenswert wäre, in zukünftigen Untersuchungen validierte Akkulturationsskalen zu verwenden. Zusammenfassend erlauben die Ergebnisse der vorliegenden Untersuchung keine Rückschlüsse auf ursächliche Zusammenhänge der untersuchten Variablen und sind aufgrund der methodischen Limitationen eines Querschnittsdesigns eher als hypothesengenerierend für zukünftige Längsschnittuntersuchungen an repräsentativen Stichproben anzusehen. Bei der Betrachtung von Häufigkeiten und Risikofaktoren von Depressivität bei Menschen mit einem Migrationshintergrund wird eine geschlechts- und generationsspezifische Perspektive häufig unterschätzt. Dabei würde eine geschlechtssensible Migrationsforschung ermöglichen, die diagnostische und therapeutische Qualität der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migranten zu erhöhen. Die Behandlung von Migranten könnte durch eine präzise Analyse und differenzierte Betrachtung von geschlechts- und generationsspezifischen Aspekten in Richtung eines „need adapted treatment“ u. U. verbessert werden.

Take Home Message Eine geschlechtssensible Migrationsforschung ermöglicht es, die diagnostische und therapeutische Qualität der psychiatrisch-psychotherapeutischen Versorgung von Migranten zu erhöhen. Hinweis: Dieser Beitrag wurde gemäß Erratum vom 11. 3. 2015 korrigiert. Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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Originalarbeit

[Gender-specific differences relating to depressiveness in 1st and 2nd generation migrants: results of a cross-sectional study amongst employees of a university hospital].

This study analysed the risk of depression in men and women with a background of immigration by means of a cross-sectional study amongst employees of ...
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