Leitthema Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:1022–1030 DOI 10.1007/s00103-014-2011-7 Online publiziert: 17. Juli 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

A. Kautzky-Willer Endokrinologie und Stoffwechsel, Gender Medicine Unit, Universitätsklinik für Innere Medizin III, Medizinische Universität Wien, Wien

Gendermedizin Geschlechtsspezifische Aspekte in der klinischen Medizin

Hintergrund Die „One-size-fits-all“-Theorie in der Medizin ist überholt, Gendermedizin ist der Brückenschlag zur und integrativer Bestandteil der personalisierten Medizin der Zukunft [1]. Gendermedizin ist eine spannende Herausforderung der modernen interdisziplinären Medizin, die ausgehend von der Frauenrechtsbewegung und Frauengesundheitsforschung in den USA in den 1980er-Jahren mittlerweile weltweit nicht nur einen wichtigen Platz in der Wissenschaft aller medizinischer Fachbereiche einnimmt, sondern auch zunehmend in der klinischen Praxis zur Verbesserung der Männer- und Frauengesundheit umgesetzt wird. Selbst wenn in der personalisierten Medizin die genetische Prädisposition, die Ethnizität, das Alter, Lebensstilfaktoren und verschiedene biologische Risikomarker berücksichtigt werden, wird das biologische und soziale Geschlecht weiterhin als unabhängige Einflussgröße zu beachten sein. Nicht nur das mit bestimmten genetischen Varianten assoziierte Krankheitsrisiko, verschiedene Genexpressionsmuster und epigenetische Modifikationen sind mitunter geschlechtsabhängig, sondern auch der Einfluss von Umweltfaktoren sowie die Empfindlichkeit gegenüber verschiedenen Stressoren. Ziel des vorliegenden Beitrages ist eine Einführung in die Wissenschaft und Querschnittsmaterie der Gendermedizin und in die Dimensionen von Geschlecht in Bezug auf Prävention, Diagnose und Behandlung ausgewählter häufiger Krankheiten. Anhand von Beispielen wird erläutert, warum der Faktor Ge-

schlecht in der Humanmedizin sowohl biologisch als auch psychosozial wichtig ist und wo die Zuordnung von Geschlecht in „Sex“ und „Gender“ in der Medizin problematisch sein kann.

Sex und Gender Der deutsche Begriff „Geschlecht“ umfasst sowohl biologische als auch psychosoziale Komponenten. Um auch im Deutschen eine einfache Unterscheidung zwischen diesen beiden Komponenten treffen zu können, wurden die englischen Begriffe „Sex“, für die biologischen Faktoren und „Gender“ für die psychosozialen Faktoren übernommen. „Gender-Medicine“ steht international in der Medizin aber für „Sex- and Gender-specific Medicine“ und hat sich somit als vereinfachter Überbegriff etabliert, der zu Missverständnissen führen kann. Genau genommen müsste die Wissenschaft Gendermedizin „Sexund Gendermedizin“ oder „Geschlechtsspezifische Medizin“ genannt werden, da es in der Humanmedizin nicht nur um die sozialwissenschaftliche Betrachtung – wie tatsächlich im Fokus der Gender Studies – geht, sondern um psychosoziale Faktoren unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Biologie, Physiologie und Pathophysiologie. Es geht nicht um feministische Ideologie oder antiemanzipatorische Projekte, wie jene meinen, die biologische Unterschiede negieren und alles nur als sozial konstruiert erklären. Die amerikanische Kardiologin Marianne J. Legato, Begründerin der Gendermedizin, beschrieb diese 1997 folgendermaßen: „the science of how normal human biology differs between men and women, and of

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how the manifestations, mechanisms and treatment of disease vary as a function of gender“ [2], also als die Wissenschaft, die erforscht, wie sich die Biologie zwischen Männern und Frauen unterscheidet und wie das Erscheinungsbild, die Entstehung und die Behandlung von Erkrankungen aufgrund des sozialen Geschlechts variieren. Tatsächlich ist bei der sachlich objektiven Diskussion geschlechtsspezifischer Unterschiede der Einfluss von Biologie, also von Genen, Geschlechtschromosomen, Hormonen, Körperzusammensetzung und Stoffwechselprozessen, und der von (erlerntem) Verhalten, der Verteilung von Bildung und Macht und vom Einfluss von Umweltfaktoren im gesamten Lebenszyklus kaum zu trennen (. Abb. 1). Dort, wo die klare Dominanz von biologischen oder psychosozialen Faktoren auf ein gesundheitliches Problem gegeben ist, kann eindeutig von Sex oder Gender gesprochen werden; meist ist das aber nicht klar oder unerforscht, und oft wird in solchen Fällen dann auch Gender als Überbegriff verwendet [3, 4]. Biologie und Umwelt beeinflussen sich bei Männern sowie Frauen tatsächlich lebenslang wechselseitig. So ergeben sich körperliche Unterschiede auch als Konsequenz lang anhaltender Anpassungsvorgänge an Umwelteffekte und soziale Rollen. Die Epigenetik zeigt, wie Umwelt und Verhalten auch physiologische Veränderungen bewirken und das Krankheitsrisiko sogar in der nächsten Generation modifizieren können. Gendermedizin setzt sich damit auseinander, wie sich normale körperliche Funktionen sowie das Erleben von Krankheiten bei Männern und Frau-

Abb. 1 8 Schematische Darstellung des lebenslangen komplexen Zusammenspiels von biologischen und psychosozialen Faktoren sowie die daraus resultierenden Auswirkungen auf die seelische und körperliche Gesundheit. Biologische (Sex) und psychosoziale (Gender) Faktoren beeinflussen das Gesundheitsverhalten und den Alterungsprozess sowie das Risiko für bestimmte Krankheiten und die Lebenserwartung geschlechtsabhängig. Ernährung, Bewegung und Lebensstil spielen während des gesamten Lebens in der Prävention ebenso wie bei der Entstehung und im Verlauf von Krankheiten sowie im Alterungsprozess eine große Rolle. Epigenetische Modifikationen in vulnerablen Lebensphasen belegen den Effekt von Umweltfaktoren auf körperliche Funktionen mit langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen, die auch auf die nächste Generation weitergegeben werden können [5]. Durch fetale Programmierung kann die Gesundheit der Nachkommen schon in utero nachhaltig geschlechtsdimorph geprägt werden

en unterscheiden [6]. Sie untersucht die einzigartigen Aspekte der männlichen und weiblichen Biologie im Lebenszyklus und reflektiert gleichzeitig auch das zugrunde liegende Kultur- und Gesellschaftsbild. In den USA wird Gendermedizin klinisch eher als Strategie zur Verbesserung und umfassenden Betrachtung der Frauengesundheit gelebt und wurde in Exzellenzzentren für Women’s Health NIH-gestützt umgesetzt [7]. Im Sinne der Gendermedizin geht Frauengesundheit weit über Unterschiede in den Geschlechtsorganen und über Reproduktion hinaus, sie betrifft biologische und psychosoziale Einflüsse über den gesamten Lebenszyklus der Frauen. Tatsächlich sind Frauen stärkeren körperlichen und mit den verschiedenen Lebensabschnitten einhergehenden seelischen Veränderungen unterworfen – zyklusabhängig von der Pubertät bis zur Menopause einschließlich möglicher Schwangerschaften bis schließlich zur Postmenopause. Diese gehen mit einem deutlichen Risikoanstieg für viele Erkrankungen einher, und im Alter leiden Frauen unter mehr funktionellen Einschränkungen [8], Behinderungen und neurodegenerativen Veränderungen. Dabei kommen auch gesellschaftliche und kulturelle Einflüsse sowie

Gender-Stereotypien und eine lebensstilund berufsbedingte Exposition gegenüber bestimmten Umwelteinflüssen zum Tragen. Bei Männern sind die hormonellen und körperlichen Veränderungen im Lebenslauf geringer, dennoch haben sie im Mittel eine kürzere Lebenserwartung als Frauen. Das liegt einerseits am „maskulinen“, risikoreichen Lebensstil mit einer höheren Rate an Unfällen und Selbstmorden und einer höheren Rate an Erkrankungen, die durch Rauchen und Alkoholmissbrauch bedingt sind, zum anderen aber auch an biologischen Unterschieden [9]. Tatsächlich gibt es aber nicht nur ein dichotomes „Zweigeschlechter-Modell (Heteronormativität)“, sondern eine größere Variabilität und Menschen mit Varianten der Geschlechtsdifferenzierung (engl. Disorders of Sex Development, DSD; auch Intersexualität) und Geschlechtsinkongruenz bzw. -dysphorie (bisher Transsexualität). Die komplexen Themen „Intersexualität“ und „Transsexualität“ können in diesem Kapitel nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden; es wird aber auf dasBundesgesundheitsblatt 2013 mit 2 Schwerpunktheften zum Thema „Sexuelle und reproduktive Gesundheit“ hingewiesen, die diese

wichtigen Bereiche ausführlich behandeln. Intergeschlechtliche Menschen sind genetisch, gonadal, anatomisch oder hormonell nicht einem Geschlecht zugehörig [10, 11]. Das Management von Intersexualität ist sehr komplex und bedarf eines multidisziplinären beratenden Teams, wobei auch die persönliche Gender-Identität, die sexuelle Orientierung und psychologische Aspekte berücksichtigt werden müssen. Körperliche geschlechtliche Zwangszuweisungen im Kindesalter sind jedenfalls kritisch zu hinterfragen. Die psychischen und körperlichen, durch eine Geschlechtsumwandlung entstehenden Probleme einer nicht zum körperlichen Geschlecht passenden Geschlechtsselbstidentifikation bei Transgender/Transsexualität zeigt zusätzlich die Komplexität von biologischem Geschlecht, psychoemotionalem Geschlecht, Geschlechterrollen und Lebensqualität [12]. 1949 gab es von Simone de Beauvoir das bekannte Statement „On ne nait pas femme, on le devient“ [13]. Im heutigen Diskurs würde ich sagen „Man/frau wird männlich oder weiblich geboren und im Laufe des Lebens entsprechend der individuellen Lebenssituation, Umwelt und Gesellschaft maskulin oder feminin geprägt, mit fließenden Übergängen und komplexen Wechselwirkungen.“

Biologische Einflussfaktoren Gene und Chromosomen Das genetische Geschlecht eines Menschen wird von den Geschlechtschromosomen bestimmt. Alle weiblichen Körperzellen enthalten 2 X-Chromosomen, alle männlichen 1 X- und 1 Y-Chromosom. Auf dem Y-Chromosom sind nur wenige Gene (ca. 75) lokalisiert [14]. Damit sind weit weniger als 1 % geschlechtsspezifische Variationen in Protein-kodierenden Genen anzunehmen, jedoch sind komplexe, funktionell relevante Variationen im Genom von Männern und Frauen wesentlich bedeutsamer, wie Unterschiede in genomischen Expressions- und Methylierungsmustern bestätigen [15]. Das X- und das Y-Chromosom haben sich ur­ sprünglich (vor rund 300 Mio. Jahren) aus einem autosomalen Chromosomenpaar entwickelt, das miteinander rekom-

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Zusammenfassung · Abstract Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:1022–1030  DOI 10.1007/s00103-014-2011-7 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 A. Kautzky-Willer

Gendermedizin. Geschlechtsspezifische Aspekte in der klinischen Medizin Zusammenfassung Gendermedizin berücksichtigt individuell und altersabhängig das biologische und psychosoziale Geschlecht und stellt einen Brückenschlag zur personalisierten Medizin dar. Die Gendermedizin untersucht Unterschiede und Gemeinsamkeiten in der Präventi­ on, Wahrnehmung und Präsentation von Krankheiten sowie im Therapieerfolg zwischen beiden Geschlechtern (geschlechtsspezifische Medizin). Dabei sind neben genetischen Unterschieden, Unterschieden bei den Geschlechtschromosomen, Hormonen und im Stoffwechsel auch die Umwelt, Kultur und gesellschaftliche Einflüsse maßgeblich. Außerdem findet lebenslang eine fortlaufende Wechselwirkung zwischen körperlichen und psychosozialen Faktoren statt, die das Wohlbefinden bestimmen. Epigenetische Modifikationen belegen den Effekt von Umweltfaktoren auf körperliche Funktionen mit

langfristigen gesundheitlichen Auswirkungen. Durch fetale Programmierung kann die Gesundheit der Nachkommen schon in utero geschlechtsabhängig geprägt werden. Schmerzempfinden und Stressantworten un­ terscheiden sich meist deutlich zwischen den Geschlechtern. Insgesamt sind Frauen im Lebenszyklus stärkeren körperlichen Veränderungen unterworfen, die mit unterschiedli­ chen gesellschaftlichen Rollen und seelischen Belastungen einhergehen. Frauen entwickeln häufiger Depressionen und funktionelle Einschränkungen. Bei Männern werden „weiblich konnotierte Erkrankungen“ wie Depressi­ onen und Osteoporose weniger oft erkannt. Deutliche Geschlechterunterschiede finden sich in der Medizin bei Veränderungen des Immunsystems und bei chronischen Krankheiten wie Übergewicht, Typ-2-Diabetes, Hy­ pertonie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen.

Frauen manifestieren häufiger Autoimmu­ nerkrankungen und Schmerzsyndrome so­ wie im Alter neurodegenerative Veränderun­ gen. Männer haben eine kürzere Lebenser­ wartung, weisen aber gleichzeitig anteilmäßig mehr gesunde Lebensjahre auf. Letzteres dürfte zu einem größeren Teil auf psychosoziale und weniger auf biologische Unterschiede zurückzuführen sein, was auch gesundheitspolitische Maßnahmen impliziert. Eine moderne klinische Medizin berücksichtigt individuelle Risikofaktoren auf Basis von geschlechtssensitiven Gesundheitskonzepten mit dem Ziel einer besseren Lebensqualität von Mann und Frau. Schlüsselwörter Geschlecht · Gender · Umwelt · Epigenetik · Biologie

Gender medicine. Sex- and gender-specific aspects of clinical medicine Abstract Gender medicine studies sex- and genderbased differences in the development and prevention of diseases, the awareness and presentation of symptoms, and the effectiveness of therapy. Gender medicine is part of personalized medicine, considering differences in biological and psychosocial factors individually. There are differences in genes, chromosomes, hormones, and metabolism as well as differences in culture, environment, and society. Lifelong interactions between physical and psychosocial factors will influence the health and ill-health of men and women in different ways. Epigenetic modifications provide evidence of the impact of environment and lifestyle during vulnerable phases on biological processes, effecting future generations. Maternal lifestyle and environmen-

binierte und Gene austauschte. Mittlerweile enthält das menschliche Y-Chromo­ som in seiner sog. male-specific region of Y chromosome (MSY) aber nur noch ei­ nen ganz geringen Anteil der ursprünglichen autosomalen Gene. Der Genverlust im MSY über die letzten 25 Mio. Jahren ist auf das jüngste Stratum beschränkt, das nur 3 % des humanen MSY ausmacht und die höchste Ähnlichkeit in der X-Y-Nukleotidsequenz aufweist [16]. In der MSY

tal factors during pregnancy can impact the health of offspring in later life already in utero in a sex-specific way. Pain, stress, and coping styles differ between men and women. Women experience more dramatic physical changes during their lifetime, which are associated with specific burdens and psychosocial alterations. Women with multiple roles and responsibilities suffering from stress develop depression more frequently. However, men are often not diagnosed and treated appropriately in cases of depression or osteoporosis, diseases that are typically considered “female”. There are prominent differences between men and women in medicine regarding the immune system, inflammation, and noncommunicable diseases such as obesity, type 2 diabetes, hypertension, and cardiovas-

liegen nicht nur Gene für die Sexualfunktion, sondern – wie neue Untersuchun­ gen zeigten – auch wichtige genetische Informationen, die im Zusammenhang mit der Entstehung der koronaren Herzkrankheit (KHK) stehen [17]. Das Vorliegen der Haplogruppe I, einer der häufigsten Y-Chromosomtypen in Europa, ist – unabhängig von klassischen kardiovaskulären und sozioökonomischen Risikofaktoren – beim Mann mit einem erhöhten

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cular disease. Women experience more often autoimmune diseases and suffer more frequently from (chronic) pain, neurodegenerative changes, and functional disabilities. Men have shorter life expectancy but relatively more healthy years of life, which is in greater part ascribed to psychosocial determinants. State-of-the-art clinical medicine comprises individual risk factors based on sex- and gender-sensitive health programs in order to improve the health-related quality of life for men and women. Keywords Sex · Gender · Environment · Epigenetics · Biology

Risiko für das Auftreten einer KHK assoziiert. Dabei zeigten sich auch Koppelungen mit Genen, die mit der Upregulation von Inflammation und der Downregulation adaptiver Immunmechanismen in Beziehung stehen. Das Risiko für KHK könnte somit über veränderte Immunund Entzündungsreaktionen väterlicherseits an Söhne weitervererbt werden. Bisher haben jedenfalls nur wenige (ca. 10–20 %) der genetischen, epidemiologi-

schen Studien geschlechtsspezifische Aspekte in ihrem Design oder in der Analyse (Stratifikation nach Geschlecht oder Tests auf Gen-Sex-Interaktion) berücksichtigt, am häufigsten wurde auf das Geschlecht korrigiert (ca. 50 % der Untersuchungen, die Männern und Frauen inkludierten) [14].

Hormone Zweifelsfrei spielen Hormone, insbesondere die Steroidhormone, eine große Rolle für die geschlechtsspezifische und altersabhängige Prädisposition für bestimmte Krankheiten. Dabei sind sowohl die Sexualhormonspiegel selbst als auch die Verteilung und Empfindlichkeit ihrer Rezeptoren an den verschiedenen Organen (außer den klassischen Zielorganen, d. h. den Geschlechtsorganen), d. h. an den Gefäßen, dem Herzen, Immunsystem, den Nieren, der Leber und dem Gehirn wesentlich. So vermitteln Östrogen-α-Rezeptoren (ERα) günstige Effekte auf den Glukosestoffwechsel und antilipolytische Effekte im subkutanen Fettgewebe. Östrogenrezeptoren spielen auch bei der Entstehung der Herzinsuffizienz und Myokardhypertrophie eine Rolle. ERβ könnte hierbei günstige Effekte bei Anpassungsreaktionen an eine Druckbelastung des Herzens bei Männern und Frauen vermitteln [18]. Testosteron selbst wirkt Östrogen-unabhängig auf den Myokardstoffwechsel und stimuliert das Wachstum. Selektive Rezeptormodulatoren könnten daher zukünftig eine wichtige Rolle zur Therapie verschiedener Erkrankungen bzw. für deren Prävention spielen. Östrogene vermitteln ihre Wirkungen sowohl über genomische als auch nichtgenomische Signalwege. Zu Ersteren zählen durch ERα-vermittelte Effekte an Endothelzellen und glatten Gefäßwandmuskelzellen sowie Effekte auf Gene, die für die Steuerung des Gerinnungs- und des Renin-Angiotensin-Systems wichtig sind. So bewirken Östrogene günstige hämodynamische Effekte, wirken vasodilatatorisch, steigern die NOProduktion, wirken antiinflammatorisch, antioxidativ und insgesamt antiatherogen. Auch Geschlechterunterschiede im Risiko für Krankheiten wie Atherosklerose, Osteoporose, Hypertonie, Kardiomyopathie, Nieren- und Leberfunktionsstörun-

gen im Lebensverlauf werden durch Sexualhormonunterschiede und deren Veränderungen bedingt. Durch Sexualhormone beeinflusst wird zudem die oft beschriebene unterschiedliche Schmerzempfindlichkeit von Frauen und Männern, wobei aber auch gerade hier kulturelle Einflüsse und Gender-Stereotypien mitspielen. Frauen leiden öfter an unterschiedlichsten Schmerzsyndromen wie Fibromyalgie, Migräne, Reizdarmsyndrom und Rückenschmerzen sowie an einer Chronifizierung der Schmerzen. Weiterhin sind wesentliche Effekte von Sexualhormonen und Schwangerschaften auf das Immunsystem beschrieben. Diese Effekte dienen auch als Erklärung dafür, dass Frauen ab der Pubertät wesentlich häufiger von Autoimmunerkrankungen betroffen sind als Männer. Eine diesbezügliche Ausnahme bildet nur der Typ1-Diabetes. Bei ihm tritt ein Wechsel in der Geschlechter-Ratio zum Zeitpunkt der Pubertät ein: Ab der Adoleszenz sind Männer häufiger betroffen, insgesamt ist das Geschlechterverhältnis aber ausgeglichen. Umgekehrt verhält es sich beim Asthma: Hieran erkranken Jungen bis zur Pubertät häufiger, danach sind Frauen stärker betroffen und gerade in der Adoleszenz öfter unterversorgt [19]. Generell scheinen Östrogenrezeptoren im subkutanen Fettgewebe, Androgenrezeptoren im viszeralen Fettgewebe eine größere Rolle zu spielen. So tragen die Sexualhormonspiegel auch zur geschlechtsdimorphen Körperfettverteilung und zum unterschiedlichen Risiko für kardiometabolische Erkrankungen bei. Männer haben mehr viszerales Fett und mehr Leberfett als Frauen vergleichbaren Alters und gleicher Gewichtsklasse, die wiederum mehr subkutanes Fett aufweisen. Untersuchungen bei gesunden Männern zeigten, dass die Aromatisierung von Testosteron zu Östrogen eine günstige Körperfettverteilung und Gewichtsregulierung bedingt, während das Testosteron selbst (unabhängig von Östrogen) für eine Zunahme der Muskelmasse und Muskelkraft verantwortlich zeichnet [20]. Bei beiden Geschlechtern sind die altersabhängige Balance und das Zusammenspiel beider, d. h. männlicher und weiblicher Geschlechtshormone für die Aufrechterhaltung der Gesundheit wesentlich.

Aber selbst mit Blick auf die Hormone ist die Frage: „Sex versus Gender“ komplex. Auch Hormonregelkreise unterliegen der Beeinflussung durch die Psyche, durch Stress- und Umweltfaktoren. Und wie hormonelle Auswirkungen subjektiv wahrgenommen werden, ob beispielsweise ein Leidensdruck entsteht, ist individuell sehr unterschiedlich. So zeigen sich z. B. Kultur- und Familien-abhängig in der Menopause beträchtliche Unterschiede hinsichtlich körperlicher Beschwerden und depressiver Verstimmungen [21].

Psychosoziale Einflussfaktoren Lebensstil Das höhere Krebsrisiko und die kürzere Lebenserwartung von Männern werden auf einen ungesünderen Lebensstil, auf vermehrtes Rauchen und höheren Alkoholkonsum, aber zum Teil auch auf unterschiedliche Berufstätigkeiten und Belastungen am Arbeitsplatz zurückgeführt. Allerdings zeigt sich diesbezüglich in vielen Ländern bei jüngeren Generationen ein Wandel: In Österreich rauchen bereits mehr Mädchen als Jungen, auch steigt die Alkoholabhängigkeit bei Frauen in vielen europäischen Ländern deutlich an. Neben der Angleichung im Lebensstil trägt auch die zunehmende Diversifizierung der Berufstätigkeit von Frauen zur Veränderung der geschlechtsspezifischen Krankheitsmuster mit Angleichung der Risiken bei.

Rauchen

Rauchen ist bei Frauen mit einem um 25 % höheren Risiko für Herzinfarkte und einem höheren Risiko für COPD, Lungen- und Blasenkrebs als bei Männern assoziiert [22–25]. Außerdem korreliert Rauchen mit einem früheren Eintritt der Menopause, einem höheren Osteoporoserisiko sowie mit Schwangerschaftskomplikationen. Frauen rauchen nicht nur aus anderen Gründen als Männer, nämlich häufiger bei Stress und psychischen Problemen, sie sind auch häufiger Passivrauchen ausgesetzt, bevorzugen andere Zigarettenmarken (Light-Produkte) und rauchen auch öfter zur Gewichtskontrolle. Außerdem reagieren sie auf Nikotin und Rauchinhaltsstoffe biologisch vulnerabler

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Leitthema als Männer. So treten bei Frauen schwere COPD-Verläufe früher und bei geringerer kumulativer Exposition und nach weniger pack-years auf als bei Männern [26]. Die erhöhte weibliche Tabaksuszeptibilität könnte auch auf die kleineren Atemwege, eine stärkere bronchiale Hyperreaktivität und unterschiedliche Inhalationsformen zurückzuführen sein. Auch wurden bei Frauen im Zyklus variierende Empfindlichkeiten gegenüber Nikotineffekten beschrieben. Diese Befunde legen nahe, dass die Vulnerabilität in der lutealen Phase geringer ist und eine Entwöhnung dann möglicherweise leichter fällt [27]. Geschlechtsspezifische Unterschiede im Suchtverhalten könnten zudem dadurch verstärkt sein, dass bei Männern generell ein stärkerer Zusammenhang zwischen Rauchen und der empfundenen negativen gesundheitsbezogenen Lebensqualität besteht. Dieser ist bei ihnen schon ab einer geringeren täglichen Zigarettenexposition nachweisbar (bei Männern ab 5 Zigaretten, bei Frauen ab 20 Zigaretten) [28]. Raucherentwöhnungsprogramme sollten daher geschlechtsspezifisch angeboten werden. Aber nicht nur das Rauchen, auch die Feinstaubbelastung könnte für Frauen noch schädlicher sein als für Männer, jedenfalls profitieren sie stärker von einem Rückgang der Luftverschmutzung [29].

Ernährung und Bewegung

Deutliche, die Gesundheit stark beeinflussende Unterschiede zwischen Männern und Frauen zeigen sich auch im Essund Bewegungsverhalten. Während sich Frauen gesünder ernähren (mehr Obst und Gemüse, weniger Fleisch), sind Männer von klein auf zu einem höheren Prozentsatz körperlich aktiv und betreiben mehr Ausdauer- und vor allem Krafttraining [30]. Dabei profitieren Frauen von mehr Bewegung in der Freizeit mit einer besonders großen Verringerung ihres Herzinfarkt- aber auch ihres Osteoporoserisikos [31]. Gender-Unterschiede im Essverhalten sind teils im größeren Wunsch der Frauen nach Gewichtskontrolle bzw. Kalorienreduktion, andererseits in ihrem stärker ausgeprägten Gesundheitsbewusstsein begründet [32]. Das wird in der Nahrungsmittelindustrie („Gender-

Food“) im Marketing (aus)genützt. In Gesundheitskonzepten für Frauen muss Bewegung und Freude am Sport zukünftig einen größeren Stellenwert erhalten, bei Männern sollte hingegen auch die gesunde Ernährung besser in gesundheitsfördernde Maßnahmen integriert werden [30].

derung und auch seelische Konsequenzen. So ist Stress mit einem höheren Risiko verbunden, chronische Erkrankungen wie Adipositas, Typ-2-Diabetes, Depressionen und kardiovaskuläre Erkrankungen zu entwickeln. Diese Zusammenhänge scheinen bei Frauen stärker zu sein als bei Männern [39–41].

Stress

Umwelt und Epigenetik

Männer und Frauen unterscheiden sich auch hinsichtlich ihrer Resilienzfaktoren und mit Blick auf körperliche und seelische Veränderungen bei Stress. Psychosozialer Stress kann das Risiko für kardiovaskuläre Erkrankungen bei beiden Geschlechtern erhöhen. Dabei ist bei Männern der chronische Stress im Beruf, bei Frauen der chronische, nicht direkt arbeitsbezogene Alltagsstress mit einem höheren KHK-Risiko assoziiert [33]. Pflegetätigkeit ist bei Frauen häufig mit einer hohen Rate an Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden [34], und nach wie vor wird der Großteil der bezahlten und unbezahlten Pflegetätigkeit von Frauen erbracht. Während bei Männern der Stresshormonspiegel nach der Arbeit abfällt, steigt er bei Frauen zu Hause häufig durch Stress im Familienalltag noch weiter an [35,36]. Frauen mit Doppelbelastung sind stressanfälliger und haben mehr innere Konflikte als berufstätige Männer mit Familie, die oft auf die Karriere fokussiert bzw. weniger mit Familienaufgaben belastet sind [37]. Besonders von Stress betroffen sind Alleinerziehende mit niedrigem Sozialstatus, was häufiger auf Frauen als auf Männer zutrifft. Bei PatientInnen mit Morbus Crohn wurde untersucht, welche Faktoren ihr Wohlbefinden und ihre Gesundheit am meisten beeinflussen. Von beiden Geschlechtern wurden soziale Unterstützung, Zufriedenheit im Beruf und ein ausgeglichenes Verhältnis zwischen Arbeit und Freizeit am häufigsten angegeben. Partizipation scheint für Männer bedeutsamer, Wertschätzung und Resilienz hingegen für Frauen [38]. Nach einer längerfristigen, vermehrten Ausschüttung von Stresshormonen wie Cortisol und Adrenalin resultieren viele mit einer Insulinresistenz einhergehende ungünstige körperliche Verän-

Aktuelle Untersuchungen zeigen den Einfluss von Umwelttoxinen als sog. endokrine Disruptoren bei beiden Geschlechtern. Hier können sowohl mit Blick auf die auslösenden Situationen als auch auf die Vulnerabilität Unterschiede zwischen Männern und Frauen angenommen werden. Die fetale Entwicklung, das kindliche Wachstum, der Pubertätsbeginn, neuroendokrine Prozesse und die Gewichtsentwicklung sowie das Risiko für kardiometabolische Erkrankungen können durch langlebige organische Schadstoffe (POPs), Bisphenol A (BPA), Pestizide und viele andere in Hygiene- und Haushaltsartikeln, Getränken und Nahrung enthaltene Substanzen ungünstig – und mit geschlechtsspezifischen Auswirkungen – beeinflusst werden [42]. So fand sich z. B. ein Zusammenhang zwischen der Exposition gegenüber Organochlor-Pestiziden und antiandrogenen Effekten bei Männern und östrogenartigen Wirkungen bei peri- und postmenopausalen Frauen [43]. Eine In-utero-Exposition gegenüber BPA beeinflusst die sexuelle Differenzierung und das Verhalten, wahrscheinlich über eine geschlechtsspezifische epigenetische Programmierung im Gehirn [44]. Zumindest im Mausmodell zeigten sich bei den Nachkommen dosisabhängig, Gehirnregion-spezifisch und geschlechtsabhängig Genexpressionsveränderungen: DNA-Methylierungs-Veränderungen am ERα standen bei männlichen Tieren mit Genexpressionsveränderungen im Kortex und bei weiblichen Tieren im Hypothalamus in Verbindung. Eine niedrige BPAExposition während der Schwangerschaft verursachte bei den Nachkommen persistierende Effekte auf das Sozialverhalten und eine Ängstlichkeit entgegen geschlechtsdimorpher Muster. Geschlechtsspezifische Veränderungen des Epigenoms könnten jedenfalls

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auch zur beobachteten unterschiedlichen Geschlechtsverteilung bei neurokognitiven Erkrankungen wie Autismus, ADHS oder Schizophrenie beitragen. Das Genom des sich entwickelnden Feten dürfte schon sehr früh – bereits bevor Sexualhormone einen Einfluss ausüben– von epigenetischen Veränderungen geschlechtssensitiv beeinflusst werden [45]. So zeigen Plazenten männlicher und weiblicher Feten unterschiedliche Anpassungsmechanismen und Wachstumsreaktionen auf Unter- oder Überernährung, Umweltfaktoren und mütterlichen Stress. Die Genexpressionsmuster in männlichen Plazentazellen deuten auf eine stärkere Ausprägung von Signalwegen, die mit Immunität, Entzündung und Transplantat-Wirt-Reaktion in Beziehung stehen [46]. Das gehäufte kombinierte Auftreten von Depression und Herzerkrankungen vor allem bei Frauen könnte in einem umweltinduzierten, mütterlichen Glukokortikoidexzess begründet sein, der sich in utero ungünstig auf die Entwicklung und Funktion der kindlichen Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenachse mit Veränderungen von Neurotransmittern und Wachstumsfaktoren und nachfolgenden Effekten auf die Stimmung, Stressregulation und Gefäßreaktionen insbesondere der weiblichen Nachkommen auswirkt [47]. Selbst bei Autoimmunerkrankungen ist ein Einfluss von Umweltfaktoren mit geschlechtsspezifischen Auswirkungen anzunehmen. So wurde in einer Metaanalyse bei Männern ein Zusammenhang zwischen dem Auftreten einer rheumatoiden Arthritis und berufsbedingter Silica-Exposition gezeigt, bei Frauen wurden Zusammenhänge zwischen systemischem Lupus erythematodes und Kosmetika, Haarfärbemittel oder Östrogenbehandlungen gefunden [48].

Wissenschaftliche Erkenntnisse und Hypothesen zu ausgewählten Themengebieten Lebenserwartungs-Lebensqualitäts-Geschlechter-Paradoxon Weltweit ist die Lebenserwartung der Frauen höher als die der Männer. Allerdings leiden Frauen unter mehr Komor-

biditäten und funktionellen Einschränkungen als Männer, und sie haben in vielen Ländern – einschließlich Österreich – weniger gesunde Lebensjahre. Im Jahr 2011 lag der Anteil der gesunden Lebensjahre in der EU bei Männern bei 61,6 von 76,7 Jahren (80 %), bei den Frauen bei 62,2 von 82,5 Jahren (75 %) [49]. In Befragungen geben Frauen konsistent eine schlechtere Lebensqualität an. Wenn auf psychosoziale Faktoren korrigiert wird, sind die Unterschiede aber deutlich geringer [50]. Biologische Unterschiede dürften nur einen geringen Überlebensvorteil ausmachen, der wahrscheinlich evolutionsbiologisch begründet ist. So könnte das bei Frauen doppelt vorliegende XChromosom – trotz der X-Inaktivierung – protektiv wirken, hinzu kommt, dass X-chromosomal vererbte Krankheiten hauptsächlich männliche Nachkommen treffen. Östrogen wirkt zudem antiatherogen und neuroprotektiv und vermittelt eine andere Immunkompetenz. Weiblichen Hormonen werden auch gewisse Anti-Aging-Effekte zugeschrieben und mit längeren Chromosomenenden (Telomeren), die mit einer längeren Lebensspanne assoziiert sind, in Verbindung gebracht. Bereits bei männlichen Feten zeigt sich eine höhere Abortrate und bei Jungen eine höhere perinatale Mortalität und Sterblichkeit im Kindesalter. Nach den Daten aus den bayrischen Klosterstudien (mit annähernd vergleichbarem Umfeld für Nonnen und Mönche) und aus anderen Analysen dürfte die Biologie nur für 1 bis 2 Jahre der längeren Lebenszeit bei Frauen verantwortlich sein, 4 bis 5 Jahre des geschlechtsspezifischen Mortalitätsunterschiedes sind Lebensstil-, Umweltund psychosozialen Faktoren zuzuschreiben [51]. Der Geschlechterunterschied in der Lebenserwartung nimmt allerdings in vielen Ländern aufgrund von Lebensstiltrends und zunehmender Berufsdiversifizierung ab. Zudem sind in den USA – obwohl dort die Sterblichkeit bei beiden Geschlechtern insgesamt abgenommen hat (− 9,8 % bei Männern und − 1,5 % bei Frauen) – die Mortalitätsraten der Frauen zwischen 1992 und 2006 in vielen Staaten (~ 40 %), die der Männer nur in einigen wenigen Staaten (

[Gender medicine. Sex- and gender-specific aspects of clinical medicine].

Gender medicine studies sex- and gender-based differences in the development and prevention of diseases, the awareness and presentation of symptoms, a...
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