Gutachten + Recht 41

Aus der Gutachtenpraxis: Iatrogene CIDislokation bei drei Fällen: Komplikation bei der Nachbehandlung oder Behandlungsfehler? From the Experts’ Office: Three Cases of Iatrogenic Dislocation of CI: Complications in the post-operativ Treatment or Medical Malpractice B. Didczuneit-Sandhop, T. Brusis



Hauptindikation für eine CI-Implantation ist die beiderseitige cochleäre Ertaubung. In den letzten Jahren ist das Indikationsspektrum jedoch erheblich erweitert worden. Immer häufiger wird eine (sequenzielle) beiderseitige Implantation vorgenommen. Auch bei einer an Taubheit grenzenden Schwerhörigkeit (Tonaudiogrammschwelle durchschnittlich > 70 dB, Einsilberverstehen < 30 %) kann eine CI-Implantation sinnvoll sein, insbesondere wenn eine Hörgeräteversorgung keinen ausreichenden Erfolg erbracht hat. Immer häufiger wird auch ein CI bei einseitiger Taubheit – und Normalhörigkeit der Gegenseite – eingesetzt [Michel, Brusis 2013]. Einen Sonderfall stellt die CI-Implantation nach entzündlichen Prozessen des Mittelohres dar, z. B. nach einer Cholestatomerkrankung und Radikaloperation. Dies betrifft ca. 5–8 % aller CI-Patienten. Wenn eine Radikaloperation durchgeführt wurde, sind aber die anatomischen Verhältnisse grundsätzlich so verändert, dass eine geschützte Lage der Elektrode im nun offenen Mastoid nicht mehr gewährleistet ist. Um die Elektrode von der Außenwelt abzuschotten, ist eine gleichzeitige intraoperative Abdeckung mit körpereigenen Materialien (Muskelgewebe, Bauchfett, Hautlappen, Knochenmehl usw.) zwingend erforderlich. Ideal ist die Radikalhöhlenverkleinerung mit Knorpel. Hier wird das Elektrodenkabel auf dem Boden der Radikalhöhle platziert und dann das Kabel gegenüber dem Gehörgang mit Knorpel bedeckt und geschützt. Eine weitere Möglichkeit ist der Blindverschluss des Gehörgangs oder die subtotale Petrosektomie mit Fettobliteration und ebenfalls Blindverschluss des Gehörgangs. Dennoch kann es nach Monaten oder Jahren zu einer Atrophie des aufliegenden schützenden Gewebes kommen, sodass die Elektrode schließlich in der Radikalhöhle freiliegt. Insbesondere kann ein Ka-

bel, welches nur von Haut bedeckt ist, bei über die Jahre einsetzender Atrophie und Ausdünnung der Haut penetrieren, sodass das Kabel nur von dünner Haut überzogen skelettiert in der Radikalhöhle liegt. Da eine Radikalhöhle bekanntlich regelmäßig vom Arzt gepflegt bzw. gereinigt werden muss, besteht in solchen Fällen das Risiko einer Beschädigung der Elektrode. Auch erfahrenen Behandlern kann dies passieren. Dies gilt insbesondere dann, wenn zum Reinigen der Radikalhöhle Greifinstrumente zur Entfernung von Krusten eingesetzt werden. ChongSun et al. (2008) berichten über 720 Fälle von CI-Implantationen und deren Komplikationen. Es wird über 2 Fälle referiert (0,3 %), bei denen die Elektrode in der Radikalhöhle frei lag, eine Mastoidobliteration und zusätzlich ein Elektrodenwechsel bei Implantatausfall erfolgte. Bei einer versehentlichen Entfernung muss das gesamte System ausgetauscht werden und es erfolgt die Reimplantation mit einem neuen System. Nach der Reimplantation muss das System neu eingestellt werden. Je nachdem, ob der Patient auch von einem Technologie-Upgrade betroffen ist und wie die Reimplantation und Platzierung der Elektrode gelingt, können unterschiedliche Höreindrücke auftreten, sodass auch hier hinterher ein weiteres Hörtraining im Einzelfall notwendig sein kann.

Fallberichte



Im Folgenden wird über 3 Patienten berichtet, bei denen die CI-Elektrode versehentlich vom nachbehandelnden Arzt ganz oder teilweise herausgezogen wurde. In allen Fällen wurde ein neues CI eingesetzt. Wegen der erheblichen Kosten hatte die jeweilige Krankenkasse den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) beauftragt, sie gutachterlich bezüglich Ersatzansprüchen zu beraten. Da-

Fall 1 Es handelte sich um einen 70 Jahre alten Patienten (H. Z.), der im Jahr 2005 ein CI erhielt. Nach 5 Jahren kam es bei der Säuberung der Radikalhöhle zu einer Dislokation. Dabei war es zu Schwindel, Hustenreiz, Tinnitus, Hörverlust und einer verzerrten Hörwahrnehmung gekommen. Die Reinigung mit Sauger und Zängelchen war durch eine Assistenzärztin in einer Klinik vorgenommen worden, in der keine CIs implantiert werden. Diese gab an, das Cochlear-Implant durch ein Loch im Trommelfell gezogen zu haben. Darüber hätte sich eine Kruste befunden. In dem Befund der nachbehandelnden universitären HNO-Klinik wurde eine freie Elektrode in der Radikalhöhle beschrieben, keine Perforation im Trommelfell. 9 von 20 Elektroden waren disloziert. Es erfolgte die Implantation eines neuen CI. Die Operation überstand der Patient komplikationslos.

Beurteilung Ein Arzt, der eine Radikalhöhle bei Zustand nach CI-Implantation reinigt, darf voraussetzen, dass die Elektrode unter ausreichend Bindegewebe liegt und durch dieses geschützt wird. Im vorliegenden Fall muss angenommen werden, dass die entfernte „Kruste“ unmittelbar auf der Elektrode lag, sodass bereits geringe Kräfte ausreichten, um hier eine Verlagerung der Elektrode herbeizuführen. Man kann zunächst argumentieren, dass die Einlage eines Salbenstreifens und eine sanfte Auflösung der Kruste möglicherweise eine Dislokation hätte verhindern können. Es war jedoch vorab nicht erkennbar, dass sich die Elektrode unmittelbar unter einer Kruste befand. Die Reinigung wurde von einer Assistenzärztin vorgenommen. Diese hatte bereits begonnen, Ohren zu operieren. Andererseits gibt es Widersprüche in der Beschreibung des Lokalbefundes nach Dis-

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Einleitung

raufhin hatte der MDK hno-ärztliche Gutachten in Auftrag gegeben.

42 Gutachten + Recht

Fall 2 Es handelte sich um eine 66 Jahre alte Patientin (B. H), die im Jahr 2012 ein CI erhielt. Ein halbes Jahr nach der Implantation kam es zu einer Dislokation der Elektrode in der Radikalhöhle, die seit 1998 bestand. Bei der Reinigung der Radikalhöhle war es zu Schwindel und Ohrgeräuschen gekommen. Die Reinigung war durch einen niedergelassenen HNO-Arzt erfolgt. Die Patientin wurde sofort in eine Klinik eingewiesen. Hier wurde festgestellt, dass die Elektrode vollständig in der Radikalhöhle lag. Im ursprünglichen Operationsbericht der CI-Implantation war die Elektrode in der Radikalhöhle mit körpereigenem Gewebe abgedeckt worden. Der HNO-Facharzt hatte eine Kruste über dem Facialissporn gesehen, die er dann entfernte. Dabei zeigte sich dann die Elektrode. In der weiterbehandelnden HNO-Klinik wurde beschrieben, dass diese vollständig frei in der Radikalhöhle lag. Die Patientin erhielt ein neues CI. Der weitere Verlauf gestaltete sich komplikationslos.

Beurteilung Man kann auch hier argumentieren, dass bei Kenntnis des Elektroden-Verlaufs eine sanfte Lösung der Kruste, z. B. durch Streifeneinlage, eine Dislokation hätte verhindern können. Andererseits kann der HNO-Arzt, der eine Radikalhöhle reinigt, erwarten, dass die CI-Elektrode unter ausreichend Bindegewebe, Knorpel usw. liegt und nicht unmittelbar unter einer Kruste. Das Elektrodenkabel sollte in einer Radikalhöhle nicht sichtbar sein. Das Schadenereignis muss daher als schicksalhaft angesehen werden.

Fall 3 Es handelte sich um einen 73 Jahre alten Patienten (H. T.). 1947 war auf dem linken Ohr eine Radikalhöhle angelegt worden.

1996 erhielt er wegen einer zwischenzeitlichen Ertaubung ein CI. Dieses war durch ein Knorpelstück und Bindegewebe abgedeckt worden. Bei der Reinigung der Radikalhöhle im Jahr 2006 kam es zu einer Dislokation, also 10 Jahre nach der Erstimplantation. Während der vorangegangenen 10 Jahre traten wiederholt Entzündungen der Radikalhöhle auf. Bei der Reinigung 2006, die zu der Dislokation geführt hatte, war es unmittelbar zu Schwindel gekommen. Der Patient hatte außerdem angegeben, sofort nichts mehr gehört, einen „Elektroschlag“ und Schmerzen verspürt zu haben. Die Reinigung war durch einen niedergelassenen HNO-Arzt durchgeführt worden. Es erfolgte die sofortige Einweisung in eine HNO-Klinik. In der Klinik wurde festgestellt, dass die gesamte Elektrode in der Radikalhöhle lag. Der Patient erhielt ein neues CI. Nach der Operation war eine Sepsis mit Nierenversagen aufgetreten. Der Patient wurde dialysepflichtig. Nach der Reimplantation hatte er sich körperlich nicht mehr erholen können. Aus den Behandlungsunterlagen ergab sich, dass die Radikalhöhle in den vergangenen Jahren sehr häufig eitrig entzündet gewesen war. Zunehmend waren linksbetonte Kopfschmerzen aufgetreten. Im Oktober 2005 hatte der Patient bereits während einer Vorstellung in der Notfallambulanz einer HNO-Klinik angegeben, auf dem linken Ohr nichts mehr zu hören. Außerdem wurde seit ca. Oktober 2004 Gangunsicherheit und seit ca. Juni 2005 Drehschwindel angegeben. In einem CT vom Oktober 2005 war bereits erkennbar gewesen, dass sich Anteile der Elektrode frei in der Radikalhöhle befanden, unbedeckt von Gewebe. Es muss angenommen werden, dass sich durch die wiederholten Entzündungen der Radikalhöhle das Gewebe (Knorpel, Bindegewebe), welches das CI bedeckte, aufgelöst hatte.

Beurteilung Es ist daher mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der HNOArzt die Elektrode, die bereits freigelegen hatte, vollständig aus der Schnecke herauszog, als er die infektiöse Radikalhöhle reinigte. Eine freiliegende Elektrode, die sich mit Krusten und eitrigem Sekret bedeckt ist, stellt einen erheblichen Risikofaktor für Maßnahmen in einer Radikalhöhle dar. Eine Dislokation ist dann bereits bei geringen Manipulationen, z. B. mit einem Sauger, möglich. Außerdem kann grundsätzlich davon ausgegangen werden, dass eine Elektrode von ausrei-

chendem Gewebe bedeckt ist. Die vollständige Dislokation der Elektrode im vorliegenden Fall kann daher ebenfalls als schicksalhaft bewertet werden.

Diskussion



Allen 3 Fällen ist gemeinsam, dass ein CI bei bestehender Radikalhöhle implantiert wurde. Das Elektrodenkabel lag teilweise frei oder war nur von wenig Epithel bedeckt. Die Elektrode wurde in allen Fällen im Rahmen einer ambulanten Radikalhöhlenreinigung gelockert oder vollständig herausgezogen. Wichtig ist, dass die Elektrode bei Implantation eines CI bei bestehender Radikalhöhle intraoperativ unbedingt mit Muskelgewebe, Knorpelmaterial oder Knochenmehl o. ä. zur Vermeidung einer Labyrintitis mit nachfolgender Meningoenzephalitis abgedeckt werden muss [Haensel et al. 2004]. Der HNO-Arzt, der den Patienten weiterbehandelt, muss davon ausgehen können, dass die Elektrode unter einem Gewebemantel liegt. Unabhängig von einer lege artis durchgeführten Operation kann sich das implantierte Gewebe, welches auf die Elektrode gelegt wurde, ausdünnen bzw. nekrotisch werden [Issing et al. 1998]. Die 3 beschriebenen Fälle müssen als seltene Komplikation angesehen werden. Andererseits sollte bei der Reinigung einer Radikalhöhle und implantiertem Cochlear-Implant daran gedacht werden, dass Gewebenekrosen zu einer Freilegung der CI-Elektrode geführt haben könnten. Für die Reinigung derartiger Fälle ist die Untersuchung durch einen erfahrenen HNO-Arzt notwendig, wobei auch ein otochirurgisch erfahrener HalsNasen-Ohrenarzt alio loco die Nachsorge durchführen kann. Dieser sollte über das entsprechende Wissen vom Aufbau und den Komponenten eines Cochlear-Implants verfügen. In solchen speziellen Fällen, in denen ein CI in eine Radikalhöhle implantiert wurde, ist besondere Vorsicht bei der Reinigung geboten. Hier wäre es ratsam, die vorhandenen Krusten zunächst sanft zu lösen, z. B. mit Salbenstreifen oder Ähnlichem. Ein sofortiger Griff zu Häkchen oder Zängelchen ist zu vermeiden. Die versehentliche Entfernung in den beschriebenen Fällen ist aus gutachterlicher Sicht als Behandlungskomplikation nach CI-Implantation zu werten. Ein Behandlungsfehler war bei allen 3 Patienten nicht wahrscheinlich zu machen.

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lokation der Elektrode. Die Assistenzärztin beschreibt ein Loch im Trommelfell, durch die sie die Elektrode zog. In der Universitätsklinik wurde beschrieben, dass die Elektrode in der Radikalhöhle lag. Das schließt eine Trommelfellperforation jedoch nicht aus. Eine Dislokation bzw. ein Herausziehen der Elektrode bei dem untypischen Befund, bei der die Elektrode ungeschützt unter einer Kruste liegt, hätte auch bei jeder fachärztlichen Untersuchung passieren können. Der eingetretene Fehler einer Dislokation der Elektrode muss daher als schicksalhaft eingestuft werden.

Gutachten + Recht 43 Danksagung

Die iatrogene Dislokation eines CochlearImplants bei Vorliegen einer Radikalhöhle ist nicht zwangsläufig als Fehler anzusehen. Die Reinigung einer Radikalhöhle ist auch nach CI-Implantation eine notwendige Maßnahme, da der Selbstreinigungsmechanismus, wie bei einem normalen Gehörgang, nicht vorhanden ist. In einigen Fällen kann sich das Gewebematerial, welches das Elektrodenkabel schützt, durch nekrotische Veränderungen zurückbilden. Dann besteht das Risiko, dass es selbst bei vorsichtigem Vorgehen zu einer Beschädigung des Elektrodenkabels kommen kann.

Die Autoren danken Professor Müller J. München, für wichtige Hinweise zu der dargestellten Problematik





Literatur 1 Chong-Sun Kim, Seung HaOh, Sun O. Chang, Hyoung-Mi Kim u. Dong Gu Hur: Mangement of complications in cochlear implantation. Acta Oto Laryngologica 2008; 128: 408–414 2 Haensel J, Engelke J-Ch, Dujardin H, Westhofen M. Die Cochlea-Revisionsimplantation – Erfahrungen und Ergebnisse. LaryngoRhino-Otol 2004; 83: 83–87 3 Issing PR, Schönermark M, Kempf HG, Ernst A, Lenarz Th. Cochlear implantation patients with chronic otitis: Indications for subtotal petrosectomy and obliteration of the middle ear. Skull Base Surgery 1998; 8: 127–131

4 Michel O, Brusis T. CI-Implantation bei einseitig Ertaubten: Muss die Krankenkasse die Kosten übernehmen? Laryngo-Rhino-Otol 2013; 92: 479–481

Dr. B. Didczuneit-Sandhop HNO-Klinik, Gesichts- und Halschirurgie Städt. Klinikum Brandenburg Hochstraße 29 14770 Brandenburg E-Mail: [email protected]

Didczuneit-Sandhop B, Brusis T. Aus der Gutachtenpraxis: Iatrogene … Laryngo-Rhino-Otol 2013; 92: 41–43 ∙ DOI 10.1055/s-0033-1363227

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Fazit

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