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Übersicht

Friedrich Schiller und die Psychosomatik aus der Perspektive der rezenten Forschung

Autor

S. Häfner

Institut

Abteilung für Verhaltensmedizin und Psychosomatik, CELENUS Deutsche Klinik für Integrative Medizin und Naturheilverfahren (DEKIMED), Bad Elster

Schlüsselwörter

Zusammenfassung

Abstract

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Forschungsfrage: Es soll nachgewiesen werden, dass sich Friedrich Schiller (1759 – 1805) bereits frühzeitig für psychosomatische Zusammenhänge interessiert hat. Material und Methode: Hierfür wurde die gedruckte Sekundärliteratur seit Schillers Tod zum Thema „Friedrich Schiller“ und „Psychosomatik“ ausgewertet. Ergebnisse: Bereits während des Medizinstudiums an der Hohen Karlsschule in Stuttgart hat Schiller sich intensiv mit psychosomatischen Fragestellungen anhand der Erkrankung seines Kommilitonen Joseph Frédéric Grammont und bei seinen drei Probeabhandlungen auseinandergesetzt. Wenngleich er die praktisch-ärztliche Tätigkeit bald aufgab, sind in sein dichterisches Werk, vor allem in die 1781 entstandenen „Die Räuber“, aber auch in „Don Carlos, Infant von Spanien“ (1787), psychosomatische Inhalte und medizinische Konzepte eingeflossen. Gegenüber dem damals in Mode gekommenen Mesmerismus blieb er allerdings skeptisch. Auch in der Bewältigung seiner eigenen Krankengeschichte finden sich viele psychosomatische Aspekte. Selbst körperlich schwer erkrankt überwindet er den Schmerz und betont dichterisch die Freiheit vor der Angst vor dem Tod.

Research Question: The aim of this study is to show that Friedrich Schiller (1759 – 1805) was very early in life inclined towards psychosomatic interactions. Material and Methods: An analysis of the secondary literature since the death of Friedrich Schiller for the subjects “Friedrich Schiller” and “psychosomatics” was undertaken. Results: Already during his medical studies at the “Hohe Karlsschule” in Stuttgart (Germany) Schiller studied very intensively psychosomatic issues on account of the disease of another student, Joseph Frédéric Grammont, and included the topic in his three theses. Not inclined to practical work as a physician, there are many psychosomatic thoughts and medical concepts in his writings, especially in the play “Die Räuber” (1781) and in “Don Carlos, Infant von Spanien” (1787). Towards the then upcoming topic mesmerism he remained very sceptic. In coping with his own illness there are many psychosomatic aspects, too. Despite his own severe somatic illness he could cope with pain and emphasised in his writings the importance of the freedom of anxiety before death.

Wenn das Aug‘ nicht sehen will, helfen weder Licht noch Brill‘.

Vielzahl von Wendepunkten und Krisen in Schillers Leben, die unter psychosomatischen Gesichtspunkten betrachtet zu werden verdienen [1]. Intensiv beschäftigte er sich mit psychosomatischen Fragen, die auch für seine Dichtung von Belang waren [2]. Im Folgenden soll nachgewiesen werden, dass sich Friedrich Schiller bereits frühzeitig für psychosomatische Zusammenhänge interessiert hat.

● Friedrich Schiller ● Psychosomatische "

● ● ● " " "

Erkrankungen Leib-Seele-Dualismus Mesmerismus Schmerz

Key words

● Friedrich Schiller ● psychosomatic disorders ● body-soul dualism ● mesmerism ● pain " " " " "

Bibliografie DOI http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0033-1350571 Fortschr Neurol Psychiatr 2014; 82: 84–92 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York · ISSN 0720-4299

Friedrich Schiller Korrespondenzadresse Dr. Steffen Häfner Abteilung für Verhaltensmedizin und Psychosomatik, CELENUS Deutsche Klinik für Integrative Medizin und Naturheilverfahren Prof.-Paul-Köhler-Str. 3 08645 Bad Elster [email protected]

Friedrich Schiller (1759 – 1805) war nicht nur einer der bedeutendsten Dichter, sondern auch Historiker und Arzt. Sein Medizinstudium an der Hohen Karlsschule in Stuttgart hat sein Denken radikal beeinflusst und markiert den ersten einer

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Friedrich Schiller and Psychosomatics from the Perspective of Recent Research

Material und Methode !

Die seit dem 19. Jahrhundert nach Schillers Tod bis heute erschienene Literatur, die sich mit seiner Verbindung zur Psychosomatik beschäftigt, wurde ausgewertet. Als Quellen wurde hierfür die Sekundärliteratur verwendet. Tatsächlich liefert eine Literaturrecherche zu den Suchwörtern „Friedrich Schiller“ und „Psychosomatik“ über gängige Literaturdatenbanken wie beispielsweise Medline-PubMed, PsychINFO und Psyndex kaum verwertbare Resultate. Wertvoller und ergiebiger erwies sich die konsequente Auswertung der Literaturverzeichnisse von Monografien, Buchbeiträgen und Zeitschriftenartikeln über Friedrich Schiller hinsichtlich psychosomatischer Themen. Auf das Einbeziehen von Primärquellen wurde weitgehend verzichtet. Ziel war nicht die Darstellung einer neuen Quellenlage, sondern die Auswertung der Sichtweise in der Sekundärliteratur und wie Schillers Berührungspunkte mit der Psychosomatik in der Außenperspektive wahrgenommen wurden und werden.

Ergebnisse !

Von der Hohen Karlsschule in Stuttgart ging damals eine große Faszination aus: „Was als ‚Pflanzschule‘ für verwaiste Soldatenkinder begonnen hatte, war inzwischen zu einer Kombination von Militärakademie, Bildungsinstitution und Kunstakademie geworden“ [3]. An der medizinischen Fakultät der Hohen Karlsschule wurde ein ganz neues Konzept der Ausbildung versucht, das sich an strenger militärischer Zucht und den praktischen Bedürfnissen des Regenten orientierte. Die Absolventen sollten nicht nur in den theoretischen Grundfragen beschlagen, sondern vor allem zur Kriegschirurgie tauglich sein. Das Aufstreben der Hohen Karlsschule war auch durch die Reformunfähigkeit der Universität Tübingen bedingt, weswegen ihr Herzog Karl Eugen Gunst und Mittel entzogen hatte. Er errichtete damit eine Stuttgarter „medical school“, die im Vergleich zu der Universität

Tübingen zunehmend an Bedeutung gewann und erst in den 1780er-Jahren wieder verlor. Nach dem Tod des Herzogs wurde " Abb. 1). sie geschlossen (● Schiller war ein brillanter Schüler, der viele Auszeichnungen einheimste; im Reiten, Tanzen und Fechten hingegen war er schlecht. Er scheint sich anfangs nur schwer an das Leben in der Akademie gewöhnt zu haben. Im Verlauf seines ersten Jahres wurde er insgesamt fünfmal wegen Verstößen gegen die Schulordnung bestraft, zweimal wegen „Unreinlichkeit“ [4], es kann aber nur spekuliert werden, dass eine Enuresis vorlag. Wenn er sich der verbotenen Lektüre von Poesie hingeben wollte, waren bereits in frühen Jahren, noch vor der Abfassung der „Räuber“, die Krankensäle sein Zufluchtsort [5]. Der militärische Drill war für Schiller an sich nichts Neues, da sein Vater Johann Caspar Schiller (1723 – 1796) vom Soldatenwesen geprägt und befehlsgewohnt war. Er hatte als Handwerkschirurg gearbeitet und war ganz und gar ein Mann des Ancien régime. Sein Wille, voranzukommen, war mächtig, er war bildungshungrig und unermüdlich aufs Lernen ausgerichtet, aber auch mit einem kräftigen Erwerbssinn ausgestattet. Eine gute Ehe führten die Eltern wohl nicht. In einem langen Brief der Mutter an den Sohn beklagt sie sich über die Unnachgiebigkeit ihres Ehemannes, seine Härte und seine ungenügende Sorgfalt in der Erziehung der Töchter und macht ihrem jahrzehntelang angestauten Groll über ihn Luft [6]. Schillers eigentlicher Berufswunsch war Pfarrer, worin der Vater ihn unterstützte [6], auf Anweisung des Herzogs sollte er sich aber mit der Jurisprudenz versuchen. Als Karl Eugen 1775 die Karlsschule von Schloss Solitude nach Stuttgart verlegte, bemerkte er, dass er im Verhältnis zu den potenziellen Stellen zu viele Juristen ausbildete, woraufhin Schiller kurzerhand in die Medizin wechseln musste. Schiller war aber beides zunächst gleich ungeliebt. Er akzeptierte zwar die Verfügung des Herzogs, Medizin zu studieren, aber seine Interessen galten stets mehr der Theorie des Menschen und den philosophischen Fragen, die sich im Anschluss an die Brotwissenschaft stellten, als dieser selbst.

Abb. 1 Die ehemalige Karlsakademie zu Stuttgart. Zeitgenössischer Stahlstich, gezeichnet von Conz.

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Grammont !

Anhand der suizidalen Krise seines aus Mömpelgard stammenden Kommilitonen Joseph Frédéric Grammont (1759 – 1819) hatte Schiller Gelegenheit zu subtilen psychologischen Beobachtungen [7, 8]. Grammont war in den Jahren 1779 und 1780 nach dem Tod seines Vaters in einen schweren seelischen Konflikt geraten, der sich im Auftreten von körperlichen Symptomen wie Kopfschmerzen, Appetitmangel, Verdauungsbeschwerden, einem zunehmenden Leistungsabfall und Suizidgedanken äußerte. Die behandelnden Ärzte der Karlsschule deuteten die Beschwerden rein organisch und ordneten eine ununterbrochene Bewachung an, mit der die fortgeschrittenen Studenten, unter anderem auch Schiller, betraut wurde. Schiller hingegen stützte sich auf eine für damalige Verhältnisse moderne Diagnostik, indem er die Krankheitsursachen aus dem komplexen Zusammenspiel von Körper und Seele ableitete. Seiner Ansicht nach bildeten die skeptischen Grübeleien und Grammonts Auseinandersetzung mit dem Pietismus die seelischen Ursachen für die körperliche Zerrüttung, die sich in Form von Krämpfen, Unterleibsschmerzen und Schlaflosigkeit äußerte. War dies zwar noch im Sinne der Karlsschulärzte, so zog sich Schiller mit der Ursachenzuschreibung der Melancholie vollends den Zorn des Herzogs zu. Schiller erkannte, dass Grammonts Beschwerden mit dem strikten Reglement des militärischen Gefüges zusammenhingen, das an der Karlsschule üblich war. „Grammont hatte Schiller gegenüber offenbart, dass ihm alles ‚zuwider‘ sei, ‚zu einförmig, um ihn zu zerstreuen‘, er brauche Freiheiten“ [9, 10]. Hierin stellte Grammont ein alter Ego Schillers dar und drückte stellvertretend aus, was Schiller – selbst kein Karlsschüler aus Leidenschaft – dachte. Trotz einer Kur in Bad Teinach ging es Grammont erst besser, als er zu seiner Familie nach Mömpelgard zurückkehrte. Er wurde später Professor für Französisch an Gymnasien in Stuttgart. Schiller hat somit schon bei dem depressiven Schüler Grammont praktische Psychosomatik – wenngleich noch nicht im heutigen Sinne – am Krankenbett praktiziert, indem er Gespräche mit ihm geführt hat. Er vermutete bereits damals ein Band zwischen Körper und Seele, das es unendlich erschwert, die erste Quelle des Übels ausfindig zu machen, ob Körper oder Seele.

Die Probeabhandlungen !

Einen weiteren Beleg für sein frühes Interesse an psychosomatischen Zusammenhängen stellen die drei Probeabhandlungen dar, oft fälschlicherweise als Dissertationen bezeichnet, in denen Schiller die Körper-Seele-Problematik aufgriff. Was oberflächlich betrachtet wie eine Auseinandersetzung mit verschiedenen Fieberformen wirkt, birgt subtile Gedankengänge über grundlegende psychosomatische Fragen. In seiner Schrift „Philosophie der Physiologie“, die er 1779 einreichte, setzte er sich mit der Frage der Beziehung von Körper und Geist im menschlichen Organismus auseinander. Die früher mit „Nervengeist“ gleichgesetzte „Mittelkraft“ lokalisierte er in den Nerven. Die drei zuständigen Fachgutachter lehnten die Arbeit aufgrund ihrer spekulativen Äußerungen, Besserwisserei und nichtwissenschaftlichen Stils einstimmig ab. Auch beim Herzog fanden sie in dieser Entscheidung Unterstützung. Er befürwortete es, dass Schiller noch ein Semester dranhängen musste. Hierfür mag auch eine Rolle gespielt haben, dass noch gar keine geeigneten Weiterbildungsplätze für die Examenskandidaten existierten, da Schiller zum ersten Jahrgang gehörte. Keiner der Zöglinge dieses Jahrgangs bestand das

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Examen. Obwohl die Prüfungsordnung der Akademie lediglich die Vorlage einer Probeschrift vorsah, reichte Schiller dann eine zweite, lateinische Abhandlung mit dem Titel „De discrimine febrium inflammatoriarum et putridaturum“ (Über den Unterschied zwischen entzündlichem und fauligem Fieber) ein, die auch wegen fachlicher Mängel abgelehnt wurde. Wenige Wochen später gab er seine vorsorglich verfasste dritte Arbeit „Versuch über den Zusammenhang der Thierischen Natur des Menschen mit seiner Geistigen“ ab. Erst diese dritte Probeabhandlung wurde angenommen. In ihr legte er ein stärkeres Gewicht auf die dunkle Seite und die Zwänge der Natur, weshalb auch Albrecht von Hallers (1708 – 1777) Kennzeichnung des „Menschen als unseeliges Mittelding von Vieh und Engel“ zustimmend zitiert wurde [11 – 13].

Medizinische und psychologische Konzepte in den Werken Schillers !

Etwa gleichzeitig mit der dritten Probeabhandlung entstanden „Die Räuber“ (1781), in denen sich seine psychosomatische Denkweise niederschlägt: Schiller hatte dem Drama einen hippokratischen Aphorismus vorangestellt: „Quae medicamenta non sanant, f e r r u m sanat, quae ferrum non sanat, i g n i s sanat“ („Was Arzneien nicht leisten, leistet das Messer, was das Messer nicht leistet, das Brenneisen“), aber er hatte den dritten Satz weggelassen „Was das Feuer nicht heilt, muß als unheilbar gelten“ [14]. Den „Konsens“ von Psyche und Soma hat Schiller im Anschluss an Abel und die sogenannten „philosophischen Ärzte“ der deutschen Spätaufklärung in seiner dritten Probeabhandlung eingehend behandelt. Die dort dargelegte Lehre von den psychosomatischen Wechselwirkungen wird von Franz Moor kurz entschlossen zur Waffe umgeschmiedet: Der durch die Leidenschaften vermittelte „Einfluß der Seele auf den Körper“ soll anstelle eines physischen Werkzeugs dem Vater zum Verhängnis werden. Auf der Suche nach einer wirkungsvollen Strategie des Psychoterrors prüft Franz Moor den aus der zeitgenössischen Literatur bekannten Katalog potenziell pathogener Affekte: Zorn, Sorge, Gram, Furcht, Schreck, Jammer, Reue, Verzweiflung. Triumphierend steht er dann vor dem Plan zum perfekten Mord. Finessen der forensischen Medizin, deren damalige Möglichkeiten Schiller aus dem medizinischen Unterricht bekannt waren, musste er nicht fürchten, denn „des Zergliederers Messer findet ja keine Spuren von Wunde oder korrosivischem Gift“ [15]. An dieser Stelle muss einschränkend gesagt werden, dass Schillers Ansinnen, den Vater von Franz Moor mit „Psychoterror“ umzubringen, nicht allein auf seinen „psychosomatischen“ Erkenntnissen, sondern auf einer jahrtausendealten Tradition des wechselseitigen Einflusses von Seele und Körper fußt. Interessanterweise schrieb er 1782 sogar selbst eine Rezension über die „Räuber“, worin er deren Schwächen ungewöhnlich schonungslos bloßlegte [16]. Ein Novum in der deutschen Zeitschriftengeschichte war, dass Schiller in der Ankündigung der „Rheinischen Thalia“ vom Herbst 1784 „Geständnisse von mir selbst“ ankündigte, sich also ein Herausgeber seinem Publikum vorstellte, indem er seine Seelengeschichte erzählte [16]. Das 1787 erschienene dramatische Gedicht „Don Carlos, Infant von Spanien“ [17] unterzogen Nesseler und Nesseler [18] einer eingehenden psychoanalytischen Interpretation. Sie zeigen, wie Schillers reale Lebenskrisen frühe unbewusste Konflikte und Traumata weckten, die ihrerseits zum Motor seiner Kreativität wurden und gehen auch der Bedeutung des kreativen Prozesses

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für den psychischen Haushalt, ja für das psychische Überleben Schillers nach [18]: Als Schiller Don Carlos schrieb, befand er sich auf der Flucht vor dem Zugriff des strengen Landesvaters Karl Eugen. Die Ängste, Wünsche und inneren Konflikte, teils unbewusster Art, welche diese Krisensituation mit sich brachte, indem sie auch infantile Traumata wieder belebte, fanden ihren Niederschlag in den Szenen und Figuren seines historischen Dramas. Im Don Carlos bediente Schiller sich in auffälliger Weise des Mechanismus der Spaltung von Selbst- und Objektrepräsentanzen: Bei den Sohnesfiguren Carlos und Posa, bei den Vaterfiguren Philipp, Alba, Graf Lerma, dem Beichtvater Domingo und dem Großinquisitor, ebenso bei den Mutterfiguren Elisabeth und Eboli. Diese Reihe von Spaltungen wird vor allem mit der Theorie des Borderlinesyndroms erklärt, womit aber keineswegs einer Pathologisierung Schillers Vorschub geleistet werden soll. Es handelt sich dabei vielmehr um eine häufig benutzte unbewusste dichterische Technik, deren Analogon unter anderen Bedingungen auch im Borderlinesyndrom auftritt [19]. Ein weiteres philosophisches Gedicht, „Die Götter Griechenlandes“ (1788 – 1800) wird Schiller zu einem Therapeutikum gegen seine Melancholie, gegen den im Frühjahr 1788 aufkeimenden Zweifel an der Kunst und hilft ihm, den ihm von Christian Gottfried Körner (1756 – 1831) vorgeworfenen zeitweiligen Kleinmut zu überwinden [16, 20]. In „Maria Stuart“ (1800) stellt Schiller den Augenblick der Freiheit dar [21]. Maria Stuart befreit sich von den Gewalten ihrer Leidenschaft, es wird still, ruhig und klar in ihr, und sie gewinnt Gelassenheit, fast schon gelöste Heiterkeit. Sie kommt so weit, dass sie den Punkt erreicht, „wenn die Angst des Irdischen“ von einem abfällt, für Schiller der Augenblick der Freiheit, der für ihn auch angesichts seines eigenen körperlichen Leidens von größter Bedeutung ist [16, 22].

Der Arzt Friedrich Schiller !

Schon der Medizinstudent Schiller verstand sich als Dichter. Es lockte ihn, die im Medizinstudium gewonnenen Erkenntnisse über den Menschen literarisch zu verarbeiten. Prägend hierfür wurde das von Jakob Friedrich von Abel (1751 – 1829) veranstaltete Studium generale der Menschenkunde. Er hatte sich viel mit dem Lehrsystem Herman Boerhaaves (1668 – 1738) beschäftigt und hing diesem zeit seines Lebens an [23]. Auch Johann Caspar Lavater (1741 – 1801) verdankte er gewisse Anregungen. Schiller war an den Fortschritten der Medizin, beispielweise der Pockenimpfung, sehr interessiert [24]. Obwohl 1781 die Karlsschule zur Universität erhoben wurde, konnte Schiller sich nicht entschließen, die jetzt mögliche Promotion noch anzuschließen. Ohne diese war sein Examen aber nur von geringem Wert, ohne die Möglichkeit, als Arzt in Württemberg praktizieren zu können. 1782 schrieb er zwar noch an seine Verleger, „Helikon verlassen und mit der Schlange von Epidaurus spielen, Diplom eines Doktors annehmen“ zu wollen, und bis 1795 sind in Briefen Überlegungen nachzuweisen, „ins Hauptfach“ (Medizin) zurückzukehren, damit auch Geld verdienen zu können, dies könnten aber auch Beschwichtigungsversuche gegenüber seinen Gläubigern gewesen sein. Denn eine Zukunft als „Medicus“ konnte er sich eigentlich doch nicht vorstellen [2]. Dennoch arbeitet Schiller zunächst als Regimentsarzt, eine Tätigkeit, unter der er sehr litt und die er todlangweilig fand. Im Stuttgarter Grenadierregiment Augé, das aus 420, hauptsächlich alten und invaliden Soldaten bestand, trat er seinen Dienst als Amts-

Abb. 2

Friedrich Schiller.

arzt an. Das Regiment, dessen verkrüppelte Grenadiere betteln gingen, war ziemlich verrufen [25]. Schillers Aufgabe bestand darin, das Spital zu überwachen, Hygienekontrollen und diagnostische Untersuchungen durchzuführen und Rezepte auszustellen. Seine Arbeit empfand er als sehr monoton und das Gehalt war dürftig. Die Langeweile im Beruf brachte es mit sich, dass Schiller viel Zeit fürs Schreiben fand. In dieser Zeit in Stuttgart übernahm er so die Rolle des genialischen Kraftkerls, der sich keinen bürger" Abb. 2). Mit der bedrückenlichen Konventionen beugt [10] (● den Atmosphäre in den Militärspitälern und Krankenstuben war er sehr unzufrieden. Es heißt, Schiller sei gefürchtet gewesen wegen seiner robusten Rezepturen. Die Mittel, die er den Grenadieren verabreichte, seien als „höllisches Gemisch“ so berüchtigt gewesen, dass er nichts mehr ohne Rücksprache verschreiben durfte [25]. Wahrscheinlich bewegten sich Schillers Verschreibungen aber durchaus im Rahmen des damals Üblichen. Er scheint aber zu hohen Dosierungen geneigt zu haben – was auch durch seine Selbstbehandlungen belegt ist – im Sinne einer Vorliebe für heroische Behandlungen, sozusagen um die Krankheit in die Flucht zu schlagen. Überliefert ist ein aus seiner Hand stammendes Rezept, das die Zubereitung eines aus Weinstein und Wasser zu mischenden Brechmittels angibt. Derartige Vomitive soll er häufig, zumeist in hoher Dosierung, verordnet haben. Sein Vorgesetzter, der Leibmedikus Johann Friedrich Elwert, korrigierte bisweilen stillschweigend die abenteuerlichen Mixturen, die Schiller verabreichen ließ [10]. Später finden sich nur noch gelegentlich ärztliche Ratschläge in Briefen an Bekannte und Freunde. Zur Behandlung der Schmerzen des vermutlich an einem Prostatakarzinom mit rascher Knochenmetastasierung vor allem in die Lendenwirbelsäule erkrankten Vaters riet Schiller, ein künstliches Geschwür

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Schillers Arbeitsweise !

Zu den markantesten Schaffensbedingungen und Eigentümlichkeiten Schillers gehörte der vernebelnde Zustand gemeiner Erkältungen, sommers wie winters. Schniefen, Schnäuzen und Husten waren die beherrschenden Geräusche um ihn, wunde Nasenflügel, Schmerzen in der Brust und Atemnot waren die irritierenden, beklemmenden Begleitumstände seines Schreibens [31]. Johann Peter Eckermann (1792 – 1854) zufolge inspirierte ihn der Geruch faulender Äpfel, die er in einer Lade des Schreibtisches sammelte. Aber auch Tabak, Kaffee, Punsch und später Opium waren ihm als Stimulanzien nicht fremd [32]. Erst ab dem Aufenthalt in Gohlis 1785 stellte Schiller seinen Lebensrhythmus um. Er stand manchmal schon um vier Uhr auf und ging durch die Felder. Ein Gehilfe seiner Wirtsleute musste ihm mit der Wasserflasche und einem Glase folgen. Von diesem stammt eine Beobachtung, die an einen hysterischen bzw. konversionsneurotischen Anfall denken lässt: Er erzählte, wie er einmal nach einem frühmorgendlichen Spaziergang „den Dichter auf dem Boden hingestreckt gefunden, wobei sein Körper in großer Bewegung gewesen sei. Bestürzt sei er zu ihm getreten und habe ihn gefragt, ob ihm etwas zugestoßen? Schiller habe bloß ausgerufen: Lassen Sie mich! Nach einiger Zeit sei der Dichter erschöpft zu ihm gekommen und habe ihm mitgeteilt,

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Eberhard Gmelin (1751 – 1809) entstammte einer Tübinger Gelehrtenfamilie und begann 1764 als 13-Jähriger das Medizinstudium in Tübingen. Seit 1772 praktizierte er im Anschluss an eine zweieinhalbjährige Studienreise nach Leiden und Wien als Arzt. Er heiratete Heinricke Hartmann, die Tochter des späteren Bürgermeisters von Marbach und Taufpaten Friedrich Schillers [26].

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Gmelin hatte allein für die erfolgreiche Bekämpfung der Grippe im Winter 1781/1782 von der Reichsstadt Heilbronn 150 Gulden zusätzlich erhalten – gerade einmal so viel, wie der Regimentsmedicus Friedrich Schiller in Stuttgart in acht Monaten verdient hatte.

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dass er soeben den Plan zu einer Szene im ‚Don Carlos‘ gefaßt habe“ [16]. Schillers Optimismus war oft grenzenlos („Ist nur der Plan fertig, so ist mir nicht bange, dass er in drei Wochen ausgeführt sein wird“), allerdings litt er auch unter seiner akribischen Arbeitsweise („Es nimmt mit den Zurüstungen kein Ende …“) [16]. Später spricht Schiller vom Mittelelend, jenem „interessanten Mittelzustand, welcher teils peinlich, teils erfreulich ist“, den Goethe als symptomatisch für die gegen den Trübsinn des Winters im November 1801 begründeten Mittwochskränzchen bezeichnet hat, „weder auf Erden, noch im Himmel, noch in der Hölle“ [16]. Charakteristisch waren Stimmungsschwankungen: „Das Gefühl des Erhabenen ist ein gemischtes Gefühl. Es ist eine Zusammensetzung von Wehsein und Frohsein, indem der physische Mensch seine Schranken empfindet und der moralische seine Kraft …“ [33].3

Ein jeder „sein eigener Arzt“? !

Sowohl bei der Geburt der Tochter Elisabeth Christophine Friedericke (4. September 1757) als auch bei Friedrich Schillers Geburt konnte Schillers Vater nicht zugegen sein. Der Krieg beziehungsweise seine wechselnden Armeequartiere hielten ihn fest [6]. Im Januar 1760, Friedrich Schiller war noch keine zwei Monate alt, reiste seine Mutter Elisabetha Dorothea Schiller in der Winterkälte mit dem Säugling und der zwei Jahre vier Monate alten Tochter nach Würzburg, wo ihr Mann inzwischen stationiert war. Bis Mai 1760 blieb sie dort in seiner Nähe. Mehrmals machte sie dabei Truppenbewegungen nach Vaihingen und Cannstatt mit und suchte in der Nähe der Armeequartiere Unterkunft. Mit den beiden Kindern wohnte sie in behelfsmäßigen, schlechten, gewiss auch unhygienischen Quartieren [6]. Dennoch sieht Charlotte Schiller später nicht diese schwierigen Startbedingungen als ursächlich für Schillers schlechten Gesundheitszustand, sondern die Zeit an der Karlsschule: „Denn ich glaube gewiß, daß das Leben in der Akademie den ersten Grund gelegt hat zu Schillers Kränklichkeit“ [6]. Immerhin wurde ihm bei seinem Eintritt mit dreizehn Jahren in die Karlsschule 1773 vom Hofmedikus Gottlieb Konrad Christian Storr eine gute Gesundheit bescheinigt: Mit einem „ausgebrochenen Kopf [einem Gesichtsekzem, d. V.] und etwas verfrörten Füßen behaftet, sonst aber gesund“ sei der Knabe und nichts Nachteiliges zu entdecken [35, 36]. Schiller reagierte oft sehr sensibel auf die ihn umgebenden Bedingungen: Nach dem Sensationserfolg seines Dramas „Die Räuber“ entfloh er dem unglücklichen Leben als Regimentsarzt des württembergischen Herzogs und ging das Wagnis ein, eine Dichterlaufbahn am Mannheimer Nationaltheater einzuschlagen. In Mannheim erkrankte Schiller erstmals schwer. Am 31. August 1783, dem Tag nach der Aufführung der „Räuber“ zu seinen Ehren, packte ihn das „kalte Fieber“ bzw. die „gallichte Seuche“, wie man damals die Malaria-Krankheit nannte [5, 22]. Schiller war sein eigener Arzt und verordnete sich eine seiner berüchtigten Kuren: Er nahm eine Überdosis Chinarinde gegen das Fieber – „Fieberrinde eß ich wie Brot“ – und hielt eine so strenge Diät, dass er sich durch die Hungerkur den Magen ruinierte [25]. Bis Ende Oktober laborierte Schiller an der Krankheit, war antriebs-

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Diese Schilderung erinnert an das, was Sigmund Freud später „im Mittelelend“ nennen wird [33, 34].

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zu veranlassen, also ausleitende Verfahren anzuwenden, wogegen sich seine Schwester Nanette aber wehrte [6]. Schiller war 1793 eigentlich deswegen in seine schwäbische Heimat gefahren, weil er „auf Gmelins Bekanntschaft und magnetische Geschicklichkeit sehr neugierig“ war [26].1 Der damals aufkommende Mesmerismus gewann – obwohl von der Schulmedizin heftig angefeindet – auch bei Ärzten viele Anhänger. Durch Gmelin erfuhr Schiller nähere Aufschlüsse über den „thierischen Magnetismus“, wollte sich jedoch über die Materie noch kein Urteil erlauben. Doch wünschte Gmelin über ihn eine Zusammenkunft mit den damals sehr berühmten Ärzten Christoph Wilhelm Hufeland (1762 – 1836) und Johann Christian Stark dem Älteren (1753 – 1811), dem Arzt Schillers und Goethes, zu erreichen [26]. Es kam aber zu keinem Behandlungsversuch, da Schiller sich nicht überzeugen ließ und gegenüber Mesmer skeptisch eingestellt blieb. Ein weiterer Grund, warum es zwischen den beiden nicht klappte, könnte auch sein, dass Gmelin als Arzt viel Geld verdiente.2 Bei der Behandlung der Magenbeschwerden des jungen Justinus Kerner (1786 – 1862) war Gmelin wenige Jahre später erfolgreicher [27 – 29]. Bei seiner Frau musste Schiller eine lebensgefährliche Erkrankung, ein schweres Wochenbettfieber, vermutlich eine postpartale Endometritis, nach der Geburt der Tochter Karoline Henriette Luise am 11. Oktober 1799 miterleben und täglich den Tod von Charlotte befürchten [16, 30].

schwach, matt und depressiv [16]. Mit der heimlichen Flucht aus Stuttgart vollzog er auch die endgültige Aufgabe seines ärztlichen Berufes und „Broterwerbs“, Grundlage eines Konflikts, der ihn bis zu seiner akademischen Antrittsrede beschäftigen sollte. Schiller ging in seinen früheren Jahren sehr sorglos mit seinem Körper um. Er beachtete Körpersignale nicht, schnupfte, rauchte, trank viel Kaffee und kurierte sich bei seinen häufigen Katarrhen mit Chinarinde und Opiaten. Rosskuren verordnete er nicht nur anderen, sondern auch sich selbst, zumindest bis zum Winter 1784, als er zum ersten Mal das Gefühl hatte, dass er es mit seinen Kuren zu schlimm getrieben habe, und er befürchtete, dass sie ihm „auf Zeitlebens einen Stoß versetzt“ haben könnten [16]. Nach schlimmen Krankheitsanfällen in der ersten Hälfte 1791 wurde es Schiller zur Gewissheit, dass er nur noch wenige Jahre zu leben haben werde, dass sein langsames Sterben begonnen habe, er also haushälterisch mit der Zeit, die ihm noch blieb, umgehen müsse. Er wollte daher zur Dichtung, seinem eigentlichen Metier, zurückkehren [16]. Nach einem Zusammenbruch im Mai 1791 kam es vorübergehend zu einer leichten Besserung. Das Fieber ließ nach, die Unterleibskrämpfe wurden seltener. Am 27. August 1791 beschreibt er den wechselvollen Verlauf: „Die Beklemmungen, ob sie gleich keinen Tag ausbleiben, waren minder heftig und hielten weniger lang an“, am 6. September 1791: „Noch immer bleiben die Krampfzufälle nicht ganz aus, und der kurze Atem hält immer noch an“, am 19. November 1791: „Mit dem Atem und mit dem Unterleib wills noch gar nicht fort“. Auf einige Jahre des Leidens zurückblickend schreibt er am 8. Dezember 1797: „Gewöhnlich muß ich … einen Tag der glücklichen Stimmung mit fünf oder sechs Tagen des Drucks und des Leidens büßen“ [16]. Schiller war der Ansicht, dass, wenn man schon mit Schmerzen leben müsse, alles darauf ankomme, sich an sie zu gewöhnen. Man müsse sie, so äußerte sich Schiller einmal in einem Gespräch, als einen unliebsamen Hausgenossen ansehen, der sich zwar aufdrängt, den man aber, da man ihn nicht loswerden kann, in die Familie so aufnimmt, dass er möglichst wenig stört. Schiller begann, seinen Lebensrhythmus und -stil zu ändern. Er ging seltener in Gesellschaft und verzichtete auf Aufputschmittel. Wenn er wegen der Schmerzen nachts nicht schlafen konnte, arbeitete er, um sich abzulenken, und schlief dann in den Tag hinein [16]. Gegen Kopfschmerzen trug er ein rotes Band. Auch die Berufung an die Universität Jena 1788 war nicht ohne Ambivalenz gewesen. Sein Selbstverständnis als Arzt im Gegensatz zum „philosophischen Kopf“ beschreibt Schiller in seiner vielbeachteten akademischen Antrittsrede aus dem Jahre 1789: „Der Arzt entzweyhet sich mit seinem Beruf, sobald ihm wichtige Fehlschläge die Unzuverläßigkeit seiner Symptome zeigen; der Theolog verliert die Achtung für den Seinigen, sobald sein Glaube an die Unfehlbarkeit seines Lehrgebäudes wankt“ [37]. Es fiel ihm nicht leicht, das Leben des freien Schriftstellers mit dem des Gelehrten zu vertauschen. Er hatte eine Scheu vor Lehrveranstaltungen, sprach vom „heillosen Catheder“ und dass ihn das „Universitäts Wesen eckelt“, zumal er sich als Außerordentlicher Professor mit den Erträgen aus den Privatvorlesungen bescheiden musste [2]. Er bekam durch lautes Sprechen Atemnot, sodass er Lehrveranstaltungen abbrechen musste und eine Beurlaubung beantragte, die ihm auch unter Weiterzahlung seines Gehalts gewährt wurde [16]. Im Frühjahr 1793 nahm er seine Vorlesungen noch einmal auf, bis ihn eine Schmerzattacke am Pult niederwarf. Danach kehrte er nicht mehr ans Katheder zurück. In Jena hatte ihn seine Identitätsproblematik eingeholt. In Thüringen war der Schwabe Schiller nie ganz heimisch geworden.

Dies, obwohl sich seine Gesundheit in der rauen Luft der Thüringer Berge auffallend gebessert hatte und ihm eher das Mannheimer Klima zum Verhängnis geworden war [5]. Obwohl er nur zehn seiner insgesamt 46 Lebensjahre in Stuttgart verbrachte, hat diese Phase seines Lebens seine Persönlichkeit doch entscheidend geprägt. So schrieb er am 17. Juli 1793 an Körner: „Die Liebe zum Vaterland ist sehr lebhaft in mir, und der Schwabe, den ich ganz abgelegt zu haben glaubte, regt sich mächtig. Ich bin aber auch eilf Jahre davon getrennt gewesen, und Thüringen ist das Land nicht, worin man Schwaben vergessen kann“ [38]. Und an Göschen schrieb er am 5. Juli 1793 über die geplante Reise nach Schwaben: „ […] denn ich reise bloß dahin, um einem Sohn oder Mädchen das auf dem Weg ist ein bessres Vaterland zu verschaffen als Thüringen ist“ [38]. Am 14. September 1793 wurde dann tatsächlich in Ludwigsburg sein erster Sohn Karl Friedrich Ludwig geboren. Als Friedrich Schiller seinem Vater 1793 nach elf Jahren in Heilbronn wieder begegnete, waren die Gesundheit und das gute Aussehen des Vaters das erste und einzige, wovon er Körner berichtet. „Er ist in ewiger Thätigkeit und diese ist es was ihn gesund und jugendlich erhält“ [6]. Zwischen Vater und Sohn lag ein Altersunterschied von fast vierzig Jahren. Die Gesundheit des Vaters hatte für Schiller angesichts seiner eigenen körperlichen Labilität etwas Bedrückendes, beinahe etwas von einem Vorwurf ihm gegenüber [6]. Im Sommer 1804, am Tag vor der Geburt seiner jüngsten Tochter Emilie Henriette Luise, erkältete sich Schiller. Die Krämpfe quälten ihn, bis der sonst so geduldige Schiller schrie „Ich halte es nicht mehr aus, wenn es nur schon aus wäre“ [25]. Karoline von Wolzogens Bericht über die berühmte Fieber-Phantasie Schillers im Februar 1805 gilt als Beleg, dass Schiller durchaus im Angesichte eines Gottes lebte, vor dem er sich zu verantworten hatte [38]: „Schiller erzählte Lolo [seiner Frau], daß in einer Nacht des Fiebers, im Februar 1805, da H. Voß bei ihm gewacht, er in einem Anfall von Ohnmacht geglaubt, tot zu sein, sich allein in Dunkel eingehüllt vor Gott geglaubt, und die Rechenschaft seines Lebens vor dem Ewigen habe ablegen wollen – als er eben Vossens Gestalt über sich gebeugt gesehen, und sich noch im Erdenleben gefunden“ [38]. Novalis (Friedrich von Hardenberg, 1772 – 1801) hatten sich die Stunden am Krankenlager des von ihm sehr verehrten Schiller tief eingeprägt, als er ihn mit dem Tod ringen und schließlich über ihn triumphieren sah. So schrieb er, dass zu dieser liebenden Macht über die eigene Natur gehört, dass ein jeder „sein eigener Arzt“ werden könne und dann vielleicht sogar imstande sei, „verlorene Glieder zu restaurieren, sich bloß durch seinen Willen zu töten und dadurch erst wahre Aufschlüsse über Körper, Seele, Welt, Leben, Tod und Geisterwelt zu erlangen“ [16]. Schiller starb am 9. Mai 1805 um 17.30 Uhr im Alter von 45 ½ Jahren in seinem Wohnhaus an der Esplanade in Weimar. Als Todesursache wird meist eine schubweise fortschreitende Lungentuberkulose vermutet, deren erste Infektion offenbar mit 21 Jahren auf der Militärakademie in Stuttgart erfolgt sein soll [22]. Da Schiller jedoch auch häufiger unter Koliken im Bereich des rechten Oberbauches litt, wird zuweilen auch Darmtuberkulose als Todesursache angenommen [39]. Tatsächlich hatte er seit 1791 schwere Krampfanfälle in Brust und Unterleib. Veil [40] und Kühn [41] widerlegen die These vom „tuberkulösen Schiller“, die vielmehr als Erwiderung auf die Vergiftungstheorie der Illuminaten zu verstehen sei, die seit 1928 vom Kreis um Erich Ludendorff (1865 – 1937) propagiert wurde. Die nationalsozialistische Propaganda stürzte sich darauf und behauptete, unter-

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stützt durch ein Buch Ludendorffs, Schiller sei von Juden umgebracht worden. Aus heutiger Sicht muss aber wohl eher von Lungenentzündungen und begrenzten Bauchfellentzündungen ausgegangen werden. Dies wird durch die Sektion bestätigt, die Doktor Huschke, sein behandelner Arzt und Leibmedicus des Weimarer Herzogs Karl August, vornahm. Die Leichenöffnung nahm Huschke zusammen mit Doktor Herder in Schillers Haus am Tag nach dessen Tod vor. Ein Protokoll über die Sektion ist nicht vorhanden. Es existiert nur ein dürftiger Bericht Huschkes an den Herzog [42]. Darin ist vermerkt, dass die rechte Lunge zerfallen und zerstört und mit der Brustwand und dem Herzbeutel völlig verwachsen war. Die linke Lunge, in der sich die tödliche Erkrankung abgespielt hatte, war mit Eiterherden durchsetzt. Die Muskelmasse des Herzens hatte sich weitgehend zurückgebildet; die jahrelange schleichende Entzündung hatte sie offenbar zerstört. Die Leber war mit allen naheliegenden Teilen bis zum Rückgrat verwachsen: hier hatte sich ein Abszess unter dem Zwerchfell gebildet. Entsprechend der chronischen Infektion erschien die Milz geschwollen und um zwei Drittel größer als normal. Auch die Nieren waren in ihrer Substanz aufgelöst und verwachsen. Auf der rechten Seite waren die Därme mit dem Bauchfell verwachsen, eine Erklärung für die langjährigen Koliken [35]. Im Kirchenbuch steht die Todesursache verzeichnet, die Huschke angegeben hat. Demnach setzte nach kurzem Krankenlager ein „Nervenschlag“ – zu damaliger Zeit allerdings eine Allerweltsdiagnose – seinem Leben ein Ende [35]. Huschke schrieb zusammenfassend: „Bei diesen Umständen muß man sich wundern, wie der arme Mann so lange hat leben können“ [16]. Goethe hat Schiller bereits bei seinen Begegnungen in den frühen 90er-Jahren als Grenzgänger des Todes wahrgenommen [16]. So verwundert auch seine erste Einschätzung nicht, die er später Eckermann gegenüber äußerte: „Als ich ihn zuerst kennen lernte, glaubte ich, er lebte keine vier Wochen“. Nach Schillers Tod war Goethe nicht in der Lage, an dessen Begräbnis teilzunehmen [36].

Diskussion !

Schiller war bis zum Alter von drei Jahren und zwei Monaten über lange Zeiträume ohne Vater aufgewachsen, sodass sich die Frage stellt, ob sich schon die Umstände der frühen Kindheit ungünstig auf Schillers Gesundheit ausgewirkt haben [6]. Dagegen spricht aber, zumindest auf der rein körperlichen Ebene, der stattliche Untersuchungsbefund des „Schularztes“ im Alter von 13 Jahren. Nimmt man die Beziehung zum Vater als Ursache von Schillers Hinfälligkeit an, sind dennoch Wut, Hass oder Ärger auf ihn nicht spürbar, eher ins Gegenteil verkehrt. So war die Studien- und Berufswahl Schillers durch den Vater mitbestimmt. Er ergriff zunächst einen ähnlichen Beruf wie der Vater, seine Ambivalenz drückt sich aber in den folgenden Brüchen aus. Die Konflikte mit ihm scheinen auch übertragen auf den „Übervater Herzog“, der ihn fördert, von dem er sich aber auch lösen muss. Dennoch gibt er seinem ersten Sohn Karl den Vornamen des Herzogs. Schiller begab sich somit auf eine endlose Flucht vor seinen Vätern und versetzte sich unbewusst in eine frühe Entwicklungsphase seiner Kindheit zurück, in der offenbar die Anwesenheit seines Vaters für ihn bedrohlich wurde. Schillers beruflicher Werdegang ist nicht ganz geradlinig: Eigentlich wollte er Pfarrer werden, musste dann mit Jura beginnen und zur Medizin wechseln. Tatsächlich war er erst Regimentsarzt,

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dann ein bedeutender Historiker Deutschlands mit einer Professur für Geschichte an der Universität Jena, aber eigentlich Schriftsteller und Dramatiker, der die Theatertheorie entscheidend vorangetrieben hat. Schiller Doppelbegabung als Autor und Arzt spiegelt sich in seiner Poetologie und in seinen Werken, in denen er laufend Begriffe aus der Chirurgie verwendet, indem er tief in die Seele seiner Figuren geht oder die Moral „sezieren“ will. Schiller fand bereits während des Medizinstudiums einen Zugang zur psychosomatischen Denkweise in der Behandlung der Erkrankung seines Mitschülers Grammont, wie beispielsweise später Justinus Kerner bei Friedrich Hölderlin [29]. In Bezug auf Stuttgart scheint es eine Hassliebe gewesen zu sein: auf der einen Seite war es seine Heimat und der Ort seiner Eliteausbildung, auf der anderen Seite gab es die schlechten Erinnerungen an den Drill und die Gängelung durch Herzog Karl Eugen. Aber später in der Fremde kommt doch Heimweh nach Schwaben auf. So kann die Reise 1793 als Versuch verstanden werden, an die Erinnerungen aus der schwäbischen Zeit wieder anzuknüpfen. Lange-Eichbaum und Kurth [42] heben die Abwehr von Konflikten durch Flucht in die Krankheit hervor und sehen angstneurotische Symptome (Asthma, Atemnot, Störung der Herztätigkeit, Schwindelanfälle und Schlaflosigkeit). Bei Schiller lässt sich bereits ein enorm tiefes Verständnis für psychosomatische Zusammenhänge feststellen und seine Schriften können als ernsthafte Dokumente einer psychosomatischen Medizin gesehen werden [8, 43, 44]. Thomas Mann hat ihn anlässlich der Festreden zum 150. Todestag des Dichters am 8. Mai 1955 in Stuttgart und am 14. Mai 1955 in Weimar als „Seelenarzt unserer kranken Zeit“ bezeichnet: „Wie stark, bei neu durcharbeitender Beschäftigung mit seinem Werk, habe ich das empfunden – und daß er, der Herr seiner Krankheit, unserer kranken Zeit zum Seelenarzt werden könnte, wenn sie sich recht auf ihn besänne!“ [45]. Kommerell ergänzt: „Der Dichter verhält sich zum Seelenforscher wie ein Minenbesitzer, der eines Edelmetalls wegen Schächte in die Erde bohrt, zu einem Geologen, der die von jenem aufgeschlossenen Schichten zu seinem ganz anderen Zweck prüft“ [46]. Schiller hat damit vieles vorweggenommen, was 100 Jahre später die ersten Psychosomatiker und Psychoanalytiker beschrieben haben „So haben auch die Dichter Jahrtausende lang das Abgründige und Kostbare der menschlichen Seele an den Tag gebracht, ehe die Wissenschaft der Seelenkunde nach den Schichten fragen lernte, die diese Kostbarkeiten in sich gehegt hatten“ [46]. Allerdings wird vor den Folgen einer zu starken Verflechtung von Wissenschaft und Dichtkunst gewarnt: „In neuerer Zeit hat der Dichter die Aufgabe, das Leben der Seele darzustellen. So scheint er dem Psychologen benachbart – aber ein guter Nachbar hält Abstand“ [46]. Relativierend muss gesagt werden, dass es sich dabei noch nicht um Psychosomatik im heute verstandenen Sinn, wie beispielweise von Uexküll im 20. Jahrhundert entwickelt [47] oder deren Vorläufer, exemplarisch seien Johann Christian August Heinroth, Georg Groddeck, Felix Deutsch, Otto Fenichel, Harald SchultzHencke, Franz Alexander, Max Schur, Arthur Jores und Alexander Mitscherlich genannt, gehandelt hat. Hier ist Schiller einer der später entstandenen Schulen nicht direkt zuzuordnen. Dennoch hat er wichtige Teilaspekte psychosomatischer Theorie und Praxis vorausgeahnt und literarisch umgesetzt. Krämer brandmarkt Schiller als „Arzt auf Abwegen“, als sei geniale Schriftstellerei der Vorbote des Verbrechens [3]. Der „abtrünnige“ Arzt spielte aber länger mit der Schlange von Epidaurus, als es nach außen den Anschein hat. Die praktische Medizin hat Schiller in der Tat nicht sehr interessiert, Medizin war ihm aber als Denkmodell

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Übersicht Take Home Message Bereits während seines Medizinstudiums an der Karlsakademie in Stuttgart interessierte sich Friedrich Schiller (1759 – 1805) sehr für psychosomatische Zusammenhänge. Aufgrund einer hohen Ambivalenz gegenüber dem Arztberuf schlug er letztlich eine Dichterlaufbahn ein und war auch ein bedeutender Historiker seiner Zeit. Trotz seiner schlechten körperlichen Verfassung und vielfältiger psychosomatischer Reaktionsweisen in seinem Leben hinterließ er bei seinem frühen Tod im Alter von 45 Jahren ein epochales Werk, in das sehr viel ärztliches und psychosomatisches Gedankengut eingeflossen ist und in der Freiheit vor der Angst vor dem Tod gipfelt.

Danksagung !

Ich danke Frau Tanja Fengler-Veit vom Deutschen Literaturarchiv Marbach für das freundliche Überlassen der Fotos. Interessenkonflikt: Der Autor gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

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wichtig. Deshalb bemühte er sich wohl auch nicht ernsthaft um den Abschluss des Examens, der ihm die praktische Tätigkeit ermöglicht hätte. Schiller macht gerne Anleihen bei der Medizin, wenn er von Kriminalakten als „Sektionsberichte des Lasters“ oder „Leichenöffnung des Lasters“ spricht. Bei einem Übermaß einen Ausgleich herzustellen und Gesundheitsprophylaxe waren medizinische Prinzipien, die auch Schiller vertrat. Mit der Zuwendung zur Philosophie Immanuel Kants trat aber das Medizinische noch weiter zurück: 1792 befreite ihn ein dreijähriges Stipendium aus dem dänischen Hochadel erstmals von Finanzsorgen und ermöglichte ein intensives Kant-Studium [48]. Während Goethe Gegenstand einer monumentalen psychoanalytischen Betrachtung von Eissler [49, 50] oder unlängst von Psychobiografien [51 – 53] geworden ist, kommt Schiller auch in dieser Beziehung eher zu kurz. Gerne wird über Goethes spektakuläre Selbstbehandlung seiner Höhenphobie auf dem Straßburger Münster als frühe Form einer Verhaltenstherapie berichtet. Bekannt sind auch Goethes zahllose Liebschaften, die Weglaufund Fluchttendenzen in unliebsamen Umständen, ins Extrem gesteigert bei der Reise nach Italien. Demgegenüber bleibt der Aktionsradius von Schiller auch für damalige Verhältnisse klein, damit vielleicht Tribut seiner schwachen körperlichen Gesundheit zollend. Die ganze Medizin der Zeit wird unter der Brille Goethes gesehen [54]. In der literaturpsychologischen Studie von Oberlin nimmt Schiller im Vergleich zu Goethe nur ein Viertel des Raumes ein [55]. Tragischerweise stirbt Schiller deutlich früher als der mit einer vermutlich robusteren Natur gesegnete Goethe. Auch bezüglich seiner großen Sensibilität für psychische Zustände steht Schiller eher im Schatten Goethes. Hinzu kommt, dass Schillers Lebensführung das völlige Gegenteil derjenigen Goethes darstellt. Sie war ungeregelt bis zum Exzess, mit spätem Aufstehen, oft erst gegen Mittag, und Nachtarbeit unter Benutzung von Stimulanzien [32]. Für Schiller bewundernswerter ist der Geist, der sich seinen Körper baut – dies ist vor dem Hintergrund seines hinfälligen Körpers besonders interessant [16]. Den Schicksalen des Körpers zu widerstehen und die Freiheit des Geistes gegen die kranke Materie zu behaupten wird für ihn zur Aufgabe, deren Bewältigung die Würde des Erhabenen verleiht [16]. Neben der psychodynamischen und ergografischen Verarbeitung von Schillers biografischen Besonderheiten ist daher sein über viele Jahre währender Umgang mit seiner schweren somatischen Erkrankung die Grundlage für seine dichterische Betonung der Freiheit vor der Angst vor dem Tod. Insofern weist Kerner [56] darauf hin, dass die Legende vom „tuberkulösen Schiller“ zurecht aufgegeben worden sei: „Da Schiller ein sehr sensitiver Mann war, bewegte er sich während seiner Schaffensperioden immer am Rande der Krankheit, litt unter Darmspasmen und Atembeklemmungen, war aber sonst durchaus gesund und schmiedete noch kurz vor seinem Tode Pläne über viele Jahre. Schiller endete keineswegs im Siechtum, sondern erkrankte aus einem arbeitsreichen und bewegten gesellschaftlichen Leben heraus plötzlich akut und starb nach 8 Tagen am 9. Mai 1805, erst 45 Jahre alt“ [32].

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38 Simm HJ. Insel-Almanach auf das Jahr 2005: Friedrich Schiller 1759– 1805. Frankfurt am Main Leipzig: Insel; 2004 39 Ullrich H. … und ewig währt der Streit um Schillers Schädel. München: Verlag Dr. Friedrich Pfeil; 2008 40 Veil WH. Schillers Krankheit: eine Studie über das Krankheitsgeschehen in Schillers Leben und über den natürlichen Todesausgang. 2. Aufl. Naumburg (Saale): Uta-Verl; 1945 41 Kühn RA Hrsg Schillers Tod: kommentierter Reprint der Studie „Schillers Krankheit“ von Wolfgang H. Veil aus dem Jahre 1936. Frankfurt (Main) Budapest Den Haag Jena Kairo Mailand Moskau Sennwald Wien: Universitätsverlag Jena; 1992 42 Lange-Eichbaum W, Kurth W. Schiller, Friedrich von (1759–1805). In: Lange-Eichbaum W, Kurth W. Genie, Irrsinn und Ruhm München, Basel: Ernst Reinhardt Verlag; 1979: 521 – 523 43 Werner B. Der Mensch als innigste Mischung von Körper und Seele. Dtsch Arztebl 2012a 109 (18): A913 – A918 44 Werner B. Der Arzt Friedrich Schiller oder Wie die Medizin den Dichter formte. Würzburg: Königshausen & Neumann; 2012 45 Mann T. Versuch über Schiller. Zum 150. Todestag des Dichters – seinem Andenken in Liebe gewidmet. In: Mann T. Reden und Aufsätze (= Thomas Mann: Gesammelte Werke in dreizehn Bänden, Band IX) Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch; 1990: 870 – 951 46 Kommerell M. Schiller als Psychologe. In: Kommerell M. Geist und Buchstabe der Dichtung: Goethe, Schiller, Kleist, Hölderlin 5. Aufl. Frankfurt am Main: Klostermann; 1962: 175 – 242 47 Adler RH, Herzog W, Joraschky P et al. Hrsg. Psychosomatische Medizin. Theoretische Modelle und klinische Praxis. München: Urban & Fischer; 2011 48 Malter R. Schiller und Kant. In: Dann O, Oellers N, Osterkamp E Hrsg. Schiller als Historiker Stuttgart, Weimar: J. B. Metzler; 1995: 281 – 291 49 Eissler KR. Goethe: eine psychoanalytische Studie 1775-1786. Band 1. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern; 1983 50 Eissler KR. Goethe: eine psychoanalytische Studie 1775-1786. Band 2. Basel, Frankfurt am Main: Stroemfeld/Roter Stern; 1985 51 Holm-Hadulla RM. Leidenschaft: Goethes Weg zur Kreativität: eine Psychobiographie. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2008 52 Holm-Hadulla RM. Goethes Studienkrise, Depression und seine Selbstbehandlungsstrategien. Psychotherapeut 2009; 54: 370 – 376 53 Holm-Hadulla RM, Roussel M, Hofmann FH. Depression and creativity – The case of the German poet, scientist and statesman JW v Goethe. J Affect Disord 2010; 127: 3 – 49 54 Jütte R. Medizin, Krankheit und Gesundheit zur Zeit Goethes. Ärzteblatt Baden-Württemberg 2008; 12: 540 – 543 55 Oberlin G. Schiller 1781: Die Räuber. Die Zivilisiertheit des Bösen. In: Oberlin G. Goethe, Schiller und das Unbewußte: eine literaturpsychologische Studie Gießen: Psychosozial-Verlag; 2007: 105 – 172 56 Kerner D. Die Krankheiten Schillers und Mozarts. Med Welt 1962: 398

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[Friedrich Schiller and Psychosomatics from the Perspective of Recent Research].

The aim of this study is to show that Friedrich Schiller (1759 - 1805) was very early in life inclined towards psychosomatic interactions...
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