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Familiäre spastische Spinalparalyse - Klinisches Spektrum und differentialdiagnostische Erwägungen Edzard Klemm, Wolfgang Tackmann

Familial spastic paraplegia. Oinical spectrum and electrophysiological results in 5 families The familial spastic paraplegia is a rare disorder of the cerebral nervous system characterized by a slowly progressive spasticity of the lower Iimbs with early or late onset. There are pure and complicated forms. The disease is inherited by an autosomal dominant mode and a recessive one. In this study 6 patients out of 5 families are presented. The c1inical variety, gcnetic aspects, e1ectrophysiological results and differential diagnosis are discussed.

Einleitung Die ersten Beschreibungen des Krankheitsbildes der erblichen spastischen Spinalparalyse stammen von Charcot (1874) (11) und Erb (1875) (16), die pathologisch-anatomischen Befunde wurden von Strnmpel/ (1880) (40) und Seiligmül/er (1876) (35) dargestellt. Es ist gekennzeichnet durch eine weitaus überwiegend in der ersten Lebenshälfte einsetzende, allmähliche progrediente und beinbetonte Spastizität mit Gehbehinderung unterschiedlicher Ausprägung. Der Erbgang ist meist autosomal dominant oder rezessiv. Unter den zahlreichen. jedoch insgesamt seltenen zusätzlichen Symptomen kommen neben distalen Muskelatrophien, die vor allem an den unteren Extremitäten zu finden sind, einer MakuIadegeneration, einer Optikusatrophie und einer Ataxie, eine Harninkontinenz. eine Dysarthrie, Nystagmus, extrapyramidale Symptome. eine sensible Neuropathie, eine Demenz und Hautaffektionen vor. Kasuistiken In Tab. I sind klinisches Bild, elektrophysiol0gische, radiologische, cndokrinologische und biochemische Befunde der hier vorgestellten Patienten zusammengefaßt. Psychopathologische AuWmigkeiten waren bei keinem der Patienten zu beobachten.

Fortschr. Neuro!. Psychiat. 59 (1991) 176-182 © GeorgThieme Verlag Stuttgart· New York

Zusammenfassung Die spastische Spinalparese ist eine seltene hereditäre degenerative Erkrankung des zentralen Nervensystems, deren klinisches Erscheinungsbild von einer spastischen Gangstörung geprägt wird. Gelegentlich treten akzessorische Symptome hinzu. Die meist autosomal dominant oder rezessiv vererbte Erkrankung kann sich im jedem Lebensalter manifestieren und verläuft chronisch progredient. Klinisches Spektrum, genetische Aspekte, Ergebnisse der elektrophysiologischen Diagnostik und Differentialdiagnose werden anhand der Kasuistiken von sechs Patienten aus fünf Familien dargestellt.

FamilieA Patient Al: Seil dem IO.~ 12. Lebensjahr fiel bei dem 28jährigen Mann eine progredientc Gangerschwernis mit häufigen Stürzen und bclastungsabhängiger Schwäche der Beine auf, zu der eine Gleichgewichtsstörung hinzukam. Es bildeten sich Spitz-Hohlfuße beidseits aus, eine Achillessehnenplastik erfolgte mit 12 Jahren. Später traten rezidivierende Parästhesien an beiden Füßen auf, die bis in die Beine aufstiegen. Wiederholt machte sich ein imperativer Harndrang bemerkbar.

Bei einer neuroloxischen Untersuchung im Alter von 25 Jahren stand eine spastische Paraparese der Beine mit Adduktorenspasmus, ausgeprägter Parese der Hüftmuskulatur und der distalen Muskulatur der unteren Extremitäten, sowie der Knieflexoren im Vordergrund. Der PSR war beidseits gesteigert bei seitengleich lebhaften Muskeleigenreflexen an den Armen mit positivem Zeichen nach Babinski. Der ARS war beidseits nicht auslösbar. Darüber hinaus fanden sich ein leicht dysmetrischer Knie-Hacken-Versuch, eine ungerichtete Fallneigung beim Rombergstehversuch, eine Pallhypästhesie und eine verminderte Derrnatolexie der unteren Extremitäten. Die Sprache war lispelnd. Außerdem fanden sich eine linkskonvexe Skoliose mit Scheitel am thorakolumbalen Übergang, eine Hyperlordose der LWS, ein Beckenschiefstand links sowie ein Spitzhohlfuß beidseits. Im Rahmen einer neurologischen Untersuchung drei Jahre später fielen zusätzlich eine strumpfförmig begrenzte Hypästhesie und Hypalgesie sowie eine Hyperpathie beider Beine auf. Die Pallhypästhesie hatte nicht zugenommen. 1m Hamburg-Wechsler-/ntel/(genztest für Erwachsene lag der Gesamt-IQ bei 102.

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Neurologische Universitätsklinik Donn (Direktor: Prof. Dr. F. Jerusa1em)

Familiäre spastische Spinalparalyse

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Synopsis der hier vorgestellten sechs Patienten

Patient

A1

A2

B

C

0

E

Geschlecht Aller bei Untersuchung (Jahre) Alter bei Manifestation Palihypästhesie obere Extremitäten betroffen wahrscheinlicher Erbgang Elektrophysiologie VEP AEP SEP NLG EMG EEG ENyG Radiologie

m 28

m 32

w

60

m 33 31

36

10

?

3

m 33 Kl.kd

+

+ +

+

+ +

+ +

+ +

AD

AD

AD

AD

AD

?

n

P

n

p p

p

n n n

n

p p

n/p n n

n

n n

n

n n n n p' n6 n10

n n n n n/p n 9 n

n n n n

14

p

CCT NMR Gehirn NMR RUckenmark Myelopathie Liquor Endokrinologie Biochemie und Vitamine

n

m

n

n = normal, p = pathologisch, Röntgen-Nativ-Diagnostik = s. Text. Liquor = Zellzahl, Proleingehalt, Protein- und Immunelektrophorese, ENyG = Elektronystagmogramm, Kl.kd. = im Kleinkindesalter, SEP = nach Stimulation des N. tibialis (Pat. B. des N. suralis) 1ebenso Pneumoenzephalographie. 2ß-Globuline 16,7 g% (keine Immunelektrophorese, 3Kortisol-Tagesprofil, 17-0H- und 17-Keto-Kortikosteroide im Urin, ACTH-Test, Testosteron, T3, T4 und FT4, 4 nur Kortisol-Tagesprofil, 5parathormon, T3, T4, FT4, 6Kortisol-Tagesprofil und KAusscheidung im 24-Stunden-Urin, HGH,/rolaktin, gonadotrope Hormone, Testosteron, Östradiol, TSH, T3, T4, 7Vitamin B1, B6, B12, E, Aminosäurenchromatographie im Urin, 6wie und Vitamin 0, 9 sehr langkettige Fettsäuren im Serum, ß-Hexosaminidasen, ß-Galaktosidase, saure Phosphatase, Hexosaminidase A und Arylsulfatase A (ASA) in Leukozyten, 10 wie 9, jedoch ohne Vitamine, zusätzlich Bestimmung der a-Galaktosidase in kultivierten Fibroblasten und der ASA im Serum, 'Gammopathie (Liquor und Serum. s. Text)

Röntgenaufnahmen des Schädels ergaben eine Hypoplasie des linken Sinus frontalis. In einem EKG fielen supraventrikuläre Extrasystolen auf, die als nicht therapiebedürftig eingestuft wurden. Die Latenzzeiten der somatosensorisch evozierten Potentiale (SEP) (Komponenten PI, N2, P2) nach Stimulation des N. tibialis waren mit 59 ms rechts, 58 ms links (PI), 67 ms beidseits (N2) und 80 ms rechts sowie 78 ms links (P2) verlängert. Die motorischen Nervenleilgeschwindigkeilen (NLG) des N. peronaeus und des N. tibialis, die sensible NLG des N. tibialis, sowie die motorische und sensible NLG des N. medianus links waren sämtlich normal, ebenso die Elektromyographie des M. gastrocnemius rechts und die visuell evozierten Potentiale (VEP). Dagegen waren bei Ableitung der akustisch evozierten Hirnstammpotentiale (AEP) die Latenzzeiten der Komponenten IV rechts (5,6 ms) und der Komponente V (beidseits 7, I ms) verlängert, ebenso das Latenzintervall I/III mit 2,7 ms auf der rechten Seite. Eine hals-nasenohren-ärztliche V ntersuchung ergab keinen pathologischen Befund. Familienanamnese: Eine ähnliche Symptomatik ist in der Familie aus mehreren Generationen bekannt. Von den drei Brüdern sind zwei Zwillingsbrüder (der eine ist unten als A2 bezeichnet) erkrankt. Die drei Schwestern sind gesund, während die älteste Tochter der ältesten Schwester ebenfalls betroffen ist. Die 34jährig gestorbene Mutter war unter neun Geschwistern die einzige Erkrankte. Deren Mutter und einige von deren Brüdern litten bzw. leiden ebenfalls an der Erkrankung.

Patient A2: Die neurologische Untersuchung des zu diesem Zeitpunkt 32jährigen Bruders ergab gesteigerte Muskeleigenreflexe an den unteren Extremitäten mit positivem Zeichen nach Babinski und einer Tonuserhöhung beider Beine. Der Gang war spastisch-ataktisch. Außerdem fanden sich ein dysmetrischer Knie-Hacken- und Finger-Nasen-Versuch, eine Dysdiadochokinese beider Hände sowie eine Pallhypästhesie beider Füße. An den Armen waren die Muskeleigenreflexe schwach auslösbar, die Oberflächensensibilität intakt.

Die Latenzzeiten der Komponenten P2 (bzw. P 100) nach Ableitung der VEP waren rechts mit 130 ms, links mit 140 ms deutlich verlängert. Die Komponenten III nach linksseitiger, IV und V nach rechtsseitiger sowie linksseitiger Stimulation der AEP ergaben pathologische Werte von (rechts/links) 1,8/1 ,7, 2,7/2,8, 4,1/4,5, 6,0/5,8 und 7,2/7,1 ms. Die Stimulation des N. tibialis ergab ebenfalls pathologisch verlängerte Latenzen der Komponente P I der SEP von rechts 60 ms und links von 61 ms, für N2 und P2 ergaben sich 67 bzw. 78 ms beidseits.

FamilieB Bei der 60jährigen Frau setzte im 3. Lebensjahr eine langsam progrediente spastische Gangstörung ein, die erstmals nach einer Diphtherie auffiel. Ein halbes Jahr vor der stationären Aufnahme klagte sie über Schmerzen in der Lumbosakralregion mit Ausstrahlung in beide Beine. In den letzten Monaten vor der Hospitalisierung stürzte sie häufiger.

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Teb. 1

Fortschr. Neurol. Psychiat. 59 (1991)

Fortsehr. Neurol. Psychiat. 59 (1991) Neur%gisch fand sich eine spastische Paraparese der Beine mit rechts betonten gesteigerten Muskeleigenreflexen, fehlenden BHR, beidseits positivem Zeichen nach Babinski und Kontrakturen der Hüft- und Kniegelenke sowie ein beidseitiger Spitzfuß. Das Gangbild war spastisch-paretisch mit Adduktoren- und Streckerspastik bei massiver spastischer Tonuserhöhung der Beine. Es fanden sich Paresen der Hüftreflexoren, links mehr als rechts, sowie der Fußextens0ren und Fußreflexoren. An den oberen Extremitäten bestand eine Bradydiadochokinese beider Hände. Außerdem wurden eine diskrete Palihypästhesie und ein Haltetremor beider Hände beobachtet. Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule einschließlich des kraniozervikalen Überganges waren bis auf degenerative Veränderungen unauffaIlig. Während die nach Stimulation des N. medianus rechts abgeleiteten SEP normale Latenzzeiten ergaben, waren sie nach Reizung des N. suralis rechts mit 76 ms verlängert (Komponente PI). Elektromyographisch fand sich im M. vastus medialis, M. tibialis anterior und im M. g1utaeus medius,jeweils rechts, kein Anhalt fUr eine peripher neurogene Läsion. Familienanamnese: Der 19jährige Sohn leidet seit dem 2./3. Lebensjahr ebenfalls an einer spastischen Paraparese, während zwei Schwestern und ein Bruder, alle jünger, weitgehend gesund sind. Die Mutter ist aus unbekannter Ursache im 65. Lebensjahr gestorben, der Vater im 2. Weltkrieg gefallen.

FamilieC Bei dem 33 Jahre alten Mann bestanden schon als Kleinkind eine abweichende FußsteIlung sowie Hammerzehen und HohlfUße. Im Alter von 4- 5 Jahren fiel ein Gehen in Supinationshaltung der Füße und mit nach innen gewandtem rechten Fuß auf, ohne daß er diese AulTaIligkeiten als Behinderung empfand. Erst wenige Jahre vor der Hospitalisierung machte sich eine leichte Progredienz der Gangstörung bemerkbar. Bei der neurologischen Untersuchung des sehr schlanken Patienten fanden sich gesteigerte Muskeleigenreflexe an Armen und Beinen mit "stummer Sohle" beidseits sowie erschöpflichem Fußklonus rechts. Die BHR waren in allen Etagen lebhaft erhältlich. Darüber hinaus war lediglich eine mittelgradig ausgeprägte Pallhypästhesie distal an den unteren Extremitäten nachzuweisen. Die Röntgen-Nativdiagnostik ergab ausgeprägte Veränderungen der HWS mit linkskonvexer Skoliose und Kyphose der oberen HWS sowie eine Blockwirbelbildung bei HKW 5/6, eine rechtskonvexe Torsionsskoliose der LWS und eine leichte Sklerosierung des Pfannendaches des linken mehr als des rechten Hüftgelenkes. Schädel und BWS waren ohne pathologischen Befund. AuffaIlig war lediglich eine Erhöhung des Parathormons auf 235 pmol/I bei einem noch normalen Kalzium von 2,2 mmol/I. Fami/ienanamnese: Eine ähnliche Gangstörung und Fußdeformitäten hat ein IOjähriger Neffe, der mit nach innen gewandtem Fuß geht. Die Tante väterlicherseits ging mit nach außen rotiertem Fuß. Gangstörungen sind auch

Edzard Klemm, Wolfgang Tackmann

bei der Großmutter väterlicherseits und bei der 4jährigen Tochter seiner 32 Jahre alten Cousine bekannt. Dagegen sind bei den zwei Brüdern und der Schwester keine derartigen Anomalien aufgefallen.

Familie D Der 33jährige Mann bemerkte seit zwei Jahren eine leicht progrediente Gangstörung mit belastungsabhängiger Schwäche und Verkrampfungsgefühl der Muskulatur. Die oberen Extremitäten waren nicht betroffen. Darüber hinaus bestanden seit 10 Jahren Lumbalgien und manchmal Parästhesien der Beine. Neurologisch fanden sich gesteigerte Muskeleigenreflexe an den Beinen bei mittellebhaftem Reflexniveau an den Armen. Die BHR waren symmetrisch, das Zeichen nach Babinski beidseits fraglich positiv. Bis auf eine diskrete Pallhypästhesie distal an den unteren Extremitäten war der Untersuchungsbefund sonst unauffällig, insbesondere waren Paresen, eine spastische Tonuserhöhung oder radikuläre Ausralle nicht nachweisbar. Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule ergaben keinen pathologischen Befund. Sowohl im Liquor als auch im Serum waren die y-Globuline mit 19,3% bzw. 33,8% (normal bis zu 12,1 % bzw. 23,3%) vermehrt. Während das IgG im Liquor mit 41,9 mg/I im Normbereich lag (bis 47 mg/I), war es im Serum auf 21,7 g/I erhöht (normal 4,7-15,1 g/!). Mittels Immunfixation ließ sich ein IgG-K-Paraprotein nachweisen. Zellzahl und Proteingehalt des Liquors lagen mit 7/3 bzw. 32,3 mg% ebenso wie die sonstigen Laborwerte im Normbereich. Auch peripherer Lymphknotenstatus und Blutbild waren ebenso wie eine 1987 auswärts durchgeführte Knochenszintigraphie ohne pathologischen Befund. Eine Beckenkammbiopsie hatte auf Wunsch des Patienten abgebrochen werden müssen. Familienanamnese: In der Familie leiden einer von zwei Brüdern, die 63 Jahre alte Mutter sowie die Großmutter mütterlicherseits an einer Gangstörung. Die Schwester ist nicht betroffen.

FamilieE Bei dem 36jährigen Mann, der seit der Kindheit stottert, fiel seit dem 14. -16. Lebensjahr eine Gangerschwernis mit kleinen Schritten und Steifigkeitsgefühlen der Beine auf, die bei Alkoholgenuß und Kälte zunahm. Eine wesentliche Progredienz wurde nicht beobachtet. Bis 1988 betrieb er über Jahre einen ausgeprägten Alkoholabusus. Bei der neurologischen Untersuchung fanden sich links betont gesteigerte Muskeleigenreflexe an den Beinen ohne Pyramidenbahnzeichen sowie eine spastische Tonuserhöhung der unteren Extremitäten. Paresen ließen sich nicht nachweisen. Die Reflexe an den oberen Extremitäten waren mittellebhaft bis lebhaft und seitengleich. Ansonsten fand sich lediglich eine leichte Pallhypästhesie distal an den unteren Extremitäten. Röntgenaufnahmen der Wirbelsäule ergaben keine Auffälligkeiten. Zu dem Zeitpunkt, als der Alkohol-

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abusus noch bestand, waren in einer auswärtigen Klinik beidseits pathologische Latenzen der Komponente PI 00 der VEP bei normalen Amplituden gemessen worden. Damals soll auch eine deutliche Schrankenstörung ohne Hinweise auf ein immunreaktives Liquorsyndrom bestanden haben, während sechs Jahre zuvor sowohl VEP als auch Liquorbefund als unauffällig beschrieben wurden. Der Schillingtest ergab keine Hinweise auf eine Vitamin-B 12-Resorptionsstörung. Familienanamnese: Von der mütterlichen Seite sind keine neuromuskulären Erkrankungen bekannt, väterlicherseits konnten keine Angaben zur Familienanamnese gemacht werden.

Fortsehr. Neurol. Psychiat. 59 (1991)

waren asymptomatisch, boten jedoch einen pathologischen Untersuchungsbefund. Dagegen waren bei Typ 11 mit rapiderem Verlauf und Manifestation zwischen 3. und 7. Lebensjahrzehnt Paresen, Blasen- und Sensibilitätsstörungen deutlicher als bei Typ I. Die autosomal-rezessiv vererbte Form ähnelt in ihren Symptomen sehr der dominant vererbten Variante vom Typ I, wogegen in einer älteren Studie (6) eine frühere Manifestation und eine schnellere Progredienz für rezessiv vererbte Fälle beschrieben wurde. Innerhalb derselben Familie besteht eine Tendenz zu einem ähnlichen klinischen Verlauf (24). Dem autosomalen Vererbungsmodus entsprechend werden Männer und Frauen etwa gleich häufig hetroffen. Von Fami· lien mit X-chromosomal rezessivem Erbgang ist gelegentlich heriehtet worden (43).

Diskussion Die hereditäre spastische Spinalparalyse gehört zu den seltenen Erkrankungen des Nervensystems. Immerhin hat Hecker (1966) (4) 80 Familien erwähnt, die annähernd 200 Erkrankte umfaßtcn. Von 672 Patienten mit einem paraspastischcn Syndrom, die innerhalb von 16 Jahren in einer Klinik aufgenommen worden waren, konnte jedoch nur bei 16 (3 'X,) die Diagnose einer hereditären spastischen Spinalparalyse gestellt werden (44). Die Erkrankung manifestiert sich vorwiegend in der ersten Lebenshälfte, wobei sich ein Gipfel zwischen dem 1. und 5. und ein zweiter Gipfel zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr herausheben (25). Sie kann jedoch noch in höherem Lebensalter auftreten. Das klinische Bild wird geprägt von einer im Beginn fast unmerklichen Gangstörung, die eine nur geringe Progredienz zeigt. Allmählich entwickelt sich ein mühsamer, unelastisch, steif und verlangsamt wirkender Gang. Bei früher Manifestation fallen die Kinder durch ein verzögertes Laufenlernen auf; sie stolpern und stürzen häufig, besonders bei Unebenheiten des Bodens. Auffallend ist die Neigung, auf Vorfuß und Zehen zu gehen, so daß früh eine SpitzfußsteIlung beobachtet werden kann. Klinisch stellt sich zunächst eine Rellexsteigerung an den unteren Extremitäten ein. Erst im weiteren Verlauf entwickeln sich Paresen der Fuß- und Zehenextensoren, den Prädilektionsstellen einer zentralen Parese, und es treten eine spastische Tonuserhöhung der Beine, ein positives Zeichen nach Babinski und Kontrakturen auf. Die Diskrepanz zwischen Gehbehinderung und klinischem Befund, der eventuell nur eine mäßige Rellexsteigerung an den unteren Extremitäten zeigt, kann unter Umständen erheblich sein. Die spastische Bewegungsstörung kann sehr unterschiedliche Ausmaße annehmen und von einer nur leichten Gehbehinderung bis zur Bindung an Rollstuhl oder Rettlägrigkeit reichen. Die oberen Extremitäten werden wesentlich später und weniger ausgeprägt als die Beine betroffen. In Anbetracht der klinischen und genetischen Heterogenität schlug Harding (23) aufgrund eigener Untersuchungen eine Unterteilung in einen autosomal dominant vererbten Typ I und 11 sowie eine autosomal rezessiv vererbte Variante vor, wobei zusätzliche Rellexsteigerung, leichte distale Muskelatrophien und leichte Dysdiadoehokinese jeweils der oberen Extremitäten keine Ausschlußkriterien darstellten. Der sehr langsam progrediente Typ I manifestierte sich zwischen der I. und 4. Lebensdekade; eine Gehbehinderung war nicht selten, die Spastizität der unteren Extremitäten deutlicher als die Schwäche ausgeprägt, und die Schwere der Erkrankung sehr variabel. 16'% der Untersuchten über 20 Jahre

Das klassische Rild der hereditären spastischen Spinalparalyse zeigen die hier vorgestellten Patienten aus den Familien B bis E, die sich sämtlich Typ I der obigen Klassifikation zuordnen lassen. Mit Ausnahme der Patientin aus Familie R verlief die Erkrankung relativ benigne; die oberen Extremitäten waren nur bei den Patienten Bund C in Form einer Bradydiadochokinese bzw. einer Reflexsteigerung betroffen bei subjektiv nicht empfundener Beeinträchtigung der Gebrauchsfertigkeit der oberen Extremitäten. Eine Pailhypästhesie, wie sie bei den Patienten C, D und E anzutreffen war, stellt kein ungewöhnliches Symptom dar. Im Fall von Patient E könnte es allerdings durch den frühcrcn Alkoholabusus mitbedingt sein. Diese Auffalligkeiten werden mit zunehmender Krankheitsdauer und bei Typ 11 häufiger angetroffen (23) und sind vereinbar mit pathologisch anatomischen Befunden, wo· nach neben der dominierenden Demyelinisierung der Pyramidenseiten- und -vorderbahnen und einer Atrophie der kortikalen Ganglienzellen der 111. und IV. Rindenschicht auch ein Refall der Hinterstränge und der Clarkeschen Säule heobachtet wurden. Da bei etwa der Hälfte der autopsicrten Fälle einc Bcteiligung des Tractus spinocerebellaris nachgewiescn werdcn konnte (34), überrascht eine milde Ataxie der oberen Extremitäten nicht, wobei zu berücksichtigen ist, daß die meisten auto opsierten Patienten einen langen Krankheitsverlauf hatten. Andererseits dürfte ein gewisser Grad der Degeneration der Hinterstränge erforderlich sein, um Sensibilitütsausfälle klinisch evident werden zu lassen. Im Gegensatz zu den andercn Patienten zeigte Patient A I akzessorische Symptome: eincn imperativcn Harndrang, eine Atrophie der kleincn Fußmuskulatur, Sensibilitätsstörungen, einc Palihypästhesie als Hinwcis auf eine Hinterstrangaffektion sowie einen dysmetrischen Knie-HackenVersuch; scin Bruder, Patient A2, eine Dysmetrie der oberen und untcrcn Extremitäten, eine Dysdiadochokinese der Hände sowic cinc Pallhypästhesie an den Füßen. Die beobachte- . tcn Miktionsstörungen sind bei der hereditären spastischen Spinalparalyse häufiger anzutreffen, als früher angenommen (23). Distale. meist leicht ausgeprägte Muskelatrophien besonders an den unteren Extremitäten gehören zu den häufigsten akzessorischen Symptomen und sind bei längerer Krankheitsdauer öfter zu beobachten (23). Im Laufe der Zeit sind zahlreiche Fälle mit einer Kombination aus hereditärer spastischer Spinalparalyse und weiteren Symptomen eines Befalles von Geweben ektodermalen Ursprungs beschrieben worden, die zumeist autosomal rezessiv vererbt werden und sich in den ersten beiden Dekaden manifestieren. Tab. 2 gibt eine Übersicht. Insgesamt sind alle diese "komplizierten" Formen aller-

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Familiäre spastische Spinalparalyse

Fortsehr. Neurol. Psychiat. 59(199/)

Ed::ard Klemm, Wo/lxilllg Tackmilllfl

Tab. 2 Übersicht Uber die häufigsten bisher beschriebenen Syndrome mit dem Bild einer hereditären spastischen Spinalparalyse in Kombination mit akzessorischen Symptomen (in Anlehnung an 22, modifiziert und erweitert)' Symptomatik neben der spastischen Paraparese

Erbgang

Alter

Lit.

,reine" hereditäre spastische Spinalparalyse autosomal dominant: Typ 1+ Typ 11+ autosomal rezessiv+ X-chromosomal gebunden rezessiv (?)

AD AD AR

1.-4. 3.-7. 1.-4.

23, 24, 31 23, 24, 31 23, 24, 31

XR

1.-2.

43

ähnlich einer HMSN (Peronaealatrophie)+ AD distale Muskelschwäche, Athetose, Retardierung, Kleinwuchs (Troyer-Syndrom) AR 1. Muskelatrophien der Hände AD 1.-3. distale Muskelatrophie, Dysarthrie, Ataxie ± Mitralklappenprolaps (Charlevoix-Saguenay-Syndrom) AR 1. Amyotrophie der oberen und unteren AR oder Extremitäten [und Hyperglyzinämie) XR 1.-2. ähnlich einer amyotrophen Lateralsklerose AR 1. vegetative Neuropathie (Ulzerationen) AR oder AD 1.-2. Makuladegeneration, Oligophrenie und Amyotrophie + AR 1.-2. Optikusatrophie AR? 1. Optikusatrophie ± Dysarthrie+ AR oder AD 1.-2. Taubheit XR 1.-2. Ataxie, Dysarthrie und Ophthalmoplegie AD 4.-5. Ophthalmoplegie, Dysarthrie und extrapyramidale Symptome AD 4.-5. Ataxie und Nystagmus+ AR 1.-2. Dysarthrie, Demenz und Athetose (Mast-Syndrom) AR 2. Dystonie oder Athetose + Amyotrophie AD 1.-2. Demenz und Ichthyrosis (Sjögren-Larsson-Syndrom) AR 1. Epilepsie kardiale Leitungsstörungen und Optikusatrophie AD? 3. gestörte Hautpigmentierung AR oder ± kardiale Leitungsstörungen AD 1.-2. ektodermale Dysplasien XD? 1.-2. Hirsutismus [und Zystinurie 1 ? 5.-6.

1.-6.15

12 36

7

3 20

9,27 26 30 17

48 46

8

38 13

Spinalparalyse sind verdünnte Fasern in der Columna posterior nahe des Eintritts in das Rückenmark gefunden worden. während periphere Nerven. Hinterwurzeln und Spinalganglien von dem Degenerationsprozeß ausgespart waren. Diese Befunde könnten darauf hindeuten. daß die sensiblen Bahnen proximal der Spinalganglien eine Läsion aufweisen (5). In diesem Zusammenhang ist die Ableitung pathologischer spinaler somatosensorisch evozierter Potentiale (SEP) von Interesse (42). die eher für eine zentrale Axonopathie als für eine Degeneration des I. sensiblen Neurons in toto spricht. Verlüngerte Latenzzeiten der visuell evozierten Potentiale (VEP) stellen einen Indikator für eine klinisch eventuell stumme Affektion der Sehbahn dar. Während in einer Studie an II Patienten mit hereditärer spastischer Spinalparalyse (21) bei 9 von verlängerten Latenzzeiten berichtet wurde - wobei zwischen Patienten mit autosomal dominantem und rezessivem Erhgang keine Unterschiede bestanden und die 5 oblig

[Familial spastic spinal paralysis--clinical spectrum and differential diagnostic considerations].

The familial spastic paraplegia is a rare disorder of the cerebral nervous system characterized by a slowly progressive spasticity of the lower limbs ...
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