2.040

Jakesz, Wuketich: Familiäres bilaterales Nierenzellkarzinom und zerebellares Hämangioblastom

Deutsche Medizinische Wochenschrift

Dtsch. med. Wschr. 103 (1978), 2040-2045

Familiäres bilaterales Nierenzellkarzinom und zerebellares Hämangioblastom

Familial bilateral renal-cell carcinoma and cerebellár haemangioma

R. Jakesz und St. Wuketich

In three brothers of a family with a high incidence of cancer a bilateral renal-cell carcinoma was demonstrated. In the index case there was also a cerebellar haemangioblastoma. At necropsy primary bilateral renal-cell carcinoma was demonstrated while intrarenal metastases were excluded. The cases are considered to be predominantly renal manifestations of the von Hippel-Lindau syndrome with facultative oculocerebellar involvement. Urological and cytogenetic study of other family members provided no evidence of further manifestations of the syndrome. Clinical supervision of members of such families is indicated.

Pathologisches Institut des Krankenhauses der Stadt Wien-Lainz

Bi drei Brüdern einer Karzinomfamilie wurde ein bilaterales Nierenzellkarzinom gefunden. Beim Propositus bestand eine Kombination mit zerebellarem Hämangioblastom. Autóptisch konnte die primäre bilaterale Entstehung der Nierenzellkarzinome erwiesen und intrarenale Metastasierung ausgeschlossen werden. Die Fälle werden als vorwiegend renale Manifestation des von-Hippel-Lindau-Syndroms mit nur fakultativer okulozerebellarer Beteiligung aufgefaßt. Eine urologische und zytogenetische Untersuchung der Familienmitglieder ergab keinen Hinweis auf weitere Manifestationen des Syndroms. Eine klinische Kontrolle der Mitglieder solcher Familien ist wegen des häufigen Auftretens der Nierenzellkarzinome angezeigt. D as Nierenzellkarzinom (synonym: renales Adenokarzinom, Hypernephrom, hypernephroides Karzinom) zählt

zu den relativ häufigen Tumoren, nach Lucké und Schlumberger (21) findet es sich im nicht ausgewählten Autopsiegut in 0,3%. Das Nierenzellkarzinom ist im allgemeinen einseitig, nur in 1,8% bilateral (36). Wright (38) erwähnt mehr als 80 Fälle beiderseitiger Nierenzellkarzinome, fast ausschließlich aus der angloamerikanischen Literatur, im deutschen Schrifttum 'iegen Beobach-

tungen von Alnor (1), Rummelhardt (29), Sváb (35), Hillenbrand und Hörstebrock (9) und Flick (6) vor. Ein familiäres Vorkommen einseitiger Nierenzellkarzinome ist überaus selten und wurde bisher nur in Einzellällen beschrieben (3, 18, 28, 30, 34). Familiäre beiderseitige Niereñzellkarzinome sind ausschließlich im Rahmen des Morbus von-Hippel-Lindau bekannt. Bis heute übersehen wir Mitteilungen über 13 Patienten (5, 12, 15, 17, 19,25, 26). Im folgenden soll, erstmalig im deutschen Schrifttum, über familiäres bilaterales Nierenzellkarzinom mit zerebellarem Hämangioblastom, jedoch ohne Angiomatosis retinae berichtet werden. Anhand dieses Krank-

heitsbildes sollen seine Einordnung in den »LindauKomplex« erörtert, spezielle Fragen der klinischen und morphologischen Differentialdiagnose besprochen und der besondere renale Aspekt des Morbus von-HippelLindau beleuchtet werden.

Kasuistik FaIl 1: Nach Angaben des 42jährigen Mannes G. E., Propositus der Serie, ist der Vater an Bronchus-, die Mutter an Uteruskarzinom, der Großvater väterlicherseits an Magen-, die Großeltern mütter0012-0472/78

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licherseits an Lungen- bzw. Blasenkarzinom gestorben. Im Alter von 38 Jahren traten bei dem Patienten plötzlich Krankheitsgefühl, Erbrechen und Desorientiertheit auf. Bei der Untersuchung in der Neurochirurgischen Klinik der Universität Wien fanden sich Hirndrucksymptome mit mäßigen Stauungspapillen. Durch Angiographie und Ventrikulographie konnte ein raumfordernder Prozeß im Kleinhirn aufgedeckt werden. Bei der Operation zeigte sich an der rechten Kleinhirntonsille unter pathologischen Gefäßen ein bohnengroßer,

weißlicher Tumor, der glatt exzidiert werden konnte. In der Tiefe fand sich eine große, fast die ganze rechte Kleinhirnhemisphäre ein-

nehmende Zyste, für die nach breiter Inzision ein Abfluß in die Cisterna cerebellomedullaris geschaffen wurde. Histologisch erwies sich der Kleinhirntumor als typisches Hämangioblastom (sogenannter Lindau-Tumor) mit Gefäßschlingen und Gefäßnetzen, Konvoluten auffallend dünnwandiger Gefäße und zahlreichen, dicht gepackten und locker eingestreuten großen hellen, lipidspeichernden Stromazellen zwischen den Gefäßwucherungen (Abbildung 1 a und b).

Nach der Operation erholte sich der Patient gut und war beschwerdefrei. Zwei Jahre später bekam er aus völligem Wohlbefinden Schmerzen in der linken Lendengegend und eine Hämaturie. Bei einer auswärts durchgeführten Probefreilegung fand sich ein mächtiger Nierentumor mit ausgedehnter Infiltration in die Umgebung. Wegen einer schweren Blutung mußte die Operation abgebrochen werden. Nachbehandlung durch Kobaltbestrahlungen und mit Zytostatika. Ein Jahr später, nunmehr 41 jährig, wurde der Patient in der Urologischen Abteilung des Krankenhauses der Stadt Wi9n-Lainz

aufgenommen. Die Nierenfunktionswerte lagen im Bereich der Norm. Bei der Infusionsurographie mit Nierentomographie fanden sich raumfordernde Veränderungen am oberen Pol der rechten und

am unteren Pol der linken Niere, die sich bei Szintigraphie und Angiographie als tumorös erwiesen. Röntgenologisch war ein Rundherd im linken Lungenunterfeld nachweisbar. In Anbetracht dieser

Befunde schien eine chirurgische Therapie nicht angezeigt. Sechs Monate später zeigten Szintigramme der Lunge und Leber eine diffuse Metastasierung. Der Patient starb am 22. 2. 1972, zwei Jahre nach Auftreten der ersten Nierensymptome. Autoptisch fanden sich grobknotige, rötlichgelbe Tumormetastasen in beiden Lungen und in der Leber und eine dichte Aussaat auf beide Pleurablätter und auf das Peritoneum. Die linke Niere war in

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Georg Thieme Verlag, Stuttgart

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Abb. 1. Fall 1: Hämangioblastom des Kleinhirnes. a) Tumorrandzone. Wucherung aus blutgefülltenGefäßkanälen,solidenGefäßsprossungen und locker eingestreuten hellen Strornazellen. Hämatoxylin-Eosin, 44 : 1. - b) Tumorzentrum. Ektatische Tumorgefäße und größere Nester heller Stromazellen - zhypernephroider Aspekt«. Hämatoxylin-Eosin, 106 : 1.

Abb. 2. Fall 1: Bilaterales polytopes Nierenzellkarzinom. Großer in-

filtrierender Tumor in der kaudalen Hälfte der linken Niere und multiple kugelige, teilweise scheckige Tumoren in der kranialen Hälfte der linken und in der ganzen rechten Niere. Kleinere Zysten in der rechten Niere (Pfeile).

Abb. 3. Fall 1: Renales Adenokarzinom, linke Niere. Undifferenzierte polymorphe Adenokarzinomwucherungen und reife hellzellige Formationen. Hämatoxylin-Eosin, 106: 1. - b) Tubulo-papilläre Adenokarzinomwucherungen. Hämatoxylin-Eosin, 106: 1.

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Nr. Sl, 22. Dezember 1978, 103. Jg.

Jakesz, Wuketich: Familiares bilaterales Nierenzellkarzinom und zerebellares Hämangioblastom

Deutsche Medizinische Wochenschrift

Çs

Abb. 3 c. Intrarenale lymphangische Tumorausbreitung. Hämatoxvlin-Eosin, 44 : 1.

Abb. 4. Fall 1: Renale Adenokarzinome, rechte Niere. a) Reifes helizelliges Adenokarzinom. Kleiner Einbruch in die Tumorkapsel (Pfeil). Hämatoxylin-Eosin, 44: 1. - b) Mikrozystisches Adenokarzinom. Härnatoxylin-Losin, 106: 1.

Abb. 5. Fall 3: Selektive Nierenangiographie, Parenchymphase. Dicht angefärbte Tumorherde in beiden Nieren und kugelige Aussparungen (Zysten).

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Nr. 51, 22. Dezember 1978, 103. Jg.

Jakesz, Wuketich: Familiäres bilaterales Nierenzellkarzinom und zerebellares Hämangioblastom-

ihrem Bett von Tumormassen ummauert. Die kaudale Nierenhälf te war von einem unscharf begrenzten, in die Kapsel und in das Nierenbecken einbrechenden, mehr weißlichen als gelblichen, ausgedehnt

nekrotischen Tumor eingenommen. Am oberen Pol lag ein 2 cm großer, runder, scharf begrenzter, gelber Knoten, ohne Zusammen-

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nicht bei dem einen Bruder, der zum Zeitpunkt der Chromosomenuntersuchung noch klinisch gesund, später an bilateralem Nierenzellkarzinom gestorben war (Fall 3).

hang mit dem Haupttumor. In der rechten Niere zeigten sich bis 7 cm große, überwiegend scharf begrenzte ockergelbe, teilweise rot gescheckte, weiche Tumorknoten, daneben Zysten am unteren Pol (Abbildung 2). In der rechten Kleinhirnhemisphäre lag eine 4 cm große, glattwandige Zyste ohne Tumorrest.

Die histologische Untersuchung des großen Tumors der linken Niere ergab ein Adenokarzinom mit unterschiedlicher Differenzie-

p

Il

besser differenziert, adenomatös und teilweise auch reif, hellzellig, örtlich in Kollision mit den unreifen Wucherungen (Abbildung 3 a). Manche Areale enthielten differenzierte tubulo-papilläre Formadonen (Abbildung 3 b), die sich auch in intrarenalen Lymphgefäßen ausbreiteten (Abbildung 3 c). Das histologische Bild der Tumoren der rechten Niere entsprach überwiegend hellzelligen Adenokarzi-

Propositus

rA

VA

nomen. Diese hellzelligen Karzinome waren zumeist fibrös umkapselt, örtlich brachen kleine Tumorzapfen in die Kapsel ein (Abbildung 4 a). Ein Tumor am unteren Pol erschien gut differenziert und mikrozystisch (Abbildung 4 b). Der Unterschied in der Differenzierung und Reife zum großen Tumor in der linken Niere war auffällig.

Fall 2: G. K., 36jähriger Bruder des Propositus, kam wegen 12 kg Gewichtsverlustes innerhalb 6 Monaten zur stationären Aufnahme in einem auswärtigen Krankenhaus. Der Patient war in stark herabgesetztem Allgemeinzustand, die rechte Niere war deutlich tastbar. Im Lungen-Röntgenbild wurden in beiden Unterfeldern Rundherde nachgewiesen. Bei der Infusionspyelographie fanden sich Vergrößerung beider Nieren und Spreizung, Deformierung und Ausweitung der Nierenkelche als indirekte Zeichen für bilaterale raumfordernde Prozesse. Lungen-Röntgenkontrollen im Verlauf von Ganzkörper-

bestrahlungen zeigten eine rasche Zunahme der Rundherde. Der Patient wurde auf eigenen Wunsch nach Hause entlassen und starb kurz darauf. Eine Obduktion wurde nicht durchgeführt. Fall 3: G. F., 37jähriger Bruder des Propositus, wurde wegen Gewichtsverlustes und tastbarer Tumoren im rechten und linken Unterbauch hospitalisiert. Er befand sich in schlechtem Allgemeinzustand,

Schmerzen und Hämaturi bestanden nicht. Die Infusionspyelographie und die anschließende selektive Nierenangiographie zeigten ausgedehnte beiderseitige Tumorbildungen und Hinweise auf Nieren-

zysten (Abbildung S). Im Lungen-Röntgenbild waren beiderseits Rundherde nachweisbar, in der Hirnszintigraphie eine pathologische Speicherung links parieto-okzipital. Während des stationären Aufenthaltes trat eine Hämaturie auf. Auffällig war außerdem eine Erythrozytose (5,8 X 1012/1). Wegen der Inkurabilität wurde von einer Freilegung der Nieren Abstand genommen. Der Patient starb

bald darauf zu Hause. Eine Autopsie konnte nicht vorgenommen werden.

Ergebnisse der Familienuntersuchung Wie aus dem Familienstammbaum (Abbildung 6) ersichtlich, sind von den fünf Geschwistern des Propositus zwei

mit geklärter Diagnose, an bilateralen Nierenkarzinomen, gestorben. Bei den drei lebenden Geschwistern und

drei Kindern dieser Generation wurde als urologische Screening-Untersuchung eine intravenöse Pyelographie durchgeführt, die keinen pathologischen Befund ergab. Chromosomenuntersuchungen1 wurden bei zwei Geschwistern und den beiden Kindern des Propositus vorgenommen. Chromosomenaberrationen oder Chromosomenbrüche konnten nicht aufgedeckt werden, auch Wir danken Frau Dr. Anderle, Ludwig-Boltzmann-Institut zur Erforschung kindlicher Hirnschäden, Wien, für die Durchführung der Chromosomenuntersuchungen. 1

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rung. Ein großer Teil des Tumors zeigte entdifferenzierte polymorphe, pseudosolide Formationen, kleinere Abschnitte waren

lv

VAHA sInnlich weiblich

* pyelographisch untersucht

Karzinom verschiedener Lokalisation bilaterales hypernephroides Nierenkarzinom

O chromosomal untersucht

Abb. 6. Stammbaum der Familie »G«.

Diskussion 1926 wurde von Lindau (20) die Kombination von Angiomatosis retinae und Zysten oder Angioblastomen des Kleinhirns als Syndrom definiert und intestinale Mitbeteiligung in Form von Zysten in Nieren und Pankreas und gutartigen »Hypernephromen« der Niere beschrieben. Heute sind fast in allen Organen Manifestationen wie Zysten oder gutartige Tumoren bekannt. Kernohan und Mitarbeiter (17) berichteten als erste über das Vorkommen von Nierenkarzinomen, auch doppelseitig, im Rahmen der von-Hippel-Lindauschen Erkrankung. Obwohl die Ätiologie der von-Hippel-Lindauschen Krankheit bis heute unklar ist, steht eine eindeutige familiäre Disposition über eine autosomal dominante Vererbung fest (27). Christoferson und Mitarbeiter (S), Lauritsen (19) und andere Autoren beschrieben Stammbäume großer von-Hippel-Lindau-Familien und fanden eine 12% ige (5) bis 80-90% ige (31) Penetration. In der Literatur über das von-Hippel-Lindau-Syndrom sind 13 Fälle mit doppelseitigem Nierenzellkarzinom enthalten, sechs davon nur mit zerebellarem Hämangioblastom, jedoch ohne retinale Angiomatose. Das entspricht dem

Befund beim Propositus unserer Serie von familiärem bilateralem renalem Adenokarzinom. Während der Propositus unserer Serie offenbar in den

Lindau-Komplex eingeordnet werden kann, kann auf die Zugehörigkeit der beiden gestorbenen Brüder zu diesem Komplex nur daraus geschlossen werden, daß zwar familiäre einseitige hypernephroide Nierenkarzinome ohne von-Hippel-Lindau-Syndrom wiederholt mitgeteilt wurden (3, 18, 30, 34), über familiäre bilaterale Nierenkarzinome bisher aber ausschließlich beim von-HippelLindau-Syndrom berichtet wurde (5, 12, 15, 17, 19, 25,

26). Klinisch bestanden bei den beiden Brüdern keine

-

Jakesz, Wuketich: Familiäres bilaterales Nierenzellkarzinom und zerebellares Hämangioblasrom

retinale Angiomatose und keine zerebellare Symptomatik, also kein Hinweis auf die Hauptbefunde des LindauKomplexes. Eine autoptische Klärung war allerdings bei diesen beiden Fällen nicht möglich. Damit erhebt sich die Frage, ob bilaterale familiäre Nierenzellkarzinome, wie

in der Literatur behauptet (19, 26), stets mit retinaler Angiomatose und (oder) zerebellarem Angioblastom vergeseilschaftet sein müssen. Die eigene Série könnte als

Vorkommen familiärer bilateraler renaler Adenokarzinome ohne von-Hippel-Lindau-Syndrom bisher in der Literatur nicht beschrieben - gedeutet oder als vorwiegend renale Manifestation des von-Hippel-LindauKomplexes mit nur fakultativer okulozerebellarer Beteiligung aufgefaßt werden. Wenn demnach die Einordnung in den Lindau-Komplex Fragen aufwirft, so besteht kein Zweifel, daß unsere

Serie sogenannten Karzinomfamilien zuzurechnen ist. Wie aus dem Stammbaum der Familie »G« zu entnehmen ist, bestand eine Häufung maligner Erkrankungen bei drei der vier Großeltern und bei beiden Eltern, in der Generation des Propositus bei drei der sechs Geschwister.

Lynch und Mitarbeiter (23, 24) wiesen im Rahmen des Studiums sogenannter Karzinomfamilien auf ein mögliches dominantes Erbmuster hin, deuteten aber auch an, daß die erbliche Prädisposition erst unter der Einwiriung exogener Faktoren zur Krankheitsmanifestation führt. Das breite Spektrum der möglichen Organmanifestationen bei der von-Hippel-Lindauschen Erkrankung (10) wirft in der klinischen Diagnostik häufig eine Fülle von Fragen auf. Liegt eine Symptomatik mit klinisch manifestem okulozerebellarem Befall vor, was nach Horton und Mitarbeitern (10) etwa nur bei jedem dritten Mitglied einer von-Hippel-Lindau-Familie zu erwarten ist, dann ergeben sich keine besonderen diagnostischen Probleme, und es kann nach anderen Organbeteiligungen gezielt gefahndet werden. In einem Drittel besteht zwar eine okulozerebellare Manifestation, sie bleibt aber kli-

nisch okkult, beim Rest fehlt sie überhaupt. Bei den letzten beiden Patientengruppen kann sich im Einzelfall die Diagnose von-Hippel-Lindau-Komplex durch kombinierten Befall intestinaler Organe in Form von Pankreas-, Nieren-, Leberzysten, gutartigen Tumoren in

Pankreas, Niere, Nebenniere und Leber und ein- und beiderseitigen Nierenzellkarzinomen ergeben.

Unter den zahlreichen Organbeteiligungen ist das Nierenzellkarzinom der einzige maligne Tumor. Es besteht bei diesem Tumor die Tendenz zum polytopen Auftreten einseitig oder beiderseitig. Nach Horton und Mitarbeitern (10) ist nach autoptischen Untersuchungen bei

der Hälfte der von-Hippel-Lindau-Patienten mit dem 'Auftreten eines Nierenzellkarzinoms zu rechnen. Nach übereinstimmenden Berichten aus der Literatur wie auch beim Propositus dieser Serie tritt das zerebellare Häm-

angioblastom früher als das Nierenzellkarzinom auf (10, 19, 25). Daher wären bei jedem Patienten mit zerebellarem Angioblastom, aber auch mit retinaler Angiomatose, klinische Untersuchungen zum Nachweis oder zum Ausschluß eines Nierentumors zu fordern und auch auf die Familie auszudehnen. In unserer Serie sind -drei Brüder an bilateralen Nierenzellkarzinomen gestor-

Deutsche Medizinische Wochenschrift

ben, bei den untersuchten anderen Familienmitgliedern

konnte bis jetzt kein Anhaltspunkt für einen Nieréntumor gefunden werden.

Häufig und diagnostisch bedeutsam ist das gemeinsame Auftreten von Nierenzellkarzinomen und Nierenzysten. Beim Propositus unserer Serie konnten bilaterale Nierenzellkarzinome und Nierenzysten autoptisch, beim Fall 3 angiographisch nachgewiesen werden. Eine Induktion multizentrischer Nierenkarzinome auf dem Boden polyzystischer Veränderungen wird von Gibson (7) diskutiert. Im urologischen Aspekt der von-Hippel-Lindauschen Krankheit spielen Alters- und Geschlechtsverteilung eine gewisse Rolle. Bei den bilateralen Nierenzellkarzinomen beträgt im Rahmen dieses Syndroms das Durchschnitts-

alter der Patienten 40 Jahre und das Verhältnis von Männern zu Frauen 3 : 2 (10). Im Gegensatz dazu beträgt das Durchschnittsalter der Patienten mit beiderseitigen Nierenzellkarzinomen ohne von-Hippel-Lindausche Krankheit SO Jahre (6). Außerdem findet sich ein Überwiegen der Männer im Verhältnis von 9 : 1 (32). Die Altersverteilung bei den Fällen unserer Serie entspricht den Angaben in der Literatur. Bei einer familiären Erkrankung wie dem von-HippelLindau-Syndrom könnten genetische Veränderungen erwartet werden. Jam und Mitarbeiter (13) konnten bei

Chromosomenstudien bei Mutter und Kind mit ophthalmologisch diagnostizierter von-Hippel-Lindauscher Krankheit eine abnorm hohe Anzahl von Hypoploidien und Chromosomenbrüchen feststellen. Lauritsen (19) konnte diese Angaben nicht bestätigen. Die eigenen Untersuchungen bei vier Familienmitgliedern, darunter dem Fall 3 der Serie vor der klinischen Krankheitsmanifestation, ergaben keine Chron-josomenaberrationen.

Für die Anerkennung bilateraler maligner Primärtumoren der Niere gelten folgende strenge Kriterien: nahezu gleichzeitiges Auftreten, je ein Tumor in jeder Niere, partielle Kapselbildung um die Tumoren und verschiedene Grundhistologie (11, 32). Von diesen Kriterien kommt der unterschiedlichen histologischen Struktur die größte Bedeutung zu. Das unterschiedliche histologische Bild gilt als beweisend, das gleiche histologische Bild schließt aber bilaterale primäre Tumoren nicht aus. Bei der Entscheidung, ob dann bilaterale Primärtumoren oder Metastasierung in die kontralaterale Niere vorliegt, sind die anderen Kriterien heranzuziehen. Nach Bastable (2) ist die Metastasierungsfrequenz des Nierenzellkarzinoms in die kontralaterale Niere außerdem mit 1,34% gering. In unserem durch Autopsie histologisch geklärten Fall

- Propositus dieser Serie - ist die primäre bilaterale Entstehung der Nierenzellkarzinome gesichert. So sind die kleineren Tumoren in der rechten Niere gut differenziert, hellzellig-adenomatös, während der große Tumor in der linken Niere größtenteils einem entdifferenzierten Karzinom entspricht. Bei den kleineren Tumoren ist außer-

dem eine partielle Kapselbildung nachweisbar. Nach unserer Auffassung und nach eigenen Erfahrungen sprechen polytope Tumoren in beiden Nieren nicht gegen primäre Bilateralität, was ja auch beim eigenen Fall zutrifft und histologisch beweisbar ist. In Analogie

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Jakesz, Wuketich: Familiäres bilaterales Nierenzellkarzinom und zerebellares Hämangioblastom

dazu und unter besonderer Berücksichtigung des sirnultanen klinischen Nachweises sind die bilateralen Nierentumoren bei den beiden gestorbenen, nicht obduzierten Brüdern als primär anzusehen. Ein besonderer morphologischer Aspekt ergibt sich aus der Ähnlichkeit der hellzelligen zerebellaren Hämangioblastorne und der hellzelligen Nierenkarzinome. Nach Silver (31) kann es schwerfallen, zerebellare Angioblastome von Metastasen helizelligér Nierenkarzinome zu unterscheiden. Bei der eigenen Beobachtung war die

Diagnose Hämangioblastom nicht zweifelhaft, da die Wucherung lipidspeichernder heller Stromazellen typischerweise zwischen den tumorösen Gefäßsprossungen gefunden wurde.

Sowohl beim Nierenzellkarzinom als auch beim zerebellaren Hämangioblastom kommt als paraneoplastisches Syndrom Erythrozytose durch Erythropoietinbildung im Tumorgewebe vor (4, 14, 16, 37, 39). Bei den eigenen Fällen bestand eine mäßige Erythrozytose.

Wie schon früher erwähnt, ist nach Horton und Mitarbeitern (10) bei der Hälfte der vori-Hippel-Lindau-Patienten mit dem Auftreten eines Nietenzellkarzinoms zu rechnen. Die leicht durchzuführende klinische, insbesondere urologische Uberwachung der Mitglieder von

Lindau-Familien könnte zur Früherfassung der Nierentumoren führen. Durch die Früherfassung könnte selbst bei beiderseitigen Nierenkarzinomen ohne Fernmetastasen die Indikation zur bilateralen Nephrektomie gestellt werden. Literatur Alnor, P. C.: Doppelseitige Nierentumoren, ein Beitrag zur Differential. diagnose. Z. Urol. 45 (1952), 693. Bastable, J. R. G.: Bilateral carcinoma of the kidney. Brjt. J. Urol. 32 (1960), 60.

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Dozent Dr. St. Wuketich Pathologisches Institut Krankenhaus der Stadt Wien-Lainz A-1130 Wien, Wolkersbergenstr. 1

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Nr. 51, 22. Dezember 1978, 103. Jg.

[Familial bilateral renal-cell carcinoma and cerebellar haemangioma (author's transl)].

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