Leitthema Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:650–659 DOI 10.1007/s00103-014-1966-8 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

N. A. Lahmann1 · C. Heinze2 · A. Rommel3 1 Institut für Gesundheits- und Pflegewissenschaft, Charité Universitätsmedizin Berlin 2 Evangelische Hochschule Berlin 3 Robert Koch-Institut, Berlin

Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013 Häufigkeiten, Verletzungen, Risikoeinschätzung und durchgeführte Prävention

Nach Schätzungen der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin (BAuA) gab es in Deutschland im Jahr 2011 ca. 8,7 Mio. tödliche und nichttödliche Unfälle [1], darunter viele Stürze. Differenzierte Informationen zum Unfallgeschehen, die es beispielsweise erlauben, die Häufigkeit von Stürzen bevölkerungsweit zu schätzen, liegen nur unregelmäßig und auf Basis von Bevölkerungsbefragungen vor [2, 3]. Dabei beziehen diese Untersuchungen überwiegend zu Hause lebende Personen ein. Nach Angaben der repräsentativen Gesundheitsbefragung „Gesundheit in Deutschland aktuell 2010“ des Robert Koch-Instituts stellen Stürze mit einem knappen Drittel aller Unfälle den wichtigsten Unfallmechanismus dar. Auf Stürze entfallen bei Frauen 38,0 %, bei Männern 24,8 % aller ärztlich versorgten Unfälle. Zudem führen Stürze überdurchschnittlich häufig zu einem weiterführenden Behandlungsbedarf: 44,0 % der schwerwiegenden Unfälle, die einen stationären Krankenhausaufenthalt nach sich ziehen, ereignen sich aufgrund eines Sturzes [3]. Besonders in höheren Altersgruppen bestimmen Stürze das Unfallgeschehen: Bei Frauen ab 70 Jahren entfallen zwei Drittel (63,9 %) aller Unfälle auf Stürze, bei Männern etwa die Hälfte (52,6 %) [3]. Zudem ziehen Sturzunfälle bei älteren Menschen häufiger schwer-

wiegende Komplikationen nach sich. Während es insgesamt bei einem guten Drittel (34,4 %) aller Sturzunfälle zu Knochenbrüchen kommt, beträgt die Frakturrate bei Sturzunfällen unter den 70-Jährigen und Älteren 63,9 % bei den Frauen und 52,6 % bei den Männern [3]. Entsprechend häufiger kommt es bei älteren Menschen im Falle eines Sturzes unfallbedingt zu einem stationären Krankenhausaufenthalt [3]. Insbesondere sturzbedingte Frakturen können aufgrund von Mobilitätseinbußen zu einer Einschränkung der Aktivitäten des täglichen Lebens bis hin zur Heimaufnahme führen [4]. Eine weitere wichtige psychosoziale Folge von Stürzen ist die Entwicklung von Sturzangst, die zu Funktionseinschränkungen, Depression, herabgesetzter Lebensqualität und wiederum zu vermehrten Stürzen führen kann [5]. Stürze sind also insbesondere bei älteren Personen häufige unerwünschte Ereignisse mit möglicherweise dauerhaften und schwerwiegenden körperlichen und psychosozialen Folgen. Aufgrund dessen sollten Stürze auch während eines Aufenthaltes in Krankenhäusern oder Pflegeheimen vermieden werden. In Pflegeheimen wurden international durchschnittliche Sturzraten von 1,5 Stürzen pro Bett pro Jahr ermittelt [6]. Andere Studien schätzen den An-

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teil der Pflegeheimbewohner1, die innerhalb eines halben Jahres mindestens einmal stürzen, auf ca. 40 %. Besonders betroffen sind demenziell erkrankte Bewohner mit einem Anteil von 62 % [7]. Eine Studie mit 528 bayrischen Einrichtungen der stationären Langzeitversorgung ergab eine höhere Sturzinzidenz bei männlichen Bewohnern (2,2 Stürze pro Personenjahr) als bei Bewohnerinnen (1,5 Stürze pro Personenjahr) [8]. Während die Sturzrate bei den Männern mit zunehmendem Alter anstieg, nahm sie bei den Frauen jedoch ab. Bewohnerinnen und Bewohner mit den Pflegestufen 1 und 2 stürzten am häufigsten. Eine Auswertung der Daten aller bayrischen AOK-Versicherten im Alter ab 65 Jahren zu Hüftfrakturen ergab, dass ihre Rate bei pflegebedürftigen Älteren höher war als bei nicht pflegebedürftigen Personen [9]. Die Angaben zum Anteil gestürzter Patienten in Krankenhäusern variieren abhängig von den untersuchten Institutionen und den eingeschlossenen Fachbereichen zwischen 3 und 20 % [10]. Vor allem geN. A. Lahmann und C. Heinze teilen sich die Erstautorenschaft. 1 Zur sprachlichen Vereinfachung wird im Text die männliche Geschlechtsform benutzt, wenn beide Geschlechter gemeint sind.

riatrische, gerontopsychiatrische und innere Abteilungen zeigen sowohl national als auch international überdurchschnittlich hohe Sturzzahlen [11–13]. Eine große US-amerikanische Studie mit 1263 eingeschlossenen Krankenhäusern ermittelte eine durchschnittliche Rate von 3,5 Stürzen auf 1000 Patiententage, wobei 26 % der Stürze eine Verletzung zur Folge hatten. Verglichen mit den chirurgischen Abteilungen hatten Stationen der inneren Medizin sowohl höhere Sturzraten als auch mehr sturzbedingte Verletzungen [14]. Prospektive Beobachtungsstudien ergaben, dass Stürze in der Vorgeschichte, kognitive Beeinträchtigungen sowie die Einnahme von Sedativa und Psychopharmaka sowohl für Pflegeheimbewohner als auch für Krankenhauspatienten wichtige Sturzrisikofaktoren darstellen [15]. Darüber hinaus sind bei Pflegeheimbewohnern eine bestehende Parkinson-Erkrankung, funktionelle Beeinträchtigungen, Unruhezustände wie beispielsweise ruheloses Umhergehen, Schwindel, Hilfsmittelbenutzung, die Einnahme von Antidepressiva sowie Polypharmazie mit einem erhöhten Sturzrisiko assoziiert [4, 12, 15]. Der Expertenstandard Sturzprophylaxe in der Pflege benennt außerdem die Beeinträchtigung sensomotorischer Fähigkeiten wie Gang- und Balancestörungen, Kontinenzprobleme, Sturzangst und die Durchführung freiheitsentziehender Maßnahmen als Risikofaktoren [16]. In einer aktuellen Studie wurde zudem das Vorliegen einer Mangelernährung mit einer erhöhten Sturzhäufigkeit assoziiert [17]. Die Einschätzung des vorliegenden Sturzrisikos stellt für Pflegekräfte eine große Herausforderung dar. Die generelle Anwendung standardisierter Einschätzungsinstrumente in der Pflege kann aufgrund häufig nur mäßiger Vorhersagewerte und sporadischer Replikationsstudien nicht empfohlen werden [16, 18]. Deshalb sind die Pflegenden laut des Expertenstandards Sturzprophylaxe in der Pflege gehalten, das individuelle Sturzrisiko der Patienten oder Bewohner anhand der evidenzbasierten Risikofaktoren, die oben genannt wurden, einzuschätzen. Bislang ist jedoch in deutschen Gesundheitseinrichtungen noch nicht untersucht worden, inwiefern diese Risikofaktoren

zur klinischen Beurteilung des Sturzrisikos tatsächlich eine Rolle spielen. Einen großen Stellenwert nimmt bei der Sturzprävention die Beratung von Patienten und Bewohnern sowie ihrer Angehörigen ein [16]. In Krankenhäusern mit Patienten, die in der Regel eine längere Liegedauer haben, werden multifaktorielle sturzpräventive Maßnahmen, die auf das individuelle Sturzrisiko von Patienten zugeschnitten sind, sowie Bewegungsübungen als effektiv beschrieben [19]. Für den Pflegeheimbereich können dagegen derzeit keine klaren Schlussfolgerungen bezüglich multifaktorieller Maßnahmen sowie Bewegungsangeboten gezogen werden. Jedoch kann eine VitaminD-Substitution bei Bewohnern mit niedrigem Spiegel die Sturzrate verringern [4]. Letztendlich kommt der Schaffung einer sicheren Umgebung in beiden Settings eine hohe Bedeutung zu [16]. Trotz der Vielzahl von Studien zu Sturzhäufigkeiten und Sturzfolgen ist die Vergleichbarkeit ihrer Ergebnisse eingeschränkt. So werden laut der ProFaNEGruppe (Prevention of Falls Network Earth) häufig unterschiedliche Definitionen von Stürzen oder Sturzfolgen benutzt, oder die Erhebungsmethodik ist nicht vergleichbar [20–23]. Seit mehr als 13 Jahren werden vom Institut für Medizin-/Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin in deutschen Pflegeheimen und Krankenhäusern pflegerelevante Daten erhoben, darunter auch zu Sturzereignissen, sturzbedingten Verletzungen und zu sturzpräventiven Maßnahmen. Die jährliche standardisierte Erhebung ermöglicht es, die Sturzinzidenz und den Anteil sturzbedingter Verletzungen in Krankenhäusern und Pflegeheimen zu beschreiben und miteinander zu vergleichen. Folgende Forschungsfragen sollen daher im Folgenden beantwortet werden: 55Wie hoch ist die Sturzinzidenz in deutschen Pflegeheimen und Krankenhäusern und was sind die Sturzfolgen? 55Welche Determinanten sind mit der klinischen Einschätzung des Sturzrisikos von Pflegenden assoziiert? 55Welche sturzpräventiven Maßnahmen werden angewendet?

Methodik Design und Messmethoden In einem standardisierten Verfahren werden seit 2001 vom Institut für Medizin-/Pflegepädagogik und Pflegewissenschaft der Charité – Universitätsmedizin Berlin einmal jährlich Daten zu pflegerelevanten Gesundheitsproblemen erhoben. Dabei werden jedes Jahr bundesweit 5000 Informationsbroschüren an eine zufällige Auswahl aus allen deutschen Krankenhäusern mit einer Mindestgröße von 100 Betten und aus Pflegeheimen mit einer Mindestgröße von 50 Plätzen verschickt. Sie werden darin zur Teilnahme an der Studie eingeladen. Entscheidet sich eine Einrichtung zur Teilnahme, erhält diese vom Institut gegen eine geringe Gebühr (EUR 2,80 je Patient/ Bewohner) Erhebungsbögen, detaillierte Anleitungen, schriftliches und digitales Schulungsmaterial mit Definitionen, diagnostischen Hinweisen und Abbildungen. Ein von der Einrichtung bestimmter Studienkoordinator schult die an der Erhebung beteiligten Pflegekräfte. An einem festgelegten Erhebungstag werden alle Patienten und Pflegeheimbewohner durch direkte Inaugenscheinnahme untersucht, und es wird die Pflegedokumentation der letzten 14 Tage begutachtet. Anschließend werden die erhobenen Daten an das Institut geschickt. Dort werden sie elektronisch weiterverarbeitet und danach analysiert. Die beteiligten Einrichtungen erhalten daraufhin einen Bericht für ihr internes Qualitätsmanagement.

Studienteilnehmer Einschlusskriterium für die Teilnahme an der Studie ist das Vorliegen der informierten Zustimmung der Patienten und Bewohner. Die informierte Zustimmung wurde in jedem Jahr eingeholt. Kann ein Patient oder Pflegeheimbewohner aufgrund gesundheitlicher oder kognitiver Einschränkungen keine informierte Zustimmung geben, können Angehörige oder gesetzliche Betreuer in seinem Sinne entscheiden. Für die Durchführung der Studie besteht ein positives Votum der Ethikkommission der Ärztekammer Berlin (Eth-873-262/00).

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Zusammenfassung · Abstract Bundesgesundheitsbl 2014 · 57:650–659  DOI 10.1007/s00103-014-1966-8 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014 N. A. Lahmann · C. Heinze · A. Rommel

Stürze in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen 2006–2013. Häufigkeiten, Verletzungen, Risikoeinschätzung und durchgeführte Prävention Zusammenfassung Hintergrund.  Eine übergreifende systematische Erfassung zu Stürzen und Sturzfolgen in Gesundheitseinrichtungen in Deutschland existiert derzeit nicht. Ziel dieser Arbeit ist die Analyse von Häufigkeiten und Folgen von Stürzen in deutschen Krankenhäusern und Pflegeheimen, der diesbezüglichen Risikoeinschätzung und der durchgeführten Präventionsmaßnahmen. Material und Methoden.  Von 2006 bis 2013 wurden Querschnitterhebungen in insgesamt 124 Kliniken (N = 22.493 Patienten) und 332 Pflegeheimen (n = 25.384 Bewohner) durchgeführt. Geschulte Pflegekräfte erhoben Daten zur Sturzrate innerhalb der letzten 14 Tage sowie zu Schwere und Art der daraus resultierenden Verletzungen. Darüber hinaus sollten die Pflegekräfte durch direkte Inau-

genscheinnahme das Sturzrisiko einschätzen und die durchgeführten Sturzpräventionsmaßnahmen dokumentieren. Ergebnisse.  Über den gesamten Zeitraum lag die Sturzrate bei 3,9 % (95 %-KI 3,6–4,2) in Krankenhäusern und bei 4,6 % (95 %-KI 4,3–4,9) in Pflegeheimen. 6,4 % der gestürzten Heimbewohner und 8,8 % der gestürzten Krankenhauspatienten erlitten eine schwere Verletzung (z. B. eine Fraktur). In den Pflegeheimen wurden rund zwei Drittel der Bewohner als erhöht sturzgefährdet eingeschätzt, in den Krankenhäusern weniger als ein Drittel der Patienten. Assoziiert sahen Pflegende ein höheres Sturzrisiko mit eingeschränkter Mobilität, kognitiver Beeinträchtigung und Stürzen in den letzten 14 Tagen. Im Krankenhaus spielten darüber hinaus die Harninkontinenz

und das Alter eine große Rolle. Eine Beratung zum Sturzrisiko ist in beiden Einrichtungsarten die häufigste präventive Maßnahme. Schlussfolgerung.  Auch wenn die überwiegende Zahl der Stürze ohne gravierende Folgen blieb, so stürzte doch jeder 20. bis 25. Patient/Bewohner innerhalb der letzten 2 Wochen in Krankenhäusern oder Pflegeheimen. Ein Trend ist nicht erkennbar. Die Identifizierung der Risiken erlaubte eine gezielte Anwendung von Präventionsmaßnahmen und die Verbesserung der Versorgungspraxis. Durch die Studie liegen belastbare Zahlen für nationale und internationale Vergleiche vor. Schlüsselwörter Stürze · Krankenhaus · Pflegeheim · Sturzrisiko · Prävention

Falls in German hospitals and nursing homes 2006–2013. Frequencies, injuries, risk assessment, and preventive measures Abstract Background.  In Germany, a nationwide systematic collection of data regarding fall incidents within health-care facilities is lacking. The objective of the study was to provide valid and robust data on fall rates, the severity of the fall and its resulting injuries, fall risk assessment, and preventive measures offered by professional caregivers in German hospitals and nursing homes. Materials and methods.  Each spring from 2006 to 2013, cross-sectional studies were conducted in 124 hospitals (n = 22,493 patients) and 332 nursing homes (25,384 residents) throughout Germany. Fully trained nurses obtained information on the recent history (

[Falls in German hospitals and nursing homes 2006-2013. Frequencies, injuries, risk assessment, and preventive measures].

In Germany, a nationwide systematic collection of data regarding fall incidents within health-care facilities is lacking. The objective of the study w...
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