Referat 3

Der Geburtenrtickgang in Deutschland aus ~irztlicher Sicht H. Kirehhoff, GSttingen Der bekannte amerikanische Politiker und Finanzmann McNamara sagt in seinem aufschluBreichen und daher so lesenswerten Buch ,,Die Jahrhundertaufgabe - Entwicklung der Dritten Welt": ,,Die Vorsehung hat uns an jenen Wendepunkt in der Geschichte gestellt, an dem rationale, verantwortungsbewuBte und moralisdm LSsungen f/ir das Bevblkerungsproblem gefunden werden mfissen. Wenn wir dieser Verantwortung ausweichen, machen wit uns des grSBten Verbrechens schuldig. Aber es werden diejenigen sein, die nach uns kommen, die die unverdienten und unsagbar grausamen Strafen daf/ir erdulden mfissen." Diese ungewShnlich ernste Mahnung beinhaltet gleichzeitig den Aufruf zur intensivsten und vordringlichsten Mitarbeit an dieser Existenz unserer Erde bestimmenden Problematik, an uns alle. Neben dem Politiker, Soziologen, Wirtschaftswissenschaftler, St~dteplaner und vielen anderen Instanzen steht mit der gleichen Gewichtigkeit der Arzt. Ant dem vorletzten Deutschen ~rztetag hat ein praktischer Arzt, Herr Kollege Weinhold aus dem Kreise Wesermiinde, diese Stellung des Arztes in der heutigen Gesellschaft vorbildlich formuliert indem er sagt: ,,Die gesundheits- und sozialpolitischen Aufgaben liegen wie alle politischen Aufgaben im Spannungsfeld zwischen Individuum und Gesellschaft. Der Arzt sollte seinen Platz zur unabh/ingigen Entscheidung zwischen den gesellschaftlichen Machtgruppen und dem einzelnen Menschen behalten." Wie jeder verantwortungsvolle und objektiv urteilende Staatsmann, so steht auch der Arzt beim Versuch der Bew~Itigung des so vielschichtigen und kontroversen Problems der BevSlkerungspolitik an beiden extremen Polen dieser explosic geladenen Thematik. Auf der einen SeRe steht das vordergrfindige Gespenst der Ubervblkerung mit seinen kaum vorstellbaren katastrophalen Folgen. Auf der anderen SeRe aber erblickt der Westeurop~er, und vor allem wit Bewohner der Bundesrepublik Deutschland, das nicht zu bagatellisierende und sicherlich nicht unwesentliche Konsequenzen auslSsende Geburtendefizit, das durch einen zunehmenden Geburtenrfickgang bzw. durch eine Geburtenbeschr~nkung bei gleichbleibender Sterberate bedingt wird. Ich daft die so eindrucksvollen Zahlen noch einmal in Ihr Ged~chtnis zur/ickrufen, um die Wichtigkeit dieses Problems zu untermauern. Im Jahre 1973 standen in der BRD 632 000 Geburten 728 000 Sterbef~ille gegenfiber, das bedeutet ein Defizit an Lebendgeborenen von 96 000. Ffir das 1ahr 1972 lauteten die Zahlen noch 701000 Geburten bei 731090 Sterbef~llen, das Defizit betrug ,,nnr" 30 000.

24

H. Kirchhoff:

Wfirde man die Kinder der Ausliinder abziehen, was natfirlich ein Pr~judiz bedeuten wfirde und nicht erlaubt ist, dann sch~tzen die Statistiker sogar ffir das vergangene Jahr ein Geburtendefizit von ca. 180 000 Neugeborenen! Es ist nicht meine Aufgabe, in diesem Referat fiber die sich bietenden MSglichkeiten im Kampf gegen die grauenvolle BevSlkerungsexplosion zu sprechen, obgleich es mich als ehemaliges Mitglied des .~rztebeirates International Planning Parenthood Federation - IPPF reizen wfirde. Nut wenige Worte seien mir hierzu gestattet, damit man meine weiteren Ausffihrungen zum Thema ,,Geburtenrfickgang" besser versteht. Wenn es nicht gelingt, bei dem durch die rapide Senkung der Mortalit~t in der ganzen Welt ausgelSsten ungeheueren Wachstum der Entwicklungsl~nder die Industrie- und Landwirtschaftskapazit~t wesentlich zu erh5hen, wenn es nicht gelingt, die Vorurteile in diesen L~ndern gegen die Familienplanung abzubauen, wenn es nicht gelingt, die notwendige Mitarbeit vieler Kinder in einzelnen Familien zu reduzieren, wenn es nicht gelingt, trotz des vorherrschenden Analphabetentums die kontrazeptiven und sterilisierenden MaBnahmen maximal auszudehnen, wenn es nicht gelingt, die falsch begrfindete Lehrmeinung der Kirche - besonders in Siid- und Mittelamerika - abzubauen, wenn es uns nicht gelingt usw., dann meine Damen und Herren, ist es zu sp~t! Wer die obdachlosen, unterern~hrten, bettelnden Kinder in Bombay erlebte, wer in Benares Menschen auf der StraBe vor Hunger tot umfallen sah, wer in Nepal dutch die Gesundheitspolitiker yon der frustranen Arbeit in der Geburtenkontrolle erfuhr, wer noch Vortr~ge zu diesem Thema vom Ministerpr~isidenten Lee in Singapur mit anhSren muBte, dab er zur Zeit noch diese groBe Nachwuchszahl zur Bearbeitung des Landes benStigt, der wird mit aller Leidenschaft und mit bestem Willen sich ffir den vordergrfindigen Kampf gegen die Uberv61kerung des Erdballs einsetzen, dessen Einwohner sich heute in erschreckender Weise in ca. 25 Jahren verdoppeln. In einem um so erschfitternden und deprimierenden Licht erscheint daher das Ergebnis der gerade in Bukarest abgehaltenen WeltbevSlkerungskonferenz der Vereinten Nationen, an der Experten aus 135 L~ndern teilnahmen. Der lautstarke Ruf nach einer so notwendigen Geburtenkontrolle wurde dort unter anderem als neues Kolonialsystem durch die reichen, imperialistischen L~nder gedeutet und die HungersnSte vielmehr durch die Ausbeutung der armen durch die reichen Staaten als durch ein BevSlkerungswachstum ausgel6st erkl~rt! Als NotmaBnahme haben amerikanische BevSlkerungswissenschafller vorgeschlagen, durch Geb~irverbot die Industriegesellschaft zum Schrumpfen zu bringen, indem jedes 3. Kind als illegal erkl~rt und damit zur Abtreibung freigegeben werden soll. Ob Sie, meine Damen und Herren, dieser LSsung zustimmen kSnnten, bezweifle ida. Sie wird uns aber noch einmal besch~iftigen mfissen. Nicht welt davon enffernt steht leider - so muB ich sagen - eln Ausspruch von Konrad Lorenz, wenn er mir richtig referiert wurde, der, um die Zukunft der Erde als bewohnbaren HimmelskSrper zu sichern, das Zeugen von mehr als 2 Kindern unter den heutigen Bedingungen schlechthin als ,,unmoralisch" bezeichnete! Aber nun zum anderen Pol dieses Problems. Wet diese erschfitternden Fakten sieht oder hSrt, miiBte eigentlich unser un-

Der Geburtenrfickgang in Deutschland

25

gew6hnlich hohes Geburtendefizit mit Genugtuung aufnehmen. Er vergiBt aber allzuleicht, dab aus einer drastischen Abnahme eine nicht zu vernachl~ssigende Ver~nderung der Altersstruktur der BevBlkerung im Sinne einer Oberalterung resultiert und auch eine Verminderung der Anzahl der Konsumenten und Arbeitskr~fte. Die BevSlkerungswissenschaftler haben ffir die BRD errechnet, dab es im ~ahre 1985 ebensoviele Rentner - d. h. Frauen fiber 60 und M~nner fiber 65 ~ahre - WiG Kinder his zum Alter van 15 ]ahren gibt: ,,Mehr Opas als EnkeI!" Diese Urnkehr der Alterspyramide, n~mlich sinken der Geburtenziffer bei gleichzeitiger Zunahme der Lebenserwartung, kann schwerwiegende Folgen im Hinblick auf die gesetzliche Rentenversicherung haben, die, wenn man den jfingsten Berichten der Tagespresse folgt, schon jetzt Oberlegungen fiber m6gliche ErhShung der Versicherungsbeitr~ge bei den zust~ndigen Gremien ausgelSst hat. Mit anderen Worten: Die zu erwartende vermehrte Last zur Versorgung der alten Menschen ruht aufgrund des ffir die gesetzliche Rentenversicherung bestimmenden Solidarit~tsprinzips auf den Schultern der sich verringernden Zahl der aktiven Mitglieder der Versicherungsgemeinschaften (Peter Marchal). Die auf dem Sektor der BevSlkerungspolitik besonders erfahrene Kieler Wirtschaftswissenschaftlerin, Frau Dr. Wander, die stets zurn Abbau van psychologisd~n Vorurteilen gegen den Geburtenstillstand riet und den Ausdruck des ,,sterbenden Volkes" weit van sich weist, sagte neulich folgendes: ,,Man sollte meine Ausffihrungen nicht so verstehen, als g~ibe es bei uns kein Bev61kerungsproblem. Ganz im Gegenteil. Der schmale Grat zwischen Wachstum und Schrumpfung, auf dem wir uns bewegen, schlieBt die Gefahr eines zu starken und zu lange anhaltenden Abgleitens der Fruchtbarkeit unter das ffir die Reproduktion der BevSlkerung erforderIi~e Niveau nicht aus." An einer anderen Stelle sagte sie: ,,Wir sind entwicklungshistorisch an einem Punkt angelangt, w o e s um die Bewahrung unseres Bev6lkerungsbestandes gehen muff und nicht darum, ihn zu vergr6Bern oder zu verkleinern." Das Wart ,,Bewahren" m6chte ich herausgreifen! Meine Damen und Herren, nur darum geht es! Es ist mir daher unverst~indlich, wenn ein hoher Beamter in einem Ministerium in Bonn das jetzt bestehende generative Verhalten deshalb als ,,demokratisch" bezeichnet, well es ffir einen imperialen, aus polifischer GroBmachtvorstellung herrfihrenden ,,Fortpflanzungsrausch" keinen Platz gibt. Muff dean jeder, der aus echtem Gewissenszwang und nach intensiver Besdlfiftigung mit dieser Materie und sich dem Versuch zur Bewahrung des Volksbestandes verschreibt, gleich als nnverbesserlicher Nationalist verurteilt werden? Oder ist es berechtigt, wenn Jungk in der Fernsehsendung ,,Pro und Contra" feststellen zu mfissen glaubt, dab in den zu disponierenden MaBnahmen gegen den rasanten Geburtenrfickgang in der BRD ,,eine provinzielle kleinkarierte Haltung" zum Ausdruck k~ime? Man sieht: ein verdammt heiBes Eisen. Aber es muB angepackt werden! Noch problematischer und zum Gegenangriff herausfordernder wird es, wenn man gewisse, ich wiederhole bewuBt, gemisse Bedenken gegen eine sehr off emp-

25

H. Kirchhoff:

fohlene, angeblich spielend leicht zu ermSglichende, unbegrenzte Aufffillung unseres Geburtendefizits durch Fremdarbeiter anmeldet. Ich bin kein Genetiker und verdamme jeden Rassenfanatismus und maBe mir nicht an, eine Stellungnahme zum Problem der VSlkervermischung, ob mit positiven oder negativen Folgen, abzugeben. Ich kann mir aber andererseits nicht vorstellen, dab auf lange Sicht gesehen eine zunehmende Einwande.rung von ffir unsere Bev61kerung doch letztlich fremden Menschen nicht einmal zu beachtlichen Unruheherden ffihren wird. tch kann daher Jfirgens nicht zustimmen, wenn er bei einem frfiheren Vortrag den Vorschlag machte, die entstehenden Vakuen in unserem Volk durch fruchtbarere VSlker in unserer Nachbarschaft ausffillen zu lassen nnd weiterhin folgert, dab die Diskussion fiber den Rfickgang letzten Endes auf nationalistischem Denken basiere. Wenn immer wieder bis auf den heutigen Tag in Diskussionen die relativ hohe Geburtenzahl der Ausl~nder als begrfiBenswerte und auch wohl erforderliche Therapie gegen den rasanten Geburtenrfickgang in Deutschland hingestellt wird, dann mug ich mir die Frage erlauben: Wie sieht die nahe Zukunft und erst recht die langfristige Prognose aus, wenn auger dem derzeitig schon praktizierten Anwerbestop yon Gastarbeitern tier Vorschlag einer Rfickwanderungspr~mie ffir Fremdarbeiter erwogen wird? Sicherlich ein ungewShnlich schwieriges Problem, wenn man bedenkt, dab schon im Jahre 1971 jedes 10. in der BRD geborene Baby von einer Gastarbeiterin zur Welt gebracht wurde, und dies bei einem Ausl~nderanteil an der GesamtbevSlkernng von nur 5~ Ich mug Herrn Kollegen Jfirgens noch in einem anderen Punkt widersprechen. Als Arzte und besonders als Gyn~kologen k6nnen wit die bekannte Halbierung der Geburten in Japan von 34 auf 17 pro 1000 Einwohner nicht als ,,Wunder" bezeichnen und dazu noch dieses in der BevSlkerungsgeschichte einmalige Faktum als ,,generative Disziplin" der japanischen BevSlkerung loben. Dieses sog. Wuntier entstand niemals durch diszipliniertes generatives Verhalten, sondern ausschlieBlich durch die Freigabe yon fiber 1 Million Abtreibungen pro Jahr! Bekanntlich ist zur Bestanderhaltung eines Volkes folgende Kinderzahl notwendig: 206 Kinder auf 100 Frauen oder 218 Kinder auf 100 Ehen. In der BRD lauten die Zahlen ffir das Jahr 1973: anstatt 206 Kinder 196 auf 106 Frauen bzw. anstatt 2!8 Kinder 200 auf 10O Ehen. Das Statistische Bundesamt kam, wie anch yon meinem Vorredner best~tigt wurde, in einer Modellrechnung zu dem SchluB, dab bei den derzeitigen Fortpflanzungsverh~ltnissen nut 1,6 Kinder pro Ehe zu erwarten sind und diese Fruchtbarkeitsrate um 25% nnter dem ffir die Bewahrung des BevSlkerungsstandes notwendigen Minimum liegt! Dieses deutliche Unterschneiden der Zahlen zu einer Bestandserhaltung wird von vielen Bev61kerungswissenschafflern begrfiBt [mehr Schulraum, geringere Lasten ffir den Staat usw.) und - was reich eigentlich sehr fiberrascht - als ,,gutes ]] eispiel" ffir die Welt hinge stellt ! Unser Geburtenrfickgang hilff keinem verhungernden Inder und auch keinem armen S/.idamerikaner weder direkt noch als moralische Stimulierung, wie man

Der Geburtenrfickgang in Deutschland

27

6fter lesen kann. Ein seine Substanz erhaltendes, sich auf den Punkt des NullWachstums eingependeltes, hochentwickeltes Industrieland, wie gerade unser Volk, ist eher in der Lage, aktive Entwicklungshilfe und zielstrebige Berater zu stellen als eine schrumpfende Nation. Ich begriiBe es daher sehr, dab Herr Schwarz eine yon mir friiher auf einer Arbeitstagung der Bev6lkerungswissenschaftler aufgestellte These aufgreiff und ~hnlich formuliert, wenn er sagt: ,,Unter diesen Umst~inden erscheint es am sinnvollsten, einem grSBeren BevSlkerungsrfid~gang durch St~rkung des Fortpflanzungswillens der einheimischen Bev~Ikerung entgegenzuwirken." Noch nicht sehr lange haben die Statistiker in Deutschland so gedacht und gesprochenl Ob wir schon wirklich ein ,,schrumpfendes Volk" sind oder ob wires werden, vermag langfristig niemand zu beantworten. Der Trend zur Geburtenbeschr~inkung ist ja nicht neu. Er wird bekanntlich seit Jahrzehnten beobachtet. Besorgniserregend ist aber doch, und darfiber besteht ffir reich kein Zweifel, der ungewShnlich steile Abfall der letzten Jahre. An dieser Stelle ist man wirklich berechtigt, yon dem oft zitierten, aber als ,,Denkfehler" bezeichneten ,,Pillenknick" zu sprechen. Die hormonale Kontrazeption ist natfirlich nicht die Ursache ffir den Geburtenrfickgang, aber sie bedingt das rasante Tempo und wird es in Zukunft noch wesentlich f6rdern, da der Pillenverbrauch in der ganzen Welt zunimmt, auch bei uns.

Ein direkter Beweis hierffir sind die bisher immer ,,zu gfinstig" kalkulierten statistischen Prognosen. So hatte man z. B. f/Jr das Jahr :1969 ,:1051000 Geburten" vorausgesagt, es wurden aber nur 903 000 Kinder geboren. Die Probleme sind uralt. Ich zitiere einige S~tze aus einer Rede: ,,Was wir heute fiber die drohende Bev6lkerungsabnahme lesen oder h6ren, ist alles schon einmal dagewesen. Als zu Beginn unserer Zeitrechnung die r6mische Macht auf dem Gipfel stand und sich die Schatze des Orients fiber das Reich ergossen, ertSnen auch schon die Klagen fiber die Entartung der Sitten, den Verfall des alten Glaubens und der alten Ideale, die AuflSsung der Familie, die ZweiKinder-Ehe, die rasche Verminderung des Nachwuchses. Ganz wie heute wurden Gesetze gegen die Entv61kerung gemacht, die kinderreichen Familien beg/.instigt. Abet alles umsonst! Die Verschiebung der gesamten Lebensauffassung nach der materiellen Seite bin und der Verlust der Ideale . . . haben in erster Linie beschleunigend auf den Geburtenr/ickgang gewirkt und tun es noch heute." Meine sehr verehrten Damen und Herrenl Diese gedankenreichen S~tze, die heute h~tten ausgesprochen sein k6nnen, entstammen der Rektoratsrede eines der grSBten deutschen Frauen~irzte, n~imlich Ernst Bumm, gehalten am 15. Oktober 1916! Damals wie heute macht eine wirklich plausible und befriedigende Erkl~irung ffir die Ursache der Geburtenbeschr~nkung Schwierigkeiten. Im Vordergrund steht zweifellos die ver~inderte Sexualit~t. Anstelle der natfirlichen Frnchtbarkeit trat in zunehmendem MaBe eine Rationalisierung des generariven Verhaltens. Mehrere Momente erleichtern diese Einstellung und die Durchffihrung. Einmal werden bei der erfreulichen Abnahme der Neugeborenen- und S/iuglingssterblichkeit weniger Kinder benStigt. Ferner ersetzt die Maschine die bis dahin notwendige Kindermitarbeit, nnd nid~t zuletzt mub die verbesserte Auf-

28

H. Kirchhoff:

kl~rung, die bewuBte Familienplanung in Kombination mit der so wesentlich erleichterten und fast vSllig sicheren kontrazeptiven MaBnahme angesprochen werden. Nicht nur das generative Verhalteri hat eine gravierende ~nderung erfahren, sondern auch das 5konomische Verhalten, das man auch mit dem bekannten V/ort ,,Konkurrenz der Genfisse" fiberschreiben kann. Dieses pragmatische Denken ist vSllig verst~indlich. Sinkt doch z. B. der Lebensstandard einer Facharbeiterfamilie mit 3 Kindern auf 1/8 im Vergleich mit einem kinderlosen Ehepaar ab. Ffir eine gute Ausbildung, ffir einen interessanten Urlaub oder ffir ein Auto bleibt hierbei kaum noch etwas fibrig. Hinzu kommen Wohnungsschwierigkeiten, die nicht zu leugnende unzureichende Kinderfreundlichkeit des Staates, die l~ingere Ausbildungszeit mit sp~iterem Kinderwunsch. In den USA waren von den Frauen im Alter von 20 bis 24 Jahre 1960 nur 280/0 ledig, im Jahre 1973 stieg die Zahl auf 380/0 an. Ein Faktor darf nicht verschwiegen werden, den wit Gyn~ikologen in der Sprechstunde nicht selten zu hSren bekommen: Bedenken und Angst davor, ein Kind bei der bestehenden Weltunsicherheit auf vielen Gebieten in die Welt zu setzen. Das RisikobewuBtsein ist ohne Zweifel - mar darf ja sagen erfrealicherweise - gr6Ber geworden. Sind aber schon die Aussagen fiber die Ursachen des Geburtenrii&ganges schwierig, so bewegt man sich in der Frage der Ausroirkungen weitgehend im Bereich der Spekulationen (Schubnell). Wenn BevSlkerungs- und Wirtschaftswissenschaftler anhand aussageberechtigter Fakten und mit anzuerkennender Objektivit~t, und ohne Propheten spielen zu wollen, einen Pessimismus fiber die Auswirkungen des Geburtenrfickgangs negieren, dann aber meist mit einer wichtigen Kommentierung. So sagte Frau Dr. Wander kfirzlich, dal~ die negativen Geburtenzahlen keine kurzfristigen oder langfristigen Gefahren ffir den wirtschaftlichen und sozialen Wohlstand implizieren, sofern sich Wirtschafts- und Leistungsstruktur den Bedingungen einer stillstehenden BevSlkerung anpassen und der Geburtenrfickgang nic~ht zu einem fort-

schreitenden Schrumpfungsprozef~ fiihrt! Die letzte Gefahr ist ohne Ubertreibung und ohne Kassandrarufe ira Augenb]ick groB, so glaube ich sagen zu dfirfen und sagen zu mfissen! An dieser Stelle, d. h. bei dem Thema ,,Bewahrung des Bestandes" und vor allen Dingen der Verhinderung weiterer Geburtenabnahme sehe ich unsere derzeitige groBe ~irztliche Aufgabe, und vornehmlich f/ir uns deutsche Frauen~rzte. Es erfibrigt sich eigentlich, in diesem Rahmen zu erw~hnen, daB ffir uns Arzte jeglicher Zwang, sei es zur Beschr~nkung oder F6rderung der Fruchtbarkeit, unvorstellbar ist, dab es ffir uns selbstverst~ndlich ist, dab jeder Familie die Entscheidung fiber die Zahl der Kinder, den Zeitpunkt der Geburt und der Abstand zwischen den einzelnen Entbindungen fiberlassen werden muG. Die Aufgabe des Staates ist, daf/ir zu sorgen, dab die gewfinschten Kinder in unserer Gesellschaff PIatz finden, in dem sie sich geistig und k6rperlich vo!l entwickeln k6nnen (Wander). Die Aufgabe des Arztes ist es, seine gauze Hilfe denen zur Verf/igung zu stellen, die sich Kinder mfinschen! Dieser Satz klingt wie eine Banalit~it oder nach Wiederholung yon Selbstverst~ndlichem. Abet anhand yon nur drei ausgew~hlten Beispielgmppen m6chte ich Ihnen, sehr verehrte Damen und Herren, aber auch besonders den Nichtmedi-

Der Geburtenrfickgang in Deutschland

29

zinern, das Gravierende und Fundamentale dieser unserer Verpflichtung demonstrieren.

1. Die Frfihgeburt und der Spontanabort Herr President, ffirchten Sie bitte nicht, da5 ich den Rednern von morgen die Rosinen aus dem Kuchen stehle. Nut einige Fakten. Schon im Jahre 1937, also vor 38 Jahren, habe ich in einer kleinen Publikation zu beweisen versucht, dab die Bek~mpfung der Friihgeburten eine Verminderung der Neugeborenensterhlichkeit und damit eine ErhShung der Zahl gesunder Kinder bedeuten mfirde. Bekanntlich machen auch heute noch die Frfih- und Mangelgeburten den hSchsten Anteil der Neugeborenensterblichkeit aus, ca. 60-70~ Die Perinatologie hat sich erfreulicherweise diese These mit an die Spitze ihrer Bemfihungen gestellt und dutch Saling wurde das Pr~maturit~ts- und Dysmaturit~tsprogramm entwickelt. Die durchschnittliche Friihgeborenenzahl in Deutschland liegt ziemlich konstant zwischen 5 und 7o/o. Rechnen wir sehr optimistisch ffir das Jahr 1974 mit einer Geburtenzahl van 600 000 Kindern und einer Frfihgeburtenrate von ca. 6~ dann w~ren etwa 36000 Frfihgeburten zu erwarten mit der gefiirchteten hohen Sterblichkeit bzw. den Sp~tsch~den. Die wid~tigste Aufgabe der Geburts- und Perinatalmedizin ist es, auf breiter Basis MalSnahmen zur Vermeidung yon Friihund Mangelgeburten zu ergreifen, was keineswegs einfach ist, da immer noch bis ca. 50~ urs~chlich nicht abgekl~rt werden kSnnen. Aus diesem Grunde halte ich reich ffir berechtigt und ffir verpflichtet, auf eigene Untersuchungsergebnisse hinzuweisen, die sich in fast 4 Jahrzehnten immer wieder best~tigen liel~en und bisher im Schrifttum und in der Praxis fast unbeachtet blieben. Trotz der multifaktorellen ~tiologie der Frfihgeburten konnten wit als eine der gewichtigsten und folgenreichsten Ursachen und als Basis des Geschehens in fast 50O/o eine echte Ovarialinsuffizienz [anamnestisch oder aufgrund des Befundes) nachweisen, und zwar mit einer h~ufigen heriditfiren Disposition. Eine grolSzfigige Fragebogenaktion an der Univ.-Frauenklinik G6tfingen ergab das fiberraschende Resultat, da5 die Mfitter der Frfihgeburten selbst und deren Mfitter und Geschwister in 35% ebenfalls als Frfihgeburten zur Welt gekommen waren. Nicht nur additiv, sondern potenzierend ungfinstig wirkten sich bei solchen Frauen verst~ndlicherweise exogene Faktoren, wie z. B. belastende Berufsarbeit u. a. aus. Eine gezielte Vorsorge wird groBe Erfolge bringen: V611ige Erfassung aller schwangeren Frauen fiir die Schwangerenvorsorge, Verl~ngerung der Schonfrist yon 6 auf 8 wenn nicht sogar 10 Wochen, eine Forderung, ffir die ich s.Z. bei der Neufassung des Mutterschutzgesetzes bei den Beratungen im Arbeitsministerium vergeblich mich einsetzte, frfihzeitige resp. prophylaktische Arbeitsunf~higkeit bei belastender Anamnese usw. Meine Damen und Herren! Die Zahl der Spontanaborte bei sich Kinder wfinschenden Frauen ist schwer exakt anzugeben, nicht einmal ann~ihernd zu sch~itzen. Wer yon uns kann und will entscheiden, ob Wunsch oder Ablehnung besteht! Und dennoch, die Praxis lehrt uns, ein intensiverer und breitgef~icherter Kampf um die Verhfitung und Bek~implung yon Fehlgeburten ist lohnend und geh6rt zu den ~irztlichen Aufgaben im

30

H. Kirchhoff:

Sinne einer positi~en Bev61kerungspolitik und kommt dem Kampf der Frfihgebur-

ten gleich. 2. Legaler Schmangerschaftsabbruch Mit der Besprechung dieses Punktes beabsichtige ich keineswegs die nicht zu leugnenden negativen Auswirkungen der Freigabe des Schwangerschaftsabbruchs bis zum 3. Monat auf die Gesamtgeburtenzahl zu ventilieren, wie sie gerade in j/.ingster Zeit in den sozialistischen L~ndern mit aufr/ittelnden Zahlen bewiesen wird, so z. B. f/Jr Polen ein R~ckgang yon 29,1 auf 16,3~ f~r Ungarn yon 21,4 auf 150/o. Intensive Gegenmal3nahmen laufen dort an. Nein, mit einem anderen ~ul3erst aktuellen Problem muB ich Sie konfrontieren, n~mlich mit den unerwartet und erschreckend hohen Sp~itfolgen der legalen Interruptio. Dies kann erst jetzt geschehen, da bisher keine gr6Beren und exakten Nachuntersuchungsergebnisse nach solchen Eingriffen im Weltschrifftum und erst recht nicht f/Jr Deutschland vorlagen. Auf dem PerinatologenkongreB Ende November in Berlin werde ich ausffihrlich zu diesem Theme Stellung nehmen. FUr heute nur einige markante Zahlen, die ich zumeist aus der aufschluBreichen Monographie des englischen 5rzte-Ehepaars Dr. M. und A. Wynn, London, by London Foundation Education and Research of Childbearing, nnd aus Publikationen aus Polen, Ungarn, der Tschechoslowakei und der DDR entnehme. 1. 2 - 5 % Sterilit~ten im AnschluB an die legale Interruptio. 2. Verdopplung der Extranteringravidit~ten. 3. Bis zu 40% ige Zunahme der Friihgeburten re.it allen Folgen. 4. Zunahme der Aborte. 5. Zunahme der Zervix-Verschlul~-Insuffizienz. 6. Die britische Studie l~l]t resumierend erkennen, dab sich die perinatale Mortalit~t nach uorangegangener Interruptio ~erdoppelt hat und die Morbidiffit aufgrund der Langzeitstudie lOmal h6her lag, als sie dem Chief Medical Officer

gemeldet roar. Diese erschiitternden und aufr/itte]nden Zahlen sollten nicht nut bei nns J~rzten gerade im Hinblid< auf nnser Geburtendefizit sinnvolle Konsequenzen ansl~sen, sondern vor allem allen Bundestagsabgeordneten und sonstigen verantwortlichen Politikern bekannt gemacht werden und in groBen Lettern in den yon den Fristenl6sern geforderten Beratungsstellen an den W~nden aufgeh~ngt wetden!

3. Ausbau und Erleic~terung der Adaptionsm~glichkeiten Ich las neulich den $atz: ,,Die Adoption ist eine hnmanit~re Alternative zur Abtreibung", und an ether anderen Stelle: ,,Das ungewollte Kind kann nach ~rztlicher Auffassung kein Abtreibungsobjekt sein, es muB ein Gegenstand des sozialen $chutzes sein" (Kinderarzt Pedlstein). Wenn man ferner [~berlegt, dab in der BRD ca. 10% aller Ehen ungewollt unfruchtbar bleiben, wenn man ans eigener Sprechstundenerfahrung weiB, dab die Zahl der die Adoption eines Kindes wfinschenden Frauen bei weitem das Angebot der Kinder/ibersteigt, dann besteht auf dem Gebiet der Adoption eine groBe Aufgabe f~r den Staat, aber auch f/ir den Gyn~kologen. Der Gewinn ist

Der Geburtenriickgang in Deutschland

31

doppelt: Dem kinderlosen Ehepaar wird ein groBer Wunsch erfiillt und ein ungewolltes Kind bleibt am Leben und findet eine echte Heimafl - Die Ergebnisse einer Adoption werden aufgrund einer Fragebogenaktion vom Hamburger Andrologen Schirren als auBerordentlich gut geschildert. Aus seinem eigenen Material yon 85 F~llen lautet die Zahl ,,99% gfinstig". Die schon lange geplante ~nderung des Adoptionsrechts sollte baldigst erfolgen, sie bringt n~mlich groBe Erleichterung im Vermittlungsverfahren und damit eine m~glichst friihzeitige Eingliederung in die neue Familie, was ja gerade yon uns ~rzten immer wieder gefordert wird. Wohl niemand in diesem Saal zweifelt daran, dab ein untrennbarer Zusammenhang besteht zwischen der yon der iiberwiegenden Mehrheit der deutschen ~rzteschaft erhobenen Forderung, das ungeborene Leben zu schfitzen, und der Verpflic,htung, die sozialen Lasten zu mildern, die viele Famflien mit Kindern tragen mfissen. In Gespr~chen mit Politikern oder als Berater ministerieller Instanzen, bei Laienversammlungen oder auf groBen Kongressen mit Pressebeteiligung sollte von seiten der ~rzte diese unabdingbare Forderung einer Intensivierung und Anhebung des Familien-Lastenausgleichs in groBzfigigstem Rahmen propagiert werden unter zus~tzlicher Begfinstigung durch das Bundessozialhilfegesetz und das Bunde sausbildungsfSrderungsgesetz. Bisher standen entsprechende Vorschl~ige zur Eind~mmung des Geburtenriickgangs zweifelsohne unter einem gewissen Tabu. Das Eis scheint aber jetzt gebrochen zu sein! Mit sensationellen Uberschriften wie ,,5000,- DM gegen BabyFlaute", ,,Saarland will Kindersegen belohnen", erschien kfirzlich in der Tagespresse die Mitteilung, dab das Sozialministerium des Saarlandes Plane ausarbeitet, nach denen junge Ehepaare ein Darlehen in HShe yon 5000,- DM beanspruahen kSnnen, das sich als sp~tere Riickzahlungssumme nach der Geburt des 1. Kindes auf 4000,-- DM, des 2. Kindes auf 2500,- DM und des 3. Kindes auf nur 500,- DM vermindert. Ubrigens l~uft in der DDR ein ~hnliches Programm. Dort erhalten junge Ehepaare ein zinsloses Darlehen in HShe van 10 000,- DM, dessen Tilgung sich mit zunehmender Kinderzahl vermindert. Mit Geld allein ist es aber nid2t getan; der Staat, und nicht zuletzt die BevS1kerung, mfissen wieder mehr ,,Kinderfreundlichkeit" erkennen lassen, denn die nur allzu berechtigte und gegSnnte AusschSpfung der ,,Lebensqualit~t" l~iBt sich mit einer staatlich unterstfitzten und aus eigener Initiative gepr~gten Familie gut vereinen. Man kann das groBe Problem des Bev~51kerungsprozesses drehen und deuten wie man will, es hat immer das gleiche Doppelgesicht" ,,Kinder slnd Glfick und Last zugleich." Prof. Dr. H. Kirchhoff D-3400 GSttingen Ernst-Curtius-Weg 11 Bundesrepublik Deutschland

[Fall of birth rate in Germany from the medical viewpoint].

Referat 3 Der Geburtenrtickgang in Deutschland aus ~irztlicher Sicht H. Kirehhoff, GSttingen Der bekannte amerikanische Politiker und Finanzmann McNa...
670KB Sizes 0 Downloads 0 Views