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Eine Untersuchung an 1300 Kindern zur Inzidenz und Therapie von Hörstörungen bei kindlichen Sprachstorungen* R. Schönweiler Abteilung Phoniatne und Padaudiologie, St.-Elisabeth-Hospital Bochum (Leitender Arzt: Dr. H-i. Radu)

Wir untersuchten 1305 Kinder, die uns wegen Sprachstorungen vorgestelit wurden. Die Kinder wurden Hals-

Nasen-Ohren-ärztlich, audiometrisch, logopadisch und zum

This study presents the results on 1305 chil-

Teil psychologisch untersucht. Bei 48 % waren zusätzlich Hörstörungen festzustellen, sogar besonders häufig in der sprach-

dren with speech disorders. The examination includes ENT-inspection, audiometry, speech-evaluations and if required, psy-

sensiblen Phase bis zum vierten Lebensjahr. Die Ursachen

chological tests. In 48 % we found hearing losses, most fre-

waren in 95 % der Fälle Tubenbelüftungsstörungen mit wechselnden Schalleitungsschwerhdrigkeiten urn 20 Dezibel, die

quently in the age up to four years. In 95 % hearing losses were

und nicht nur in den kalten Monaten das ganze Jahr nachweisbar waren. Em soiches ,,undulierendes Hörverrndgen" schränkt die Jahreshörbilanz der Kinder ci Nur 5 % waren Schallempfindungsschwerhörigkeiten. Die Sprachleistungen dieser Kinder waren signifikant schlechter als bei normalhörigen Kindern. Die Studie zeigt, dal3 bei sprachgestörten

Kindern TubenbelUftungsstörungen besonders konsequent ohrrnikroskopisch und audiometrisch kontrolliert werden soilten. Der Wert einer Adenotomie mit Parazentese und Einlage

von Paukenröhrchen hinsichtlich einer Verbesserung der Sprachleistungen wird diskutiert. Mit unserem Konzept war

fluctuating about 20 decibels, caused by malfunction of the tube or by adenoids, not even in autumn and winter, but also all the year. In this case, fluctuating hearing function reduces the total hearing input over the year. In only 5 % we found cochlear hearing loss. In hearing impaired children speech development was significantly more depressed in all dimensions in comparison to normal hearing children. This study does impressive demonstrate the nessesarity of follow-up microscopic evaluations of the tympanic membrane and audiometry as well as the consequente operative therapy including adenoidectomy and insertion of ventilation tubes. With this concept, only 37 % of the children required speech therapy.

nur bei 37 % der untersuchten Kinder im Verlauf bis zur Emschulung logopädische Therapie notwendig.

Key words

Schlüsselwörter Sprachentwicklung — Schalleitungsschwerhörigkeit — undulierendes Horvermögen — auditive Wahrnehmung — Jahreshörbilanz — Audiometrie — Adenotomie — Paukenrdhrchen — logopädische Sprachtherapie

Einleitung Die menschliche Sprache gilt als die höchste Hirnleistung. Die Voraussetzungen für eine ungestörte kindliche Sprachentwicklung sind em ausreichendes und korrektes Sprachangebot durch die Eltern, em normales Hörvermögen sowie eine ungestörte allgemeine Hirnentwicklung. Vor einer logopadischen Therapie soliten diese drei Bereiche grundsatzlich abgeprüft werden. Als weitere Storungen für die Sprachentwicklurig gelten die Mehrsprachigkeit, erbliche Faktoren im Sinne der familiãren Sprachgestaltungsschwbche, Entwicklung der Lateralität, Aufwachsen mit Mehrlingen und psychische Laryngo-Rhino-Otol. 71(1992) 637—643 Georg Thieme Verlag Stuttgart . New York

Speech development — Conductive hearing Fluctuating hearing function — Auditive perception — Total hearing input Audiometry — Adenoidectomy Ventilation tubes — Speech therapy loss

Faktoren (9,22). Für Artikulationsstörungen können auch Erkrankungen der peripheren Sprechorgane verantwortlich sein. Meist ist eine multifaktorielle Genese anzunehmen.

Patienten und Methoden In unserer Abteilung stellten sich von April 1988 bis zum September 1991 1305 Kinder wegen Sprachstorungen vor. Ste wurden uns zu 66% von Padiatern und zu 28 % von HNO-Arzten zugewiesen.

Bei der HNO-ärztlichen Anamnese wurde besonders nach der Schwangerschaft, zur Geburt, zu Infekten der oberen Luftwege *

Auszugsweise vorgetragen auf der 74. Jahrestagung der Nordwest-

deutschen Vereinigung der FIals-Nasen-Ohrenärzte in O!denburg vom 10. bis 12. Oktober 1991.

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Incidence and Therapy of Hearing Disorders in 1300 Children with delayed Speech Development ________________

Zusammenfassung

R. Schönweiler

638 Laiyngo-Rhino-Otol. 71 (1992) und zur Kindesentwicklung gefragt. Bei 4,8% der Kinder lagen em oder mehrere Risikofaktoren für eine Horstorung vor. 3,5 % der Kinder hatten em Krampfleiden oder Fieberkrämpfe, 0,8 % waren Trisomie 21-Kinder und 0,5% batten eine Spaitfehlbildung. Der Trommelfelibefund wurde stets ohmiikroskopisch erhoben. Beim Mundrachen warden die Tonsillen, die Zäbne und die Gaumensegelfunktion besonders kritisch beurteilt.

200-

160-

0

140120-

a_IOUAls Routinediagnostik in der Audiometrie warden beijedeni Kind abhängig vom Entwicklungsstand Tonschwellenaudio-

metrie oder Freifeldaudiometrie mit und ohne Konditionierung, Mainzer oder Gbttinger Kindersprachtest und Tympanometrie durchgefiihrt. Nur bei besonderen Fragestellungen kamen dichotische HdrprOfungen, die Ableitung der Stapediusreflexe und die Ableitung akustisch evozierter Polentiale zur Anwendung. Logopädischerseits wurde stets der Lautbestand, der Satzbau, der aktive Wortschatz, das Sprachversthndnis, die phonematische Diskrimination, die Horgedachtnisspanne, die visuelle Wahrnehmung, die Grobmotorik, die Feinmotorik, die Mundmotorik and die Lateralität untersucht.

I< 6040-

20-

7 Jahre

(69% Jungen, 31 % Mädchen n gleicher Altersverteilung) -- 661 Norm.hör.

624 HOrgestorte

Abb. 1 Lebensalter und HOrstOrung bei 1305 Kindern.

Ergebnisse Horvermogen Der iiberwiegende Teil der Kinder, etwa 95 %,

/ 500 450

C

Normalhorigkoit

350

/

300

•s— HOrstorung

250 1/j 200

I

war entsprechend der Verdachtsdiagnose sprachgestort. Bei 35 % der Kinder konnten wir bereits in der Erstuntersuchung eine Hörstdrung nachweisen, nach 2 bis 3 Befundkontrollen ergaben sich dann 48 % Horstörungen bei sprachgestörten Kindern.

40

50

max. HOrvortust in dB

Die Kinder waren meist zwischen 2 und 7 Jahren alt. Gerade in der sprachsensiblen Phase bis 4 Lebensjahren waren die Hörstörungen besonders häufig (Abb. 1).

Abb. 2 Hör- und Reaktionsschwellen bei 1305 Kindern.

Die geringgradigen Schwerhorigkeiten zwischen 20 und 30 dB, meist mit gestörter Schalleitung, gen mit 95 %, die mittel- bis hochgradigen, meist sensoneurinalen Schwerhorigkeiten waren mit 5 % selten (Abb. 2).

Der Mainzer oder Göttinger Kindersprachtest korrelierte stets gut mit der Uberprllfung des Tongehörs, weswegen wir diese fur das Kind einfache Hörprufung als Routinediagnostik der Pädaudiologie empfehlen (Abb. 3). Beim Vergleich von 5914 ohrmikroskopischen Untersuchungen und dazugehörigen Tympanogrammen stim-

men normaler Trommelfeilbefund mit normalem Tympanogramm meist (Abb. 4). Das gleiche gilt fur em gerötetes Trommelfell oder sichtbares Sekret mit einem flachen Tynipanogramm. Bei den ins Negative verschobenen Kurven waren die ohrmikroskopischen Befunde unterschiedlich: es waren alle Befunde vom spiegelnden Trommelfell bis hin zum Paukenergul3 möglich, so daB insgesamt 31 % nicht Befunde möglich sind. Dabei ist anzumerken, daB die Ohrmikroskopie von vier erfahrenen Fachärzten durchgefuhrt wurde.

700-' i 6OO-'

C /H

2

5001'

S 4001

It

0-

•N300 C C 200 100

0

50/IOU 60/100 70/100 80/100 80190 80/80 > = 80170 Po9eI in dO I %-Verstandlichkeit

Abb. 3 Sprachaudiogramm bei 1305 Kindern

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Durch eine Psychologin warden die MOnchener Funktionelle Entwicklungsdiagnostik, der Hamburg-Wechsler-Intelligenztest fur Kinder (HAWIK) sowie bei Horgestorten die sprachfreien Intelligenztests nach Snijders-Oo,nen (SON., S.O.S.R.) and die Intelligenztests nach Catiell- Weiss-Osterland (CFT 1 und CFT 2) durchgeftthrt, da Normwerte für Schwerhorige und Gehörlose vorliegen. Bei innenohrschwerhörigen Kindern wurde die Testbatterie zur Dyspraxie nach A. van Uden (20) geprOft. Insofern ist die psychologische Diagnostik in der Phdaudiologie unverzichtbae

Etne Untersuchung an 1300 Kindern zur Inzidenz und Therapie von Hörstörungen

0, C

Laryngo-Rhino-Otol. 71(1992) 639

2500 2000 1500

N

. 10o05001 normal 60

mall (Narbe relish. (m = 20 dB) GetaBinj. (m = 23 dB) Mucos (m = 31 dB) Perfor.

max. Horvorlust in dB (m = Mittoiwert)

Abb. 5 Ohrmikroskopie und Horschwellen bei 1766 pathologischen Trommelfelibefunden.

Die alleinige Tympanometrie als Screening für Tubenbelüftungsstörungen ist also nicht zu empfehlen.

Der ohrrnikroskopische Befund gibt einem erfahrenen HNO-Arzt schon einen Eindruck vom zu erwartenden Hörverlust: Beirn retrahierten Trommelfell liegt der Hörverlust urn 20 dB, bei einem gefál3injizierten Trommelfell urn 23 dB,

bei sichtbarem Sekret urn 31 dB (Abb. 5). Das Ergebnis der Audiometrie kann damit einer Plausibilitätskontrolle unterzo-

Die Ursachen der Hörstorungen waren in erster Linie Schalleitungsschwerhörigkeiten infolge von TubenbelUftungsstörungen. Diese traten nicht, wie oft behauptet wird, nur in den Wintermonaten mit häufigen Erkältungen auf, sondern ganzjährig, wobei wir 5771 ohrmikroskopische Befunde auswerten konnten (Abb. 10). Dies gilt vor allem auch für gefbl3injizierte Trommelfelle und sichtbares Sekret im Sinne einer serosen Otitis media.

6 Steliten wir mit Kontrolluntersuchungen bis 8 Wochen eine Schalleitungsschwerhörigkeit fest oder waren abschwellende Nasentropfen beirn Paukenergui3 nicht erfoigreich, veranlal3ten wir eine Adenotomie, Parazentese und gegebenenfalls die PaukenrOhrcheneinlage (Abb. 11). Bei 6% wurde lediglich die Adenotomie, auch mit Parazentese durchgefdhrt. Bei 37,2% der hOrgestOrten Kinder wurden auch Paukenröhrchen eingelegt. 21,3 % der Fälle konnten wir postoperativ nicht kontrollieren. Bei 31,4% waren die HOrstOrungeri nicht von Dauer, so dal3 eine gehOrverbessernde Mal3nahrne mcht indiziert war. Bei den 5 % Innenohrschwerhorigkeiten in dieser Studie erfolgte die Anpassung von HOrgeraten. Die Normalisierung des HOrvermOgens nacli

gen werden.

5rachleistungen

Adenotomie mit PaukenrOhrcheneinlage stellte sich bei unseren Kindern relativ schnell, spätestens zwei Wochen nach dem Emgriff, em.

Bei normalhörenden Kindern waren häufiger em vollständiger Lautbestand, Sigmatismus und partielle Dyslalie, bei horgestörten Kindem wareii häufiger schwerere Laut-

bogen etwa 6 Wochen nach dem Eingriff nach ihrer Em-

störungen wie rnultiple und universelle Dyslalie zu finden

schãtzung von GehOr, auditiver Aufmerksarnkeit mid Sprache

Wir befragten auch die Eltern mit eincm Frage-

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spiegeind Rot./Muc.

Part. Mull. Univ. Lauthestand / Dyslalie

R. Schdnweiler

640 Laiyngo-Rhino-OtoI. 71 (1992)

Agr. 1-

gramrnatikalische Leistungen 681 Norrn.hOr.

624 HargestOrte

Abb. 7 Logopadische Uritersuchungen: Grammatik und HOrvermOgen bei 1305 Kindern.

0.6. Phonemat.

eingeschranKt

eingescrirankter Wortschatz 681 Norm.hOr.

624 Horgestarto

Abb. 8 Logopadische Untersuchungen: Wortschatz und HOrvermOgen bei 1305 Kindern.

fl?

Diskriminafton audit. Merkspanne

681 Norm.hOr.

624 HOrgestorte

Jar.I-eU.MIZ.Rpr. MaiJun.JuI.Rug.bop.UKLNOv.u8z.

Monate der Untersuchung

Abb. 9 Logopadische Untersuchungen: auditive Wahrnehmung und peripheres HOrvermOgen bei 1305 Kindern.

Tonsilleki., Veloplast., HOrger. (4.1 %)-

AT, ggf. PC (6,0%)

keine OP (31,4 — AT + PER (37,2 %)

Abb. 10 Jahreszeitliche Verteilung von 5771 ohrmikroskopischen Befunden von Trommelfellen ohne Paukenrohrchen.

meine Hirnentwicklung zu haben. Insgesarnt würden 93 % der

Eltern den Eingriffunter gleichen Umständen wieder durchfdhren lassen, obwohl viele Eltern anfdnglich dem Eingriff skeptisch gegenGber standen. Hier kam es zu einem Meinungswechsd durch die positiven Erfabrungen nach der Operation.

QP-Emptehlung (213%)-

Abb. 11 Indikation zu operativen gehOrverbessernden MaBnahmen bei 666 horgestorten Kindern.

Weitere sprachhemmende Faktoren 24 % der Kinder waren entwicklungsverzogert, so dali heilpädagogische Mal3nahmen veranlal3t wurden. Die Mundmoto-

rik war bei sprachauffalligen Kjndern deutlich häufiger gestort. Die Stöningen der Grob- und Feinmotorik hingegen traten bei sprachauffid-

1). Uberwiegend wurde beobachtet, daI3 sich die Kinder aufmerksamer und reger verhielten. Die Kinder waren zur Halfte sprechfreudiger Artikulation und Satzbau verbesserten sich. 76 % gaben wenigstens einen verbesserten Teilaspekt hinsicht(Tab.

lich der Sprache an. Zu einem Viertel wurden auch bessere motorische Leistungen gesehen. Das Hörorgan scheint somit eine Schrittmacherfiinktion für die Kognition und für die ailge-

ligen Kindem gegeniiber Kindern mit nonnaler Sprachentwicklung nicht wesentlich häufiger auf. Hirnkrampfe oder Fieberkrampfe waren an sich kein prognostischer Faktor für sprachliche Auffuilligkeiten. Die funf Kinder mit nachgewiesenem Landau-Kleffner-Syndrom waren aber alle sprachentwicklungsverzogert oder sprachen nicht. Linkshandigkeit oder eine gestorte Lateralität trat nicht, wie häufig behauptet wird, bei sprachauffálligen Kindern häufiger auf als bei sprachlich normal entwickelten. Mehrsprachigkeit war zu 4,7 % bei sprachentwick-

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leT uysgr.

Elne Untersuchung an 1300 Kindern zur Inzidenz und Therapie von HörstOrungen

Frage (Mehrfachantworten mdglich)

%

Das Kind ist aufmerksamer für Geräusche geworden

78

Das Kind ist reger geworden

43

Das Kind st sprechfreudiger geworden

49

Das Kind spricht insgesarnt deutlicher Das Kind artikuliert mehr Laute

44 44

Der Satzbau ist komplexer geworden

31

Die Motorik ist besser geworden

24

Das Kind hat weniger Erkaltungen

Das Kind hat weniger Mittelohrentzündungen

28 19

Das Kind atmet nicht mehr durch den Mund

41

Wenigstens em positiver Effekt bezugl. der Sprache Postoperativ hat sich nichts verandert

76

Ich wQrde die Operation unter gleichen Umstanden noch einmal durchfQhren lassen

5

93

Iungsverzögerten Kindern zu beobachten. Wir haben dann ailen Eltern geraten, konsequent einsprachig zu erziehen. Bei den 22 Mehrlingen konnte kein Zusammenhang mit einer Spraclientwicklungsverzhgerung nachgewiesen werden, wobei aber die geringe Zahi gegenuber 1305 untersuchten Kindern berucksichtigt werden mull.

Indikation zur logopadischen Therapie lnsgesamt indizierten wir nur bei 37 % der Kinder logopädische Therapie, wobei Jungen etwa doppelt so häufig wie Mädchen behandelt wurden.

Diskussion Langzeithörvermögen, auditive Wahrnehmung und Sprachentwicklung Wir konnten zeigen, dali bei horgestörten Kindern sowohi die auditiven Wahrnehmungsleistungen als auch die Sprachleistungen signifikant schlechter waren als bei normalhhrenden Kindern. Zu ähnlichen Ergebnissen kamen bereits van Cauwenberge (4), HoIm (8), Maran (10), Silva (16) und Teele (17). Die Wahrnehmungsleistungen als Grundlage der Sprachentwicklung hangen nicht aber nur vom aktuellen Hörvermögen zurn Zeitpunkt der Untersuchung ab, sondern auch vom Langzeithörvermögen und von der Jahreshörbilanz. Bei-

des spiegelt sich in den Iogopadischerseits dokumentierten Sprachleistungen wider. Bei nicht altersgemällen auditiven Wahrnehmungsleistungen und normalem Hörvermhgen zum Zeitpunkt der Untersuchung erscheint es also moglich, dali in der Vergangenheit iängere Zeit eine Horstärung bestanden hat, die zur eingeschränkten Ausreifung der zentralen Hörbahn gefiihrt hat. Moglicherweise wird in diesem Fall der Zusammenhang zwischen auditiven Wahrnehmungsstörungen und früher bestandenen Horstorungen mir durch das lange zeitliche Intervail verschleiert (13). Die Hörschwelle, von der an mit Sprachstörungen gerechnet werden mull, wird kontrovers diskutiert. Im deutschen Schrifttum wird sie meist mit 30 bis 40 dB, in angloame-

rikanischen Arbeiten dagegen urn 15 dB angegeben (12). Wir weisen signifikant schlechtere Sprachleistungen schon von einem Hörveriust von 20 dB nach. Diese Hörstörungen werden von den Eltern oft nicht bemerkt (14). Oft hören dann die Kinder auch nur, dalI etwas gesagt wird und reagieren entsprechend. Hier zeigt sich eben der Unterschied zwischen ,,Hören" und ,,Verstehen".

Diagnostik und Therapie von Tubenbelàftungsstörungen Wir sahen in dieser Studie, die sich auf primär sprachauffdllige Kinder beschränkt, nur 5 % innenohrschwerhörige Kinder, während die Abteilung insgesamt zu 10% hörgerätetragende Kinder betreut. Viel haufiger, zu 95 %, waren Schallieitungsschwerhörigkeiten durch Tubenbeiuftungsstörungen mit retrahierten Trommelfellen oder Paukenergüssen.

Die bekannten Untersuchungen von Tos (18, 19), van Cauwenberge (4), Wallace (21) und Ivlertens (11) be-

legen, dali viele Kinder zwischen 2 und 6 Jahren irgendwann einmal einen Paukenergull haben. Unser Patientenkoiiektiv war selektiert und bestand aus zu 95 % sprachauffdiiigen Kindern. Die Tatsache, dali die Hdifte dieser Kinder horgestort war, lãllt den Schlull zu, dali geringgradige Schwerhörigkeiten von einem grolien Teil der sprachentwicklungsverzögerten Kinder nicht zu kompensieren sind (17).

Wir nehmen weiter an, dali bei sprachauffâlligen Kindern die Tubenbeluftungstorungen em konstitutionelies,

von Erkaitungen unabhangiges Dauerproblem darstellen, das den protrahierten Veriaufmit eingeschränkter Jahreshhrbiianz zur Sprachentwicklungsverzhgerung ffihrt. In diesem Sinne komrnt der logopddischen Sprachuntersuchung der Wert eines ,,Langzeithhrtests" zu.

Em Paukenergull wird leicht erkannt bei gelbern oder blau-schwarz eingedicktem Sekret oder beim sichtba-

ren Sekretspiegel. Auf die rnhgiichen diskreten Befunde bei einem Paukenergull wird in den weit verbreiteten Lehrbüchern von Boenninghaus (3) und Becker Naumann, Pfallz (1) zwar ausdrücklich hingewiesen; in der Praxis werden diese Befunde aber nur von erfahrenen Beobaclitem erkannt. Im besonderen sind es em miichig trübes Trommeifeil ohne Transparenz und vor allem die feine, radiäre Gefdllzeichnung des Trommelfells, die nur unter dem Ohrmikroskop und bei kritischer Betrachtung zu erkennen ist und die eine Reizung der Mittelohrschleimhaut anzeigt (2, 14). Man soilte sich auch nicht aliein aufeine emma-

lige Hörprüfting veriassen. Em mattes, nicht transparentes Trommelfell, eine durch em transparentes Trommelfell hindurchscheinende rosa Paukenschleimhaut, eine Retraktion im ohrmikroskopischen Befund oder em etwas ins Negative verschobenes Tympanogramm kann auf eine moglicherweise erst in einer Befundkontroile nachweisbare Horstorung hinweisen. Wir nennen dies em undulierendes Hdrvermdgen. Es kamen auch Innenohrschwerhdrigkeiten in Kombination mit Schalleitungsschwerhörigkeiten vor. Gerade in diesen Fällen wurde schon vor der Ableitung der akustisch evozierten Potentiale die Adenotomie in jedem Falle mit Einlage von Paukenröhrchen dutchgefuhrt, damit die Messung nicht von einer Schalleitungskomponente uberlagert werde.

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Tab. 1 Antworten der Eltern rn Mittel 1,7 Monate postoperativ bei 177 operativen Eirigriffen von April 1991 bis Juli 1992 (Adenotomie, davon 83 % mit Einlage von Paukenrohrchen).

Laiyngo-Rhino-Otol. 71 (1992) 641

R. Schdnweiler

642 Laryngo-Rhino-Otol. 71 (1992)

Während die Adenotomie zur Behandlung von TubenbelUfIungsstorungen auch in Deutschland ailgemein akzeptiert ist (1,3,5,6,7, 11, 15), liegen gerade in der zushtzlichen Einlage von Paukenröhrchen die Meinungen weit auseinander. In Deutschland steht man der Paukenrdhrcheneinlage zumindest beim Ersteingriff sehr zuruckhaltend gegenUber, wobei die angeblich hohe Spontanheilungsrate der PaukenergUsse und mdgliche Komplikationen und Spatschaden durch Paukenrohrchen angeffihrt werden (15). In den Vereinigten Staaten, in den Benelux-Ldndern und in Skandinavien werden sehr viel haufiger Paukenrdhrchen eingelegt. Als Argument fir die sofortige Einlage von Paukenrohrchen bei der serösen Otitis media wird insbesondere von Sadé (14) angegeben, dalI die Schleimhaut des Mittelohres chronisch erkrankt ist und vermehrt Schleim produziert, wie es histologiscbe Untersuchungen ja auch belegen. Der Ergull kann dann postoperativ wieder auftreten. Die Einlage von Paukenrohrchen fOrdert aber sofort die Ausheilung der Schleimhaut. Em eventuell notwendiger Zweiteingriff wird auf jeden Fall vermieden, bis zu dem daim erfahrungsgemlIll drei fir em sprachgestortes Kind wertvolle Monate verstreichen kOnnen. Die Indikation zur Einlage von Paukenröhrchen ergibt sich für uns also nicht so sehr aus der Beschaffen.heit des Mittelohrsekretes (z. B. serös oder mukds), sondern aus dem Aus-

inaji der Sprachstorung heraus und weil bei sprachgestbrten Kindern eine rasehe Verbesserung der Hdrbilanz erforderlich i st.

Bis zur spürbaren Verbesserung der Sprachleistungen verging typischerweise em Intervall von drei bis vier Monaten, bei entwicklungsverzogerten Kindern em Interval! von sechs Monaten. Wir fiihren dies aufneue auditive Wahrneh-

mungsvorgãnge zurlIck. Die operierten Kinder erleben das Sprachangebot neu und machen eine Schkrftng der Kognitionsprozesse durch. Sic hören erst zu, verbessern dann ihre rezeptiyen Sprachleistungen, um dann sprechfreudigcr zu werden und mehr Laute und einen komplexeren Satzbau zu entwickeln.

Folgerungen 15 dB sind Geringgradige Horstorungen eine hdufige Ursache von kindlichen Sprachstdrungen. Dabei sind nicht nur die Lautentwicklung, sondern alle Dimensionen der Sprache betroffen. Der zeitlichen Dynamik dieser im Rahmen von TubenbelUftungsstdrungen wechselnden, undulierenden Hdrstörungen sollte mit wiederholten ohrmikroskopischen und audiometrischen Untersuchungen Rechnung getragen werden. Bei sprachauffdlligen Kindern sollte der Hals-Nasen-Ohrenarzt zunächst eine kritische und gegebenenfalls wiederholte ohrmikroskopische Untersuchung durchflihren. Wir konnen nachweiscn, daB er damit die fir die hdufigen geringgradigen Schalleitungsschwerhorigkeiten verantwortlichen Tubenventilationsstörungen aufdeckt. Die alleinige Tympanometrie als Mittelohrscreening ist nicht zu empfehlen. DarUber hinaus erlangen die mit logoplIdischen Untersuchungen zum Teil quantifizierbaren Sprachleistungen den Stellenwert eines Langzeithortests, in den die Jahreshörbilanz des Kindes mit eingeht. Dabei sollten auch geringgradige und wechselnde Schwerhdrigkeiten konse-

quent opcrativ, auch mit der Einlagc von Paukenrdhrchen, saniert werden. Die anschliellenden Verbesserungen der Sprachleistungen nach einem zeitlichen Intervall von etwa vier Monaten fiihren wir auf geschbrfte Wahrnehmungs- und Kognitionsprozesse zurück, die durch die operative Hörsanierung in Gang gesetzt werden.

Hrirstorungen und Entwicklungsstörungen sollten fnUhzeitig erkannt und behandelt werden, urn die Sprachentwicklung zu verbessern und um in vielen Fallen logopadische Therapie und Sonderbeschulung zu vermeiden.

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Bei Kindern mit einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte, einer Weichgaumenspalte, mit einer Trisomie 21 oder mit anderen kraniofazialen Dysplasien ist grundsatzlich mit langdauernden Tubenbeluftungsstörungen zu rechnen. Deshalb indizierten wir, nachdem wir eine Hdrstdrung nachgewiesen haben, stets die Einlage von Paukenrdhrchen mit mdglichst langer Verweildauer (z. B. XomedTGrommets®).

Eine Untersuchung an 1300 Kindern zur Inzidenz und Therapie von Horstorungen

20 21

22

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'

Laiyngo-Rhino-Otol. 71(1992) 643

[Examination of 1,300 children for incidence and therapy of hearing disorders in pediatric speech disorders].

This study presents the results on 1305 children with speech disorders. The examination includes ENT-inspection, audiometry, speech-evaluations and if...
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