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Ethische und kommunikative Bedeutung der „personalisierten Medizin“

Autor

M. Kettner

Institut

Fakultät für Kulturreflexion, Universität Witten/Herdecke

Schlüsselwörter ▶ personalisierte Medizin ● ▶ Kulturwissenschaft ● ▶ Public Relations ● ▶ Vieldeutigkeit ● ▶ Ethik ● ▶ Wertkonflikte ● ▶ wunscherfüllende Medizin ●

Zusammenfassung

Abstract

Die Untersuchung hat 2 Ziele: Zum einen werden semantische Marker, mit denen die heutige, vorwiegend an Biomarkern orientierte „personalisierte“ Medizin (PM) sich als ein starker Zukunftstrend der Medizin inszeniert, kulturwissenschaftlich reflektiert. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Vieldeutigkeit dieser Marker eine Auffassung von PM in Analogie zu maßgeschneiderten Dienstleistung begünstigt und verstärkt. Dabei zeigt sich eine Paradoxie: Die Patienten sollen die Benefiziäre der PM sein, ihre wirklichen Präferenzen werden gegenwärtig aber kaum artikuliert. Zweitens werden Glanzlichter des breiten ethischen Begleitdiskurses zur PM vorgestellt, um methodische Möglichkeiten aufzuzeigen, wie ethische Wertkonflikte ethisch analysiert werden können, die mit der Durchsetzung von PM einhergehen.

The first aim of the paper is to analyse in a culture-theoretical perspective those characteristic semantic markers that permit “personalized” medicine (PM) to figure as a prestigious seminal trend of future medicine. In fact, there is evidence that the ambiguity of the favourite semantic markers of PM engenders a conception of PM that is analogous to the tailoring of services to customers. There is an air of paradox: while patients are supposed to be the key beneficiaries of PM, their genuine preferences, at present, are seriously underarticulated. The second aim of the paper is to focus attention on some highlights within the multifarious ethical discourse that accompanies the development of PM. As a result, valuable methodological options are outlined that support a consistently ethical analysis of ethical value-conflicts pertaining to the rise of PM.

Key words ▶ personalised medicine ● ▶ cultural studies ● ▶ public relations ● ▶ ambiguity ● ▶ ethics ● ▶ value conflicts ● ▶ medicine of desire ●



Einleitung

▼ Bibliografie DOI  http://dx.doi.org/ 10.1055/s-0034-1394437 Gesundheitswesen 2014; 76: e51–e56 © Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York ISSN 0941-3790 Korrespondenzadresse Prof. Dr. phil., Dipl.-Psych. Matthias Kettner Fakultät für Kulturreflexion Universität Witten/Herdecke Alfred-Herrhausen-Str. 50–52 58448 Witten [email protected]

Im Rückblick auf 200 Jahre westlicher Medizingeschichte darf man annehmen, dass der wissenschaftlich-technische Fortschritt, mit dem die westliche Medizin durch ihre starke naturwissenschaftliche Seite symbiotisch verquickt ist, über kurz oder lang stets auch der organisierten Krankenbehandlung zugute kommt. Jedoch ist die Kopplung zwischen Forschung (research) und Entwicklung (development), F&E, in der Medizin und der Verbesserung der Krankenbehandlung nur schwach, indirekt und umwegig, wie die Translationsforschung immer wieder zeigt. Dennoch sind vielfältige Bemühungen innerhalb der Gesundheitswirtschaft heute bestrebt, den vagen Zusammenhang zwischen wissenschaftlich-technischem Fortschritt und verbesserter Heilkunst mit einem neuen visionären Stichwort scharfzu-



stellen. Nicht nur wissenschaftliche Experten im Gesundheitssytem und wirtschaftliche Interessenvertreter der Gesundheitswirtschaft, sondern auch, vermittelt über Medienberichterstattung, viele medizinische Laien glauben derzeit die Trendmeinung, die besagt: Die moderne Medizin geht dort, wo sie wirklich modern ist, unweigerlich in Richtung der personalisierten Medizin.

Die PR der PM: Einige Auffälligkeiten



Dass „die personalisierte Medizin“ (PM) sich diesen zukunftsträchtigen guten Namen überhaupt machen konnte, ist angesichts der bisher eher bescheidenen spin offs für Patienten allerdings erklärungsbedürftig. Eine kulturwissenschaftliche Teilerklärung der Karriere der PM wird die steile Zunahme ihres Prestiges auf das zielstrebi-

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Ethical and Communicative Significance of “Personalised Medicine”

ge Wirken von entsprechend interessierten Akteuren zurückführen, die über rhetorischen Einfluss und geeignete Verbreitungskanäle verfügen. Während es in der Binnensicht der für PM eingenommenen medizinischen Experten so erscheint, dass die PM wirklich attraktiv ist, weil sie wissenschaftliche fortschrittlich ist, wird man in der kulturwissenschaftlichen Außenperspektive auch die Public Relations der PM untersuchen müssen, um die Gegenthese zu erproben, dass die PM vor allem deshalb populär ist, weil es für gewisse Akteure attraktiv ist, sie als fortschrittlich darzustellen. Diesbezüglich sind z. B. Beobachtungen interessant, wie man sie etwa an der seit 2004 erscheinenden Fachzeitschrift Personalized Medicine machen kann [1]. Dieses Journal erscheint im Angebot eines englischen Verlagskonglomerats, das seinen Produktlinien insgesamt den nicht eben unbescheidenen Anspruch, die Zukunft näherzubringen, übergestülpt hat [2]. Die Fachzeitschrift Personalized Medicine liefere „an integrated forum for all players involved – academic and clinical researchers, pharmaceutical companies, regulatory authorities, healthcare management organizations, patient organizations and others in the healthcare community. Personalized Medicine assists these parties to shape the future of medicine by providing a platform for expert commentary and analysis“ [3]. Doch allein aus der Synergiesuche von Experten, für die Plattformen angeboten und Allianzenbildungen angeregt werden, wird man die Popularität der PM nicht tief genug verstehen können. Es ist keine Paradoxie: Man muss tatsächlich an die kulturelle Oberfläche des PM-Phänomens rühren, um die wenig rationalen Antriebskräfte seiner Popularität tiefer zu begreifen. Denn die animal spirits [4] der Personalisierten Medizin sind nicht in ­Titelrecherchen bei Medline einzufangen, sondern z. B. an Werbebotschaften in populären social media Formaten abzulesen. Ein exzellentes Beispiel ist die Youtube-Botschaft von EPEMED, der Europäischen Vereinigung zur Beförderung der Personalisierten Medizin [5]. Hier wird dem Laien in cartoonhafter Zuspitzung innerhalb von 2 min klargemacht, dass die glorreiche Zukunft, die die Medizin hat, die Personalisierte Medizin ist. Indessen hat die bessere Zukunft der Medizin nicht nur einen Namen, sie hat nach Auskunft ihrer (Be)Treiber auch eine sub­ stanzielle wissenschaftliche Dimension. Diese ist die Molekulargenetik – nicht etwa die vielen klinisch relevanten Dimensionen innerhalb der persönliche Lebensgeschichte der Menschen. Markant ausgedrückt findet sich diese Eindimensionalität im Editorial der Startnummer von Personalized Medicine, die im Jahr 2004 erschien. Hier wird bereits empfohlen, den Fortschritt der Medizin ganz wesentlich und spezifisch als Fortschritt des molekulargenetischen Wissens auszulegen: „Personalized medicine should be regarded as an ongoing progression of healthcare, which is now advancing with genomic tools and markers“ [6]. Ein Jahrzent später formulieren die Herausgeber im Juni-Heft 2014 noch einmal deutlich und dramatisch das, was sie inzwischen für den allgemeinen Konsens halten, den kleinsten Nenner aller zukunftsinteressierten PM-Proaktiven: „It is generally accepted that tectonic shifts are underway in modern medicine – from population-wide approaches that use common features of the disease as the driving forces for its detection, diagnosis and treatment, we move to a person-centric universe with emphasis on attributes that are specific for a particular individual. This new level of understanding does not negate already accumulated knowledge of the most common aspects of disease, but rather reveals more intimate details of disease- and treat-

ment-induced changes within an individual. From averaging across diverse groups we now move to personalized medicine (PM)“ [7]. Achten wir, wie wir es als hermeneutisch eingestellte Kulturwissenschaftler sollten, bei Gegensätzen auch auf deren unmarkierte Seite. In der soeben zitierten Vision bildet offensichtlich die Bewegung hin zur PM als die zukunftsträchtige Verbesserung die positiv markierte Seite. Die Folie, auf der sich ihre positive Bewertung abhebt, ist der unmarkierte Zustand einer Medizin, die über die Unterschiedlichkeit der Patienten hinweggeht, sie nivelliert, und alle Patienten in das Prokrustesbett von Durchschnittswerten presst („averaging across diverse groups“). Aber: Ist durchschnittsfixierte Medizin denn wirklich charakteristisch für die durchschnittliche Medizin? Viele, die auf dem „Prunkwagen“ [8] der PM noch nicht mitfahren, würden das verneinen. Es kommt eben darauf an, an welche Medizin, gleichsam an welche Räume in dem großen Haus der Medizin man bevorzugt denkt. Blutprobenanalysierende Labormedizin entspricht dem Bild einer durchschnittsfixierte Medizin eher als etwa die Indikationsstellung bei ungewöhnlichen chirurgischen Eingriffen; und die pädiatrische Grundversorgung kleiner Kinder vereint beide Aspekte, den Aspekt der Orientierung an Gruppendurchschnitten (altersgruppenrelative Entwicklungsmaße von Kindern) ebenso wie die exklusive Würdigung des besonderen Falls (dieses Kind in seiner einmalige Entwicklungsgeschichte). Wenn wir viele gleichsinnige Versuche der Selbstilisierung der PM verdichten, können wir mit methodisch gewollter Überspitzung folgendes sagen: Die herkömmliche Medizin ist noch nie jene grosso modo nichtpersonalisierte Medizin gewesen, als die die Propagandisten einer Medizin, die sich endlich „personalisiere“, sie erscheinen lassen möchten. Dass die herkömmliche Medizin, wie wir sie kennen, immer schon auch personalisierte Medizin war, hat einen nichttrivialen Grund. Gemäß dem historisch gewachsenen normativen Grundverständnis der kurativen Medizin soll nämlich alles darauf ankommen, ärztliches Wissens und Können zu einem Hilfsangebot zu entwickeln, das professionalisierte Personen vertrauenswürdig anbieten und verlässlich leisten können, so dass es kranken, behandlungsbedürftigen, behandlungsfähigen und behandlungswilligen Personen im je individuellen Fall möglichst zugute kommt und möglichst nicht schadet. Krankenbehandelnde Medizin, gerade die „im neuen Jahrtausend“ [9], ist personalisierende, am kranken Menschen im konkreten jeweiligen Fall ­orientiert bleibende Medizin, kraft ihrer – allerdings bedrohten – ärztlich professionalisierten Verfassung. Ärztlich praktizierende Mediziner schreiben mehrheitlich dem System der Krankenbehandlung, das sich in den Gesundheitssystemen der modernen Gesellschaft entwickelt hat, eine Reihe von wesentlichen Sachzielen zu: die Heilung von Krankheiten; Fürsorge, wenn eine Heilung nicht möglich ist; Erleichterung und Hilfe bei krankheitsbedingtem Leiden und Schmerzen; Krankheitsprävention und Gesundheitsförderung; Verhinderung vorzeitigen Sterbens und Bemühen um einen friedvollen Sterbeprozess [10]. Diese Zielemenge, obschon als Ganze von einem breiten gesellschaftlichen Konsens getragen, ist in sich selbst keineswegs harmonisch. Zu ihrer inneren Konflikthaftigkeit – dass die Konzentration auf einen Teil der Ziele womöglich zu Lasten eines anderen Teils geht – kommt noch eine anders gelagerte Konflikthaftivität hinzu. Diese entspringt dem Umstand, dass die Medizin über ihre maßgeblichen Ziele mit ­Gesichtspunkten der Wirtschaftlichkeit und ihrer Theorie (Ökonomik), mit Gesichtspunkten der Naturwissenschaften und der

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Originalarbeit e53 Verbindungen und Prozesse, die das herkömmliche personalisierte Grundverständnis der Medizin zunehmend bedrohen und bereits eine gewisse Gegenwehr aus dem Inneren der ärztlichen Profession hervorrufen, sind komplex, in sich widersprüchlich und nicht über einen einzigen Leisten zu scheren. In einer kulturtheoretisch erweiterten Betrachtung ist auch der aktuell auffällig machtvolle Trend zur PM doch nur ein kleiner Teil von vielfältigen Wandlungsprozessen in der Kultur der Medizin als Teil von mächtigeren Wandlungsprozessen in der Kultur moderner dynamischer Gesellschaften. (Z.B. wäre ohne den mächtigen gesamtkulturellen Wandlungsprozess der Digitalisierung unserer Verständigungs- und Wissenspraktiken – Stichworte: Datenbanken, Big Data, internetbasierte Anwendungen aller Art – auch der aktuelle Trend zur PM nicht realisierbar.)

Medizinethik und PM: Glanzlichter im Begleit-Diskurs



Die Push-and-Pull Entwicklung der Popularität von PM an den Fronten des medizinischen Fortschritts ist nicht nur innerhalb der praktizierten Medizin selber umstritten. Dies ist auch nicht anders zu erwarten innerhalb einer Gemengelage von unterschiedlichen Vorstellungen von Fortschritt unter Interessengruppen, die um stets knappe Ressourcen konkurrieren. Die Popularität von PM hat aber auch innerhalb der Medizinethik eine breite und kritische Aufmerksamkeit hervorgerufen. Wichtige Ergebnisse solcher Sondierungsversuche sind m.E. noch viel zuwenig bekannt, was innerhalb der anschwellenden Kommentarliteratur zur PM vielfach dazu führt, dass das Rad immer neu erfunden wird. Zur Redundanzkontrolle und Verbesserung der Rezeptionslage sei deshalb im folgenden Abschnitt an einen gewissen schon vorliegenden Bestand guter ethischer Analysen erinnert. Die Europäische Vereinigung von Medizinethik-Zentren (EACME) stellte ihre Jahrestagung 2013 unter die Frage: „Personalised medicine – medicine for the person?“ In einer der PM gewidmeten Nummer von Ethik in der Medizin (Volume 25, Issue 3, September 2013), der Fachzeitschrift der AEM, der Göttinger Akademie für Ethik in der Medizin, wurden einige interessante medizinische, ethische, rechtliche und ökonomische Analysen vorgelegt [13]. Der Leiter des Bochumer Instituts für Medizinethik, Jochen Vollmann, hat vor dem Katzengold der PM-Rhetorik in aller Öffentlichkeit beredt gewarnt [14]. Der Deutsche Ethikrat (der Nachfolger des von Gerhard Schröder eingesetzten Nationalen Ethikrats) ist ein multiperspektivisch zusammengesetztes, diskursives Ethik-Beratungsorgan der Politik und der Öffentlichkeit, das vordringlich bioethische, aber auch andere ethische Fragen von weitreichender Bedeutung zu bearbeiten hat. Eine öffentliche Tagung des Deutschen Ethikrats 2012 widmetet sich der ethischen Einschätzung der PM. Seinem gesetzlichen Auftrag entsprechend sind die Tagungsergebnisse und Gutachten des Rats auf seiner Netzseite allgemein zugänglich. Wer die PM ethisch problematisieren möchte, sollte den dort dokumentierten Reflexionsstand kennen und zumindest nicht unterbieten. Eine ethische Metaanalyse des in der Stellungnahme zur PM ausgebreiteten Geflechts von Abwägungen ist im vorliegenden Aufsatz nicht mein Ziel. Stattdessen möchte ich die 8 m.E. bedenkenswerten, klar und deutlich formulierten ethisch relevanten Gesichtspunkte noch einmal pointieren, unter denen die Stellungnahme den Trend zur PM problematisiert [8]:

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Technologie, mit Gesichtspunkten von Politik, Management und Verwaltung (Bürokratie) grundsätzlich verbunden ist. Dass diese Verbindungen in der Natur der Sache der modern organisierten Krankenbehandlung liegen, kann schwerlich kritisiert werden, auch nicht vonseiten der Gesundheitsberufe und der Medizinethik. Kritische Aufmerksamkeit muss vielmehr den kulturellen Wandel der Ausgestaltung dieser Verbindungen begleiten. Denn wenn im internen, durch die anerkannten wesentlichen Ziele der Medizin bestimmten Bezugssystem auch Verbindungen zu andersartigen Bezugssystemen mit andersartigen Ethosund Rationalitätsvorstellungen liegen, dann droht immer die Möglichkeit, dass die Praktiken und normativen Gesichtspunkte der andersartigen Bezugssysteme die Praktiken und normativen Gesichtspunkte des inneren Bezugssystems der Medizin stören, überwältigen, deformieren, statt sie unterbestimmt zu lassen und dadurch ihrer Eigenbestimmtheit zu dienen. Diese strukturelle Konflikthaftigkeit der modernen Medizin – man kann sie als das „Problem der möglicherweise malignen Verbindung“ näher charakterisieren [11] – besteht mit Bezug zu allen anderen Bezugssystemen, mit denen die Medizin heute verbunden sein muss, um ihre eigenen Ziele angemessen verfolgen zu können. Kritische Begleitdiskurse des kulturellen Wandels der Medizin in den letzten Jahrzehnten haben dementsprechend ihre Bezugsprobleme aus der Wahrnehmung von Gefahren gewonnen, die der Medizin aus ihrer „Ökonomisierung“, ihrer „Verwissenschaftlichung“, ihrer „Verrechtlichung“ und ihrer „Bürokratisierung“ drohen. Die PM hat in ihrer heutigen Prägung ist ambivalent, sie hat auch eine Gefahrenseite. 3 Beobachtungen zur ­Gefahrenseite: 1) PM meint – ungewollt und deshalb unfreiwillig ironisch – mit „Personalisierung“ etwas, das genau genommen Stratifizierung (homogenisierende Gruppenbildung) bedeutet, sich also dem annähert, was die PM Rhetorik gerade auf Distanz bringen will. Insofern operiert die PR der PM mit einer semantischen Mogelpackung und ist irreführend. 2) Durch die vorherrschende myopische, sachlich nur scheinbar zwingende Verlegung des „wirklich“ Personalisierenden in die Dimension omischer (genomischer, proteomischer, metabolomischer) Daten wird PM zwiespältig: Im Verständnis von Personalisierung, das in der herkömmlichen kurativen Medizin derzeit noch vorherrscht, nämlich die Zentrierung medizinischer Hilfeangebote auf die individuelle ­Bedürftigkeit der kranken Person, die in einer kommunikativen konsenssuchenden Arzt-Patient-Interaktion angestrebt wird [12], muss PM, auch heilkräftige PM, als ein Danaergeschenk erscheinen. 3) Der Trend zur PM gilt als eine starke ökonomische Gewinnstrategie zukünftiger Gesundheitsversorgung im Horizont der auf Kommerzialisierung bedachten Gesundheitswirtschaft. Dem Hype ihrer Befürworter zufolge soll mithilfe modernster Diagnostik und durch den Einsatz neuer, profiliert auf Suszeptibilitäten und Vulnerabilitäten des Patienten ausgerichteter Therapieverfahren die Effektivität der Behandlung gesteigert, unerwünschte Effekte vermieden und sogar noch die Behandlungskosten reduziert werden. Das ist eine Erwartung, die unbefangenen Beobachtern der politischen Ökonomie der Medizin haarsträubend naiv oder strategisch irreführend vorkommen muss, denn bislang hat noch jeder wirkliche oder vermeintliche technikbasierte Fortschritt in der Medizin diese verteuert. PM lockt ökonomisch mit unhaltbaren Versprechungen. Soviel zur Gefahrenseite der PM, die allerdings nicht überdramatisiert werden sollte. Die oben genannten potentiell malignen

▶ Gesichtspunkt des Cui Bono: „Werden Patienten auf dem Prunkwagen der personalisierten Medizin in das Paradies medizinischen Fortschritts gefahren oder werden sie vor den Karren der molekularbiologischen Forschung und der Pharmaindustrie gespannt?“ ▶ Gesichtspunkt der Einzelfallunschärfe statistischer Information: „Werden einem Patienten durch innovative Arzneimittel nutzlose Therapien mit belastenden Nebenwirkungen – und der Solidargemeinschaft die Kosten dafür – erspart oder wird er möglicherweise aufgrund statistischer Analysen von einer Therapie ausgeschlossen, die mit nur sehr geringer Wahrscheinlichkeit für nützlich gehalten wird, die aber genau bei ihm persönlich zu vielleicht mehreren Jahren Lebensverlängerung führen könnte?“ ▶ Gesichtspunkt der differentiellen Zugänglichkeit: „Was muss geschehen, damit der Patient tatsächlich Zugang zu einer innovativen Therapie und damit zunächst zu einer zuverlässigen Biomarkerdiagnostik hat, die für die Auswahl des geeigneten, personalisierten Arzneimittels erst einmal erforderlich ist? Hier sind die bisher üblichen Verfahren und Regelungen zur Kostenübernahme noch unzureichend.“ ▶ Gesichtspunkt realer Patientenautonomie: „Wie wird sich die personalisierte Medizin auf die Gesundheitskompetenz und die Selbstbestimmung des Patienten auswirken: Wird der Patient auf einem sich oft gabelnden Diagnose- und Behandlungsweg von einem Arzt mit entsprechender fachlicher und kommunikativer Kompetenz so geführt, dass er gut informiert und beraten seine Selbstbestimmung ausüben kann, oder wird er sich im Labyrinth komplizierter Krankheitsinformationen und komplexer Gesundheitsversorgung verirren?“ ▶ Gesichtspunkt der Verantwortung der ärztlichen Profession für das professionsspezifische Kommunikationsverhältnis: „Wird Medizin zukünftig überhaupt noch im Rahmen einer Arzt-Patient-Beziehung stattfinden oder werden zunehmend Internetanbieter, denen man sein Genom in Form einer Speichelprobe zur Entzifferung und Deutung zuschickt, eine ­genombasierte medizinische Information übernehmen?“ ▶ Gesichtspunkte der Verantwortung der ärztlichen Profession für die Vertrauenswürdigkeit der Indikationsstellung: „Werden die Patienten auf eine forschungsgestützte Versorgung vertrauen dürfen? In der Zeitschrift Nature wurde jüngst von einem großen Krebsgenomforschungskonsortium eine Studie an 100 Brustkrebstumoren publiziert, in denen die Forscher sogenannte Driver Mutationen in mindestens 40 Krebsgenen und 73 verschiedene Kombinationen mutierter Krebsgene fanden. Wie kommt man bei solchen Ausdifferenzierungen von Subgruppen zu statistisch validen Daten über einen Therapieerfolg? Und wie stellt man sicher, dass die Diagnostik an nur einer kleinen Tumorprobe nicht zu unvollständigen Befunden und damit einer falschen Therapieentscheidung führt?“ ▶ Gesichtspunkt der Mitverantwortung der Solidargemeinschaft von Kranken und Gesunden für die Justierung ihrer Grenzen: „Wird die Solidargemeinschaft für die personalisierte Behandlung des Patienten einstehen oder wird sie ihn unter Berufung auf zu hohe Kosten für vielleicht nur wenig nützliche Maßnahmen oder mit dem Hinweis, er hätte die Erkrankung durch einen vorbeugenden Lebensstil verhindern können, in die auch finanzielle Eigenverantwortung entlassen?“ ▶ Gesichtspunkt der Spannung zwischen naturalistischem und humanistischem Krankheitsverständnis: „Wird der Patient –

so ist ganz grundsätzlich zu fragen – besonders erfolgreich behandelt werden oder führt die personalisierte Medizin durch eine zunehmende Biologisierung des Krankheitsverständnisses schleichend zu einer vereinzelnden, entpersonalisierenden Ausblendung der eigentlich personalen Dimen­ sion von Krankheit und Leiden?“ Als drittes Glanzlicht im medizinethischen Begleitdiskurs der PM verweise ich auf den exzellenten Bericht des Nuffield Council, eines regierungsunabhängigen englischen Ethik-Beratungsorgans, dessen Arbeitsweise noch viel stärker als der Deutsche Ethikrat auf die argumentativ begründete Urteilsbildung unter Experten setzt. Das Nuffield Council hat 2010 nach 2-jähriger Arbeit einen Report veröffentlicht, der die PM einer ungewöhnlich umsichtigen Analyse unterzieht, nämlich die Entwicklung der PM unter den Bedingungen einer konsumistisch geprägten, gesellschaftlich vorherrschenden Mentalität untersucht. Gegenstand der Untersuchung sind 6 der PM zurechenbare Praktiken, die für Patienten als den mutmaßlichen Benefiziären von PM für besonders interessant gehalten werden, weil sie angeblich den Patienten in den Mittelpunkt stellen, seine gesundheitlich relevante Entscheidungsmacht und Selbstsorge stärken. (Das Schlagwort heißt bekanntlich patient empowerment). Für 5 der 6 ausgewählten Praktiken spielen Internetanwendungen eine wesentliche Rolle. Es handelt sich um die Bereitstellung und Nutzung von „online health information (Chapter 5), online personal health records (Chapter 6), online purchasing of pharmaceuticals (Chapter 7), telemedicine (Chapter 8), personal genetic profiling for disease susceptibility (Chapter 9) and direct-to-consumer body imaging (Chapter 10). In each of those chapters, we summarise the existing legal or regulatory framework, assess developments in the application of new technologies in the light of the approach to ethical analysis set out in Chapter 3, explore the trade-offs among those principles that seem most appropriate in the context of each of those cases, and make recommendations for best practice and/or for intervention by governments or third parties“ [15]. Die Methode, die das Council wählt, um eine ethische Einschätzung möglich und verschiedene politische Handlungsoptionen ethisch bewertbar zu machen, besteht darin, dass wahrscheinliche Vorzüge und Risiken („potential advantages and disadvantages“) der betrachteten Praktiken mit einer Matrix von 5, in modernen demokratischen Gesellschaften weithin hochgehaltenen ethischen Werten gekreuzt werden. Es sind dies: (1) der Wert der Sicherung der Vertraulichkeit privater Informationen, (2) der Wert, dass die Einzelnen ihre eigenen Interessen so verfolgen können, wie sie es selber wollen, (3) der Wert staatlichen Handelns, das auf die Verminderung von Schädigungen der Bürger abzweckt, (4) der Wert, dass der Einsatz öffentlicher Ressourcen effizient und fair erfolgt, (5) der Wert, dass gesundheitlich vulnerable Mitbürger geschützt und krankheitsbezogene Risiken abgefedert werden: der Wert der gesamtgesellschaftlichen Solidarität mit Kranken. Jede der PM-Praktiken verstärkt einige dieser Werte und ist anderen abträglich. So ergibt die Matrix der Praktiken-Werte-Impact-Vergleiche ein differenziertes Feld von Wertekonflikten. Politische Handlungsempfehlungen sind dann nach Maßgabe ihrer voraussichtlichen Eignung zu entwerfen und zu bewerten, wieweit sie Konfliktspannungen im gesamten Feld von Wertekonflikten mildern („softening approach“).

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Ein weiterer interessanter Punkt des Reports ist die Unterscheidung von 4 Bedeutungen von „Personalisierung“, von denen mindestens eine mit jeder der 6 untersuchten Praktiken verbunden wird. So zeigt sich, dass die Rede von „der personalisierenden“ Medizin vieldeutig und daher von Fall zu Fall klärungsbedürftig ist: (1) Individualisierung i.S. der Anfertigung von immer bestimmteren Beschreibungen des Einzelnen durch die erhobenen medizinisch-diagnostischen Informationen. (2) Betonung von Ganzheitlichkeit („‚whole person‘ treatment“). (3) Stärkung der Konsumentenrolle innerhalb eines marktlichen Rahmens. (4) Verstärkte Zuschreibung von Eigenverantwortung für Gesundheit und Krankheit. Das Nuffield Council weist sehr vorsichtig und diplomatisch auf praktische Widersprüche hin: „some of the applications of these developments are potentially de-personalising in at least one of the 4 senses we have identified, for example if drugs are purchased online without individual diagnosis and prescription. And in many cases, such as telemedicine, the personalising or de-personalising effect of these developments is ambiguous and contestable rather than clear-cut“ [15]. In der Formulierung von politisch realistischen Handlungsempfehlungen behält das Council wohltuend konsequent eine spezifisch ethische Bewertungsperspektive bei. Wie schon erwähnt, werden verschiedene Optionen politisch-intervenierenden Handelns differentiell danach bewertet, welchen Unterschied sie im Hinblick auf ethische Wertkonflikte machen, mithin welche ethische Relevanz ihnen zukommt. Dabei wird sehr pragmatisch nicht die Auflösung, sondern nur die Abschwächung von Wertekonflikten als Zielmarke gesetzt.

PM als Botschaft: Vielfalt kommunikativer Bedeutungen



In der kulturreflexiven Herangehensweise, die ich im vorliegenden Artikel verfolge, müssen die rhetorischen Momente in der Rede (in der „Semantik“, im „Diskurs“) von „personalisierender Medizin“ gewürdigt werden. Warum ist Aufmerksamkeit auf die Vielfalt und somit potentielle Vieldeutigkeit der kommunikativen Bedeutungen von PM wichtig? Als was die „personalisierte“ oder „individualisierte“ (bereits diese Dopplung enthält Doppeldeutigkeiten) Medizin kommuniziert wird, d. h. welche Bedeutung sie in und durch bestimmte, rhetorisch durchaus auch planbare Kommunikationsprozesse annimmt (einige Soziologen würden dieses Phänomen als die „soziale Konstruktion von Wirklichkeit“ beschreiben), beeinflusst massiv die Erwartungen und Befürchtungen, die sich jeweils mit PM verbinden lassen. Als was PM kommuniziert wird, beeinflusst zudem, welche Bewertungsstandards überhaupt für passend gehalten werden, wenn man überhaupt wertende und normative Einschätzungen von PM vornehmen will. Der Verwendungssinn des Wortes ‚Personalisierung‘ reicht im modernen Sprachgebrauch mindestens über die folgenden Lesarten: ▶ L1 Denkstil der Anthropomorphisierung: die Vermenschlichung von Objekten und Sachverhalten. ▶ L2 Psychologisierende Verschiebung: Ein nicht-nur-persönliches Problem oder Konflikt wird auf Personen zugerechnet. ▶ L3 Politik der vereinfachenden Zurechnung: Kausale oder moralische Verantwortung für komplexe Veränderungen

wird nicht komplex (z. B. systemisch) verrechnet, sondern Personen als individuellen Akteuren zugeschrieben. ▶ L4 Wunscherfüllendes Maßschneidern (customizing) von Produkten: Anpassung von Produkten an individuelle Bedürfnisse der Personen, die sie nachfragen. ▶ L5 Kontextualisierung von Service: Anpassung von Gütern, Informationen oder Diensten an Merkmalsspezifikationen, die von Klienten vorgegeben werden. ▶ L6 Organisiertes Management von Wissen in Form von Lernprozessen von Personen, für die die betreffenden Personen Eigenverantwortung übernehmen sollen. Das mit dem Wort ‚Personalisieren‘ aufrufbare Sinnspektrum reicht also von stark positiven Bedeutungen (vgl. die erwünschte Anpassung einer Dienstleistung an die individuellen Präferenzen eines Nachfragers) bis hin zu stark negativen Bedeutungen (vgl. die fragwürdige Zurechnung von Problemen auf individuelle Akteure, die sie angeblich verschulden). Botschaften der PM à la „für jeden Menschen eine eigene Therapie“ werden verständlicherweise von potentiellen Patienten eher im Sinne von L4 gehört, nämlich als Maßschneidern von Therapien für Patientenindividuen, und weniger im Sinne von L2 oder L3, Lesarten, die ihrerseits durchaus nicht irrelevant sind. L4 ist aus einsehbaren Gründen die Lesart mit den besten Karriereaussichten, denn L4 ist gewissermaßen positiv überdeterminiert: Sie verleiht dem medizinischen Utopismus Flügel, schmeichelt den Patienten als Personen, und – last not least – sie heizt den Geschäftsgeist der Gesundheitswirtschaft an, denn im Licht von L4 entstehen neue Geschäftsmodelle, die das konventionelle, auf Blockbuster-Pharmaka abzielende Geschäftsmodell der Pharmaindustrie ergänzen oder ersetzen könnten. Warum spielt sich die Vieldeutigkeit der möglichen semantischen Marker, mit denen den PM-Bestrebungen eine bestimmte öffentliche Bedeutung verliehen wird, gerade auf Marker aus dem Begriffsfeld der Personalisierung ein? Semantische Marker, mit denen Organisationen sich öffentlichkeitswirksam in Szene setzen, fungieren in der Regel als Beschaffer von Legitimation, wenn sie die betreffenden Organisationspraktiken symbolisch mit solchen Werten assoziieren, die in allen möglichen Praxisbereichen einer Gesellschaft affirmativ behandelt werden. Solche semantischen Marker für gesellschaftsweit generalisierte Werte sind heute z. B. „Effizienz“, „High-Tech“, „Digital“,„Bio“, „Demokratie“, „Autonomie“,„Corporate Social Responsibility“, „Nachhaltigkeit“. Sie funktionieren als Legitimationsbeschaffer für Organisationen und Institutionen, die es verstehen, sie in ihre Selbstdarstellung einzupassen und nach außen zu kommunizieren. Organisationssoziologen erhärten diese empirische Erklärungshypothese schon seit langer Zeit: „organizational success depends on factors other than efficient coordination and control of productive activities. Independent of their productive efficiency, organizations which exist in highly elaborated institutional environments and succeed in becoming isomorphic with these environments gain the legitimacy and resources needed to survive“ [16]. Es ist zu vermuten, dass auch „Personalisierung“ (im Sinne der Lesarten L4 und L5) so funktioniert. Denn ein unabsehbar großes Netz von Einrichtungen unseres Lebens als Konsumenten in einer entfalteten Marktwirtschaft oder Commercial Society [17] unterstützt genau diese Lesarten. Insofern erscheint die derzeitige Gestalt von PM wahlverwandt mit aktuellen Personalisierungstrends, die Verbraucherwünsche erfüllen (oder Verbraucherwünsche zuerst wecken, um sie dann zu erfüllen), in vielen Bereichen des Lebens in marktwirtschaftlich fortschrittlichen und kulturell liberalen Gesellschaf-

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e56 Originalarbeit ten. Die derzeitige Gestalt von PM bezieht aus dieser Wahlverwandtschaft eine besondere Attraktivität, quasi Selbstverständlichkeit und Akzeptanz vgl. [18].

Interessenkonflikt: Die Autoren geben an, dass kein Interessenkonflikt besteht.

Fazit: Eine wesentliche Diskrepanz Ein Fazit der angestellten Überlegungen zur moralischen Zweideutigkeit und kommunikativen Vieldeutigkeit „personalisierter“, „personalisierender“, „individueller“ Medizin könnte kaum besser formuliert werden als mit den Worten, mit denen das Büro für Technikfolgenabschätzung beim Deutschen Bundestag (TAB) im Schlussteil seines Zukunftsreports „Individualisierte Medizin und Gesundheitssytem“ 2008 eine bedenkenswerte Diskrepanz feststellt. Während der Schwerpunkt der Forschungsaktivitäten und Technologieentwicklung, die sich programmatisch auf PM berufen, auf der Identifizierung und Charakterisierung neuer (molekularer) Biomarker und der Entwicklung von Test-, Mess- und Auswerteverfahren für diese Biomarker besteht, bleiben die angeblichen Benefiziäre dieser Betriebsamkeit erstaunlich stimmenlos: „Die individualisierte Medizin ist ein Forschungs- und Technologiegebiet, für das in besonderem Maße auf die ‚Individualisierung‘ im Sinne einer Maßschneiderung auf die Gegebenheiten und Präferenzen einzelner Personen rekurriert wird. Deshalb ist es besonders bemerkenswert, dass die sozialwissenschaftliche Forschung zu Patientenpräferenzen und ihrem (möglichen) Nutzungsverhalten der individualisierten Medizin bislang äußerst spärlich ist. Deshalb besteht dringender Bedarf, sozialwissenschaftliche Untersuchungen des möglichen künftigen Adressaten- und Nutzerverhaltens auszubauen und sie begleitend zum Forschungs- und Entwicklungsprozess der individualisierten Medizin durchzuführen. Die Ergebnisse sollten für die Gestaltung der Technik und der Rahmenbedingungen ihres Einsatzes genutzt werden, um die gesundheitsbezogenen Ziele unter Berücksichtigung der Präferenzen und des Verhaltens der Zielgruppe erreichen zu können. Dafür sind im Verlauf der kommenden Jahre vielfältige Forschungsansätze erforderlich, die von der Untersuchungen von Reaktionen auf ein fiktives Testergebnis in ­hypothetischen Gentestszenarios über sozialwissenschaftliche Begleitforschung im Rahmen klinischer Studien zur Validierung von biomarkerbasierten Testverfahren bis hin zu entsprechenden Untersuchungen in der alltäglichen medizinischen Versorgung reichen“ [19]. Das damalige Desiderat, die angeblichen Hauptnutznießer von PM zu ermächtigen, sich über ihre wirklichen Interessen klar zu werden und ihre Präferenzen zur Geltung zu bringen, ist auch heute noch nicht eingelöst. Aber während der TAB-Bericht mehr Sozialforschung über die Präferenzen der Bürger empfiehlt, wäre auf der Grundlage von Diskursethik in der Medizin [20] anzumahnen, dass die Deliberations-Chancen der Bürger selber verbessert werden sollten.

1 http://www.futuremedicine.com/loi/pme (Zuletzt besucht am 1.8.2014) 2 http://www.future-science-group.com (Zuletzt besucht am 1.8.2014) 3 http://www.futuremedicine.com/page/journal/pme/aims.jsp (Zuletzt besucht am 1.8.2014) 4 Akerlof GA, Shiller RJ. Animal Spirits: Wie Wirtschaft wirklich funk­ tioniert. Frankfurt: Campus, 2009 5 https://www.youtube.com/watch?v = fEY3Khsmuak#t = 72 (Zuletzt besucht am 1.8.2014) 6 Gualberto R. Quo vadis personalized medicine? Personalized Med 2004; 1: 1–7 7 Levenson V, Mori Y. Personalized Medicine 2014; 11: 361–364 8 Deutscher Ethikrat. Tagungsdokumentation Personalisierte Medizin – der Patient als Nutznießer oder Opfer? Berlin 2013 9 Medical Professionalism Project. Medical professionalism in the new millennium: a physicians’ charter. Lancet 2002; 359: 520–522 10 Hanson M, Callahan D, Hrsg. The goals of medicine. The forgotten issues in health care reform. Washington: 1999 11 Kettner M, Loer T. Das Arzt/Patient-Wirkbündnis als Basis der moralischen Beurteilung von Ökonomisierungsprozessen im Krankenhaus. Jahrbuch für Ethik in der Klinik 2011; 4: 17–40 12 Kettner M, Kraska M. Kompensation von Arzt-Patient-Asymmetrien im Rahmen einer Theorie kommunikativen Handelns. In: Vollmann J, Schildmann J, Simon A, Hrsg. Klinische Ethik. Aktuelle Entwicklungen in Theorie und Praxis. Frankfurt: Campus, 2009; 243–260 13 Schildmann J, Marckmann G, Vollmann J. Personalisierte Medizin. Medizinische, ethische, rechtliche und ökonomische Analysen. Ethik Med 2013; 25: 169–172 14 Vollmann J. Ein trügerisches Versprechen. Trotz immenser Investitionen in die Erforschung des menschlichen Erbguts sind die Fortschritte auf dem Gebiet der „personalisierten Medizin“ bis heute gering. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 5.5.2012; (Nr. 105): 10 15 Nuffield Council on Bioethics. Medical profiling and online medicine: the ethics of ‘personalised healthcare’ in a consumer age. Oxfordshire: Nuffield Press, 2010 16 Meyer JW, Rowan B. Institutionalized Organizations: Formal Structure as Myth and Ceremony. American Journal of Sociology 1977; 83: 340–363 17 Koslowski P. Ökonomisierung, Kommerzialisierung, Commercial Society. In: Kettner M, Koslowski P, Hrsg. Ökonomisierung und Kommerzialisierung der Gesellschaft. Wirtschaftsphilosophische Unterscheidungen. München: Wilhelm Fink, 2011; 255–277 18 Kettner M, Hrsg. Wunscherfüllende Medizin. Ärztliche Behandlung im Dienst von Selbstverwirklichung und Lebensplanung. Frankfurt: Campus Verlag, 2009 19 Hüsing B, Hartig J, Bührlen B et al. Individualisierte Medizin und Gesundheitssystem. Zukunftsreport. Arbeitsbericht Nr. 126. Berlin: TAB, 2008 20 Kettner M. Discourse Ethics. Apel, Habermas, and beyond. In: Rehmann-Sutter C, Düwell M, Mieth D, Hrsg. Bioethics in Cultural Contexts. Reflections on Methods and Finitude. Berlin: Springer, 2006; 299–318

Kettner M. Ethische und kommunikative Bedeutung …  Gesundheitswesen 2014; 76: e51–e56

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Literatur

[Ethical and communicative significance of "personalised medicine"].

The first aim of the paper is to analyse in a culture-theoretical perspective those characteristic semantic markers that permit "personalized" medicin...
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