originalarbeit Wien Med Wochenschr (2014) 164:34–41 DOI 10.1007/s10354-013-0255-8

Ethik und ärztliches Ethos im Medizinstudium und im Gesundheitswesen Ulrich H. J. Körtner · Angelika Hofhansl · Stefan Dinges

Eingegangen: 1. Juli 2013 / Angenommen: 19. November 2013 / Online publiziert: 10. Dezember 2013 © Springer-Verlag Wien 2013

Zusammenfassung  Im deutschsprachigen Raum ist im Bereich der wissenschaftlichen Einrichtungen, die sich mit Medizinethik im engeren und weiteren Sinn beschäftigen, eine vehemente Diskussion entstanden, ob nicht ein Mediziner/eine Medizinerin letztlich das vertreten soll und muss, was unter moderner Medizinethik zu verstehen ist. Auf dem Hintergrund dieser Diskussion bezieht der Aufsatz nicht nur theoretisch zu diesen Fragen Stellung, sondern er bezieht sie unmittelbar auf die Praxisfelder Medizinstudium, Krankenhaus und Gesundheitssystem. Der Aufsatz präsentiert die Vorschläge des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin (Universität Wien) zur Evaluierung und Weiterentwicklung des Ethikthemas im Rahmen des Medizin Curriculums Wien (MCW). Dazu gehört u. a. ein integriertes Modell von Stufen der Ethikkompetenz. Schlüsselwörter  Medizinethik/Medizinisches Ethos  · Ethik im Gesundheitswesen · Ethikausbildung · Ethische Kompetenz · Medizin Curriculum Wien (MCW)

Medical ethics in the undergraduate medical curriculum and in the health care system Summary  In German speaking areas, in the scientific establishment which is occupied with medical ethics in the narrower and wider senses, a vehement discussion has developed as to whether or not medical practitioners must ultimately advocate that which is understood to be modern medical ethics. Against the background of this discussion, this article takes up a position on these questions, not only theoretically, but also with reference to the fields of practice of medical studies, hospitals, and the health system. The article presents the proposals of the Institute for Ethics and Law in Medicine (University of Vienna) for the evaluation and further development of the theme of ethics within the framework of the Medical Curriculum of Vienna (MCW). Among other things, this requires an integrated model of levels of ethical competence. Keywords  Medical ethics  · Ethics in health care system  · Ethical training  · Competence in ethics  · Medical Curriculum Vienna Wien (MCW)

O. Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. U. H. J. Körtner () Vorstand des Instituts für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien, Spitalgasse 2–4, Hof 2, 1090 Wien, Österreich E-Mail: [email protected] Dr. S. Dinges Institut für Ethik und Recht in der Medizin, Universität Wien, Spitalgasse 2–4, Hof 2, 1090 Wien, Österreich E-Mail: [email protected] Dr. A. Hofhansl, MME Department für Medizinische Aus- und Weiterbildung, Curriculumkoordination, Curriculumdirektion Medizinische Universität Wien, Spitalgasse 23, 1090 Wien, Österreich E-Mail: [email protected]

Wem gehört die Ethik in der Medizin? Im Deutschen Ärzteblatt hat Meinolfus Strätling erst jüngst in der Auseinandersetzung um klinische Ethikberatung gefordert, „ethische Kernkompetenzen in die Medizin zurück[zu]holen“ [1]. Mit diesem wichtigen Anliegen möchte sich dieser Artikel anhand der Reflexion einiger Praxisfelder klinischen bzw. medizinischen Handelns auseinandersetzen. Die 2. These von Strätling, in der Vergangenheit hätten die Heilberufe zu sehr „die Übernahme dieses wichtigen Bereichs durch fachfremde Disziplinen zugelassen“ [1], ist allerdings kritisch zu diskutieren, wenn er hier Philosophen/Philosophinnen

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und Theologen/Theologinnen generalisierend als fachfremd und praxisfern bezeichnet. Auch die jüngsten Äußerungen aus heimischen Ärztekammern zu Qualitätskontrolle und Patienten-Beauftragten lassen vermuten, dass das, was wir unter ethischer Kernkompetenz verstehen – nämlich eine Reflexion des medizinisch ärztlichen Handelns in Bezug auf wichtige Grundwerte und -prinzipien – von vielen Vertretern und Vertreterinnen medizinischer Berufe lieber in einem geschützten Innenraum verhandelt werden möchte als in einer breiteren Öffentlichkeit. Dieses Anliegen ist insofern zu unterstützen, dass das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt/Ärztin und Patient jedenfalls ein wichtiges und schützenswertes Gut ist. Aus unseren Erfahrungen mit den Themen Sicherheit und Qualität in Weiterbildung, Training und Beratung im Gesundheitswesen wissen wir auch, dass eine Lernatmosphäre und -kultur auf Vertrauen und Diskretion sowie auf ein gewisses Maß an Feldkompetenz angewiesen sind. Im deutschsprachigen Raum ist im Bereich der wissenschaftlichen Einrichtungen, die sich mit Medizinethik im engeren und weiteren Sinn beschäftigen, eine Diskussion entstanden, ob nicht ein Mediziner/eine Medizinerin letztlich das vertreten soll und muss, was unter moderner Medizinethik zu verstehen ist. Auf dem Hintergrund dieser Diskussion ist es uns wichtig, nicht nur theoretisch zu diesen Fragen Stellung zu beziehen, sondern sie unmittelbar an die Praxisfelder Medizinstudium, Krankenhaus und Gesundheitssystem zurückzubeziehen. Wir sind davon überzeugt, dass medizinische Kompetenz und klinische Expertise essenziell zur Medizinethik dazu gehören. Ebenso überzeugt sind wir, dass wirksame Ethik im Sinne einer mehrdimensionalen Handlungsreflexion nicht allein aus der ärztlich-medizinischen Binnenperspektive zu leisten ist. Medizinethik braucht geschützte Reflexionsräumen und Multiperspektivität bzw. Interdisziplinarität – um die große Gefahr der eigenen blinden Flecken bzw. von Selbstreferenzialität zu vermeiden. In den unterschiedlichen Entwicklungsschritten des Medizin-Curriculums Wien (MCW) wurden einige wichtige Initiativen ergriffen, die diesem Anliegen und einer entsprechenden Praxis Rechnung tragen: ●● Gleich zu Studienbeginn erhalten die Studierenden im Curriculumelement „Soziale Kompetenz“ den ersten Patientenkontakt in einem Pflegekrankenhaus. Damit findet zu einem frühest möglichen Zeitpunkt eine begleitete Berührung mit der Praxis statt; ●● die sozialen Kompetenzen werden im Studienverlauf durch die Unterrichtsreihe „Ärztliche Gesprächsführung“ ergänzt. Darin werden im Kleingruppensetting anhand von Schauspiel-Patienten und -Patientinnen kommunikative Kompetenzen gefördert und reflektiert; ●● der klinische Unterricht im 5. und 6. Studienjahr vertieft diese Ansätze. Eine wichtige Fragestellung für die Verantwortlichen des MCW ist, wie im gesamten

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Studienverlauf so etwas wie ein ärztliches Ethos bzw. eine ärztliche Haltung ausgebildet werden kann – und ob und wie sie gegebenenfalls auch zu überprüfen ist; ●● die Implementierung eines freiwilligen MentoringProgramms für Studierende. Der Mentor/die Mentorin (Wissenschafter/Wissenschafterinnen, Kliniker/ Klinikerinnen) hat eine gewisse Vorbildwirkung auf die persönliche und professionelle Entwicklung der Mentees.

Ethik als Querschnittsthema in der Medizin(ausbildung) Die Forschungsplattform ‚Institut für Ethik und Recht in der Medizin (IERM)’ ist gerne der Einladung zu einer Bestandsaufnahme der Ethikteile im MCW gefolgt und hat Vorschläge für die Evaluation und Weiterentwicklung des Ethikthemas gemacht [2, 3]. Das MCW hat sich in Bezug auf das Thema Ethik konkrete Ziele gesteckt: Ethik soll sich verstärkt wie ein roter Faden durch das gesamte Curriculum ziehen; die Vermittlung von medizinethischem Wissen soll ineinander greifen mit wachsenden sozialen, kommunikativen und ethischen Kompetenzen, die letztendlich eine Haltung einer ‚guten Ärztin‘ bzw. eines ‚guten Arztes‘ entstehen lassen. Dabei ist ‚gut‘ hier explizit als eine ethische Qualität zu verstehen und zielt eben genau auf die Kompetenz zu einer (Selbst-) Reflexion des eigenen medizinischen Handelns hin – jenseits der fachlichen Qualifikation, die sich, zumindest auf den ersten Blick, einfacher überprüfen lässt. Dennoch, daran lassen die Verantwortlichen für das MCW keinen Zweifel, soll im Studium ein ärztliche Ethos vermittelt, trainiert und überprüft werden – so der Anspruch. Die für das Curriculum verantwortlichen KollegInnen haben verdeutlicht, dass es für sie nicht sinnvoll erscheint, die ethischen Themen, den ethischen Kompetenzerwerb wie auch ein Gesamtbild des Themas Ethik in isolierten Lehrveranstaltungen zu organisieren. Wir teilen die Einschätzung, dass die Inhalte der anderen Curriculumelemente immer wieder explizit auf die ethische Querschnittsmaterie (in Form von Wissen, Kompetenzen, Haltung) bezogen werden müssen. Mögliche Ansatzpunkte, diese Querschnittsmaterie zu organisieren, werden hier vorgestellt.

Von einer Medizinethik zu einer Ethik des Gesundheitswesens Inhaltlich und strukturell sind die vielfältigen Ansätze im MCW zu bündeln, zu sichten und stärker auf eine Balance zwischen Wissen und Haltung hin zu fokussieren bzw. auszurichten: Kompetent angewandtes Wissen im Bereich von Ethik und Medizinethik fördert ethisch und fachlich ‚gute Ärzte und Ärztinnen‘ – klassischer Bereich der Medizinethik (A). Gleichzeitig braucht

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es eine Erweiterung (inhaltlich/strukturell) hin zu einer Konzeption einer Ethik des Gesundheitswesens (B) [4, 5]. Ad A. Eine wesentliche Brücke ist durch die Kompetenzentwicklung zu erreichen. Hier ist der Bogen zu spannen zwischen den traditionellen kommunikativen Fähigkeiten bis zum eingeübten und implementierten Know-how eines Ethik-Konsils, einer internen ethischen Fallbesprechung oder einer extern moderierten Ethikberatung – immer verbunden mit der Frage der Über- bzw. Abprüfbarkeit. Dies lässt sich am Beispiel des Themas ‚Ärztliches Gespräch‘ zeigen: 1. Welches Selbstbild/welche Rolle hat der handelnde Arzt/die handelnde Ärztin in einer bestimmten Situation? Es gibt das Selbstbild einer einfühlsamen und fachkundigen Unterstützung zur Überwindung einer Krankheit. Es gibt jedoch auch ein anderes Selbstbild, das mit distanzierter Neugierde an eine außergewöhnliche Krankheit herangeht und dabei ein wissenschaftliches, experimentelles Tun und Wissensgenerierung in den Vordergrund stellt – und evtl. den leidenden Menschen etwas zurück. Einem solchen Selbstbildnis verdankt die naturwissenschaftliche Disziplin der Medizin viele ihrer bahnbrechenden Erkenntnisse. In Zeiten, in denen der Geldwert im Gesundheitswesen eine wichtige Rolle spielt, ist auch das Selbstbild eines ökonomisch verantwortlichen und erfolgreichen Akteurs vorstellbar; hier werden knappe Mittel wie Zeit und Materialressourcen zu einer Entscheidungs- und Handlungsgrundlage. Ein weiteres Spannungsfeld entsteht zwischen professioneller Distanz und empathischer Zuwendung: Wie gelingt es handlungs- und entscheidungsfähig zu bleiben angesichts von Emotionen und Betroffenheit? Hier werden in einer ersten ethischen Analyse nicht nur Typen ärztlicher Selbstbilder/Rollenbilder, sondern auch Spannungspole beschrieben, zwischen denen sich heute ärztliche Selbstbilder/Rollenbilder definieren müssen. Diese unterschiedlichen Spannungspole beschreibbar zu machen, ohne sie sofort mit einer Bewertung zu versehen, ist ein wesentliches Ergebnis einer ethischen Analyse. 2. In welchem Kontext findet das ärztliche Handeln statt? Insbesondere im niedergelassenen Bereich sind Arzt und Ärztin in der Regel die alleinigen Akteure gegenüber/mit dem Patienten/der Patientin. Im institutionellen Bereich (Krankenhaus, stationäre Altenpflege, etc.) ist es heute schon zu einem Qualitätsstandard geworden, bei einem Aufnahmegespräch auch das interprofessionelle Team der Einrichtung mit einzubeziehen, um das anschließende Behandlungsprocedere optimal gestalten zu können. Dagegen steht eine andere Konzeption, die wesentlich von dem Bild der Letztverantwortlichkeit des ärztlichen Handelns ausgeht; das ärztliche Handeln ist hier weit mehr Personen-gebunden als teamorientiert. In welchem

Kontext welches Handeln angemessener ist, kann hier nicht leichterdings entschieden und bewertet werden. 3. Welche Rahmenbedingungen findet der handelnde Arzt oder die handelnde Ärztin vor? Welche Entscheidungsspielräume, welche Zeiträume sind vorgegeben und verunmöglichen eigentlich das idealtypisch vorgegebene „gute ärztliche Gespräch“? Und mit der Perspektive der Weiterentwicklung: Welche Strukturen, Aufträge, Rahmenbedingungen würde es brauchen, um angemessen das Gespräch durchführen zu können? Es gilt zu verhindern, dass ethische Ansprüche und Haltungen nur als Appell übrig bleiben: eine interprofessionelle Organisationsethik des Gesundheitswesens, die auf entsprechende Strukturen und Kompetenzen aufbauen kann, wird hier ein entscheidender Ansatzpunkt sein [6, 7]. Ad B.  Neben dem persönlichen Wissen, Kompetenzen und Haltungen von einzelnen Ärzten und Ärztinnen, möchten wir deswegen den Blick weiten auf weitere Dimensionen ethischer Analyse und Praxis: 1. Medizin als Disziplin in den Einrichtungen des Gesundheitswesens tritt mit dem Anspruch an, dass sie eine wesentliche Leitdisziplin im Behandlungsgeschehen ist. Allein schon aus dem Leitungsanspruch heraus ist die Frage nach der Führungskompetenz bzw. Führungsethik in einem interdisziplinären und interprofessionellen Behandlungs- und Heilungsprozess zu stellen [8]. Das trifft sich mit jener Aussage in der Managementliteratur, dass Ethik wesentlich in der Verantwortung von Führungskräften liegt. 2. Medizinethik kann heute nicht mehr als reine Standesethik oder Bereichsethik (neben einer Pflegeethik etc.) betrieben werden – es braucht eine Organisationsethik der einzelnen Gesundheitseinrichtung ebenso wie ethische Rahmungen im Gesundheitswesen, sprich: eine Ethik des Gesundheitswesens. Für den dazu notwendigen Diskurs, die Bearbeitung und Umsetzung braucht es vereinbarte Orte, Strukturen und Regeln – im Studium und den Einrichtungen des Gesundheitswesens. Hier sind z.  B. die im Curriculum schon vorhandene Ansätze und Instrumente (klinischer) Ethikberatung zu verstärken [6, 9]. 3. Aufgrund der unterschiedlichen Verantwortungsrollen, die Ärzte und Ärztinnen im Gesundheitswesen übernehmen, wird es also neben dem persönlichen ärztlichen Ethos auch eine analoge ethische Haltung eines Teams, einer Abteilung, einer Einrichtung brauchen. Neben einer zentralen Aufmerksamkeit für den Patienten/die Patientin ist dabei im Sinne einer mehrdimensionalen Verantwortungsethik [3] auch die Orientierung auf interprofessionelle Teams sowie die Dienste und Einrichtungen des Gesundheitswesens zu organisieren und zu gewährleisten.

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originalarbeit Inhaltliche Positionierungen für ethische Themen im MCW Vergewisserung der anthropologischen Grundlagen in der aktuellen Medizinethik In den deutschsprachigen Ländern werden Grundbegriffe und Verhältnisse wie dasjenige zwischen Autonomie/Selbstbestimmung und Lebensschutz breit und konträr diskutiert und im Rahmen pluraler Gesellschaften neu bestimmt; hier gilt es, die vielfältigen philosophischen und theologischen Positionen zu beschreiben wie auch aktuelle Menschenrechts- und -würde-Konzeptionen zu berücksichtigen [10, 11]. Kernbegriffe wie Krankheit, Gesundheit oder Behinderung werden je nach Menschenbildkonzeption unterschiedlich definiert und verstanden. Es ist zu fragen, in wieweit hier z.  B. dynamische Modelle (Peter Heintel, Karl-Heinz Wehkamp) ausreichend vorgestellt und unterrichtet werden. Stichwörter dabei sind zum Beispiel ‚Prozess-Ethik‘ bis zu ‚altersgerechte‘ bzw. ‚altersspezifische Formen der Bewältigung‘.

Integration und Umsetzung eines mehrdimensionalen Menschenbildes in Palliative Care (WHO 1990, 2002) Unser Augenmerk liegt dabei auch auf dem Themenfeld Spiritualität/Religion: Wie kann eine zugleich religions- und spiritualitätssensible Ethik gestaltet werden? Welche Professionen müssen dafür im Behandlungsprozess beteiligt werden? Ein zweiter Blick ist auf eine angemessene psychosoziale Betreuung und Begleitung von PatientInnen zu legen. Auch wenn die psychosoziale Betreuung nur am Rande des ärztlichen Handlungsfeldes liegt und hier andere Profession wesentlich zu beteiligen sind, kommt doch der ärztlichen Rolle in der Führung und Organisation des Behandlungsprozesses eine wichtige Rolle zu. Damit wird die Integration sowie die Steuerung der Beteiligung anderer Professionen zu einem Qualitätsstandard ärztlichen Handelns. Hier geht es nicht nur um das Vermeiden einer einseitigen medizinische Versorgung von Patienten/ Patientinnen, sondern auch um das Gewähren zentraler Patientenrechte, z. B. auf angemessene Schmerztherapie oder auf Sterbebegleitung.

Etablierung und Ausgestaltung einer inter- und transkulturellen Medizin Beginnend bei Rücksichtnahme auf Sprach- und Verständigungsprobleme von Migranten/Migrantinnen [12] aber auch dementiell veränderten Patienten/Patientinnen bis hin zu einer geschlechtersensiblen Medizin, braucht es auch eine entsprechende inter- und transkulturelle Medizinethik; diese Inhalte finden sich sehr wohl

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bei der fachlichen Themen im MCW, aber bislang noch nicht bei den ethischen Themen.

Die komplementären Perspektiven des gesamten Behandlungssystems Unserer Überzeugung nach braucht es eine systemische Perspektive auf einzelne Behandlungssituationen: Beteiligung des Patienten/der Patientin am eigenen Behandlungs- und Gesundungsprozess, Beteiligung in Richtung Patientensicherheit, Einbeziehung von An- und Zugehörigen, einrichtungsüberschreitende Behandlungspfade, Fragen der sozialen Integration bzw. Desintegration etc. Hier greifen aktuelle medizinische Herausforderungen Hand in Hand mit notwendigen ethischen Standards ärztlichen und pflegerischen Handelns. Aus einer systemischen Perspektive sind hier die einzelnen Berufs- und Bereichsethiken zu Bausteinen einer interprofessionellen Organisationsethik bzw. einer Ethik des Gesundheitssystems auszubauen; Medizinethik weitet sich hier zu einer integrativen Disziplin für die Gesundheitsberufe.

Konkretisierung von Lerninhalten und -zielen Ein integrales Modell der Ethikausbildung, die nicht nur theoretisches Wissen vermittelt, sondern auch ethische Haltungen und ethisch fundierte Professionalität einübt und fördert, kann sich am Begriff der Kompetenz orientieren. Medizinethische Kompetenz lässt sich auf unterschiedlichen Stufen definieren, für die im Folgenden ein Stufenmodell vorgeschlagen wird. Dabei wird vorausgesetzt, dass die Ausbildung einer medizinethischen Kompetenz nur mit dem fortschreitenden Erwerb medizinischer Kompetenz Hand in Hand gehen kann. Stufenmodell der medizinethischen Kompetenz (überarbeitete Darstellung nach [3] ●● Stufe 1: Neuling Studierende in der Grundausbildung. Sie müssen zunächst lernen, was konkret ein ethisches Problem ist bzw. was in einer konkreten Situation der ethische Aspekt des Problems (im Unterschied zu den fachlich/ medizinischen Aspekten) ist. Ziele der Ausbildung: Vermittlung ethischer Grundbegriffe, Prinzipien und Regeln sowie der unterschiedlichen ethischen Konzeptionen; Einführung in die Grundlagen und Aufgaben der Medizinethik. ●● Stufe 2: Fortgeschrittener Anfänger (Famulaturreife) Studierende im 2. oder 3. Ausbildungsjahr, die nicht nur über theoretisches Elementarwissen auf dem Gebiet der Ethik verfügen, sondern auch schon so viele Situationen kennen gelernt und bewältigt haben, dass sie in der Lage sind, die wiederkehrenden bedeutungsvollen situativen Bestandteile einschließlich der ethischen Aspekte zu erkennen und in konkreten Situationen das ethische Problem beschreiben können.

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Ziele der Ausbildung: Einübung ethischer Kompetenzen anhand von Fallbeispielen. Stufe 3: Ethikkompetente Studierende (Klinisches Praktisches Jahr-Reife, KPJ-Reife) Studierende nach Famulatur bzw. im klinischen Unterricht, die ihr ethisches Wissen und ihre situative Urteilsfähigkeit durch Teilnahme an regelmäßig stattfindenden interdisziplinären Fallkonferenzen (Rounds) schulen, in denen Fallbeispiele aus der klinischen Praxis analysiert werden. Sie sind nicht nur in der Lage, ethische Probleme rückblickend zu analysieren und die Einzelaspekte ethisch zu gewichten sowie Handlungsalternativen ethisch zu begründen, sondern können auch vorausschauend die ethischen Aspekte und die ethischen Konflikte, die sich aus der weiteren Entwicklung eines konkreten Falles ergeben können, in die Planung ihres Handelns einbeziehen. Ziele der Ausbildung: Neben regelmäßigen Fallkonferenzen Teilnahme an Lehrveranstaltungen auf dem Gebiet der Medizinethik. Stufe 4: Ethisch erfahrene Ärzte und Ärztinnen (Approbationsreife) In der Ethik erfahrene Ärzte und Ärztinnen lassen sich von ethischen Maximen leiten, deren rechter Gebrauch ein tiefer gehendes Verständnis der Gesamtsituation erfordert. Auch verfügen sie über ausreichende Erfahrungen mit Ethikgesprächen und beherrschen die Verfahrensregeln für einen ethischen Diskussionsprozess z. B. im Team oder in einem Ethikkomitee. Sie erkennen aufgrund ihrer Erfahrung, ob ein Einzelfall von der Regel abweicht und können im Sinne der Einzelfallgerechtigkeit auch mit ethischen Grenzfällen kompetent umgehen. Sie haben Erfahrung mit ethischen Dilemmata und den Grenzen glatter ethischer Lösungen, an denen Verantwortungsübernahme nicht frei von moralischer Schuld ist. Ziele der Fortbildung: Vor allem regelmäßige Rounds, in denen Fallbeispiele aus der eigenen Praxis diskutiert werden, aber auch Teilnahme an Fortbildungsveranstaltungen auf unterschiedlichen Gebieten der Ethik im Gesundheitswesen. Stufe 5: Ethik-Experte/Expertin Ärzte und Ärztinnen, die neben der praktischen Erfahrung über ein vertieftes theoretisches Wissen verfügen. Sie sind in der Lage, ethische Probleme intuitiv zu erfassen und Einzelsituation ethisch in einem größeren Kontext zu interpretieren. Sie sind auch ausgewiesenermaßen für die Mitarbeit in Ethikkommissionen und Klinischen Ethikkomitees qualifiziert. Ziele der Fort- und Weiterbildung: Berufliche Weiterbildung auf dem Gebiet der Medizinethik und der Ethik im Gesundheitswesen in Form von außeruniversitären Lehrgängen, die mit einem Zertifikat abschließen, in Form von Hochschullehrgängen oder in Form einer Schwerpunktbildung im Rahmen eines PhD-Studiums der Medizinethik bzw. Ethik im Gesundheitswesen.

Betont sei, dass das vorgestellte Modell ein integratives Konzept ist. Anstelle einer Versäulung von Medizinethik, Pflegeethik und anderen Bereichsethiken innerhalb des Gesundheitswesen zielt es auf interprofessionelle Durchlässigkeit, entsprechend den Kooperationen der unterschiedlichen Berufsgruppen im medizinischen Alltag. Konkret bedeutet dies, dass z. B. auch pflegeethische Fragestellungen im Rahmen des Medizinstudiums anzusprechen sind wie umgekehrt medizinethische Fragestellungen auch in der Pflegeausbildung oder im Studium der Pflegewissenschaft zu thematisieren sind. Auch sind Angebote der Aus-, Fort- und Weiterbildung wünschenswert, die sich gleichermaßen an Angehörige aus den verschiedenen Professionen im Gesundheitswesen richten. Konkrete Beispiele sind der Universitätslehrgang „Patientensicherheit und Qualität im Gesundheitswesen“, der Zertifikatskurs „Ethik und Recht in der klinischen Forschung“ sowie eine Ausbildung zur Gesundheitsmediation, die am Institut für Ethik und Recht in der Medizin - IERM, Universität Wien in Kooperation mit der Medizinischen Universität Wien entwickelt und angeboten werden [13, 14].

Orte und Instrumente für eine didaktische Umsetzung/Weiterentwicklung Mögliche Orte und Instrumente für den Ausbau und die Integration ethische Kompetenzen (entlang des vorgestellten Stufenmodells) für eine angemessenen ärztliche Haltung/ethischen Kompetenz: Instrumente der Selbstbeobachtung bzw. Selbstreflexion von Medizinstudierenden. Insbesondere in der 1. Praxisphase im Studium ist es notwendig, dass Studierende verstärkt zu einer Selbstreflexion in Bezug auf das zukünftige ärztliche Handeln angeleitet werden. Aus der ethischen Perspektive ist dabei interessant, eigene Werthaltungen, kommunikative Fähigkeiten und eine gewisse Welt- und Menschensicht als Selbstauskunft zu erfragen. Eine zweite lohnende Aufgabe ist es, diese Selbstauskunft in Beziehung zu setzen: zum Beispiel mit vorhandenen oder beobachteten Positionen anderer Studierenden, Ärzten/Ärztinnen, Lehrenden, Patienten/ Patientinnen etc. In der Begleitung dieser Praxisphase können diese Selbstauskünfte bzw. Selbstrelativierungen sicherlich in Gruppendiskussionen aufgegriffen und kommentiert werden. Uns scheint es wichtiger, dass diese Schritte stattfinden als dass sie auf ein bestimmtes inhaltliches Ergebnis fixiert oder überprüft werden (Elemente einer Prozessethik). Ausbau/interprofessionelle Beteiligung an den vorhandenen Fallkonferenzen (Rounds). Aus der Sicht des IERM legt sich eine Beteiligung an den stattfindenden Fallkonferenzen des 5. und 6. Studienjahres nahe. Die Durchführung dieser Rounds, auch mit einer expliziten ethischen Perspektive, verdeutlicht nochmals, dass die

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ethische Reflexion nicht nur immanenter Teil der ärztlichen Entscheidungsfindung ist, sondern auch in einer eigenen Rolle und Funktion organisieren werden kann. Damit wird schon in der Studienorganisation einer Entwicklung Rechnung getragen, die im gesamten deutschsprachigen Raum zur Etablierung von klinischen Ethik-Komitees und anderen Formen der Ethikberatung geführt hat. Neuerdings gibt es auch die Rolle von Ethikbeauftragten (z. B. im Hessischen Krankenhausgesetz) in Krankenhäusern. Dies zeigt, welchen Stellenwert ethische Themen zukünftig haben; andererseits kommt es zu einer Professionalisierung im Bereich Ethik [15]. Aufbrechen des Frontalunterrichts angesichts großer Studierendenzahlen. Das Medizinstudium ist damit konfrontiert, dass große Studierendenzahlen zu bewältigen sind. Auch wenn hier andere Settings wünschenswert wäre, ist mittelfristig keine Änderung zu erwarten. Deswegen ist darüber nachzudenken, ob die stattfindenden Großgruppensettings im Vorlesungsmodus – zumindest phasenweise – in überschaubarere Trainingsformen aufgebrochen werden können, zum Beispiel durch moderierte Ad-hoc-Kleingruppen. Damit könnte gleichzeitig Initiative und Verantwortung auf Seiten der Studierenden gefördert werden: In Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Ethikberatung am IERM können Studierende in der Moderationsrolle solcher Kleingruppen ausgebildet (fakultativ/studienbegleitend, 16 oder 32 Stunden-Training) und in der Folge in den Großgruppensetting direkt eingesetzt werden. Auch in Verbindung mit den exemplarischen Rounds in einem Board mit interdisziplinären/interprofessionellen ExpertInnen entsteht so ein neues Übungs- und Trainingsfeld. Integration von ethischen Dilemmata in das „ProblemOrientierte Lernen (POL)“ im ersten bis dritten Studiensemester.  Im POL erarbeiten die Studierenden im Kleingruppensetting selbst definierte Lernziele, die sie anhand einer Fall-Vignette diskutieren. Die POL-Gruppe wird von einem Moderator/einer Moderatorin (Lehrende aus unterschiedlichen Fächern bzw. höhersemestrige Studierende) angeleitet. Dieses Format eignet sich besonders gut für die mögliche Einbettung ethischer Themen.

Konkrete Anknüpfungspunkte für Ethik und Ethos im österreichischen Kompetenzlevelkatalog [16] für ärztliche Fähigkeiten Zum Kompetenzlevel Famulaturreife Die Kompetenzen ‚Erkennen und Reagieren auf Zeichen nonverbaler Kommunikation; Identifizieren von Risikoverhalten und gefährlichem Lebensstil; Kommunizieren im multidisziplinären (zu ergänzen: interprofessionellen) Team‘ (F3 bis F5): Diese Kompetenzen stellen nicht nur eine Grundlage für eine fachliche, sondern auch für eine ethische Anamnese dar. Als wichtige Werte für ein ärztliches Ethos kommen dabei ‚Schaffen einer Vertrauensgrund-

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lage, Respekt und Wertschätzung‘ zum Tragen. Auch die Qualität eines ‚authentischen, kongruenten Verhaltens und Handelns‘ ist eine wichtige Grundlage für ethische Reflexion und Auseinandersetzung. Für den Kompetenzlevel Famulaturreife schlagen wir vor, zu den praktischen Fähigkeiten auch noch Skills zu überprüfen, wie ●● eine konstruktive Atmosphäre für ein Gespräch schaffen ●● einen Patienten/Patientin wertschätzend in ein Gespräch bringen und darin halten ●● einen fachlichen Austausch zwischen Pflege, Medizin und psychosozialen Berufen organisieren und moderieren. Zum Kompetenzlevel KPJ-Reife Für die wichtigen Fähigkeiten im Klinisch Praktischen Jahr ist wiederum bei den kommunikativen Kompetenzen und Fähigkeiten anzusetzen: ●● Aus der Perspektive notwendiger Ethikkompetenzen ist entsprechend zu ergänzen: Im Gespräch mit schwerstkranken und sterbenden Patienen/Patientinnen, ebenso wie bei Patienten/Patientinnen mit speziellen Kommunikationsbedürfnissen braucht es hinter den kommunikativen Skills‘ ein Wissen um die ethischen Themen und Herausforderungen: ‚Wahren der Autonomie – insbesondere in Palliativsituationen und im Sterben‘, ‚Gewährleisten sozialer Teilhabe‘, ‚Berücksichtigen und Sichern individuell unterschiedliche Bedürfnisse‘ (K4 bis K6). Gerade in diesen Situationen kommt es immer wieder zu Verletzungen von Patienten- und Menschenrechten. ●● Aus ethischer Perspektive ist zu ergänzen, dass die kollegialen Informationen nicht nur in fachlicher Hinsicht und z.  B. auf spezielle Bedürfnisse am Lebensende hin orientiert sind: hier sind ggf. auch ethisch konflikthafte Themen zu benennen, die fremde und die eigene Position darzustellen und einen Vorschlag für eine angemessene Bearbeitung zu finden (K 12). ●● Es wäre wichtig, dass nicht nur die fachliche Beratung, sondern auch mögliche ethische Implikationen angesprochen werden können. Hier ist auch eine ethische Perspektive wahrzunehmen bzw. eine unbekannte ethische Position zu erfragen. Das kann sowohl z. B. eine Diät wie auch eine Entscheidung zu einer Organtransplantation wesentlich beeinflussen. Die Fähigkeit zur Beratung bei solchen entscheidungsträchtigen Themen beinhaltet auch, dass Positionen eines Patienten/einer Patienten einem Team vermittelt werden können (K 14). ●● Zur Kompetenz, ein geriatrisches Assessment durchzuführen (K 18), ist es hilfreich, unterschiedliche gesellschaftliche Positionen zu Lebensqualität im Alter, Selbstbestimmung, Sterben und Tod zu kennen und entsprechend in einen konstruktiven Dialog mit dem Patienten/Bewohner einzutreten. Diese Assessments finden ja häufig auf dem Hintergrund eines

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mehr oder weniger tragfähigen familialen Netzwerkes statt. Aus unserer Erfahrung wäre hierbei z. B. zu berücksichtigen, wie ein Patient bzw. seine Angehörigen mit einer Diagnose „Alzheimer/Demenz“ umgehen könnten. ●● Für das Arbeiten in einem multidisziplinären Team ist im Bezug zu ethischen Kompetenz wichtig, dass zukünftige Ärzte und Ärztinnen hier reflektieren, welche unterschiedlichen Rollen sie in einem multidisziplinären (oder interprofessionellen) Team wahrnehmen können: Kooperationspartner/in, Teamleiter/in, Moderator/in einer Fallbesprechung oder medizinische/r Beraterin einer Pflegeentscheidung etc. (K 20). Aus der Perspektive des IERM würden wir für den Kompetenzlevel KPJ-Reife empfehlen, dass Kenntnisse über unterschiedliche Modelle klinischer Ethik und Ethikberatung vorhanden sind. Im Klinisch Praktischen Jahr sollte zumindest eine Fallbesprechung erlebt oder durchgeführt werden, die explizit eine ethische Fragestellung bearbeitet. Die basale Fähigkeit ist nicht nur fachliche Themen und Konflikte, sondern auch ethische Themen und Konflikte zu bemerken und anzusprechen. Hier braucht es auch eine wichtige Differenzsetzung zu kommunikativen Problemen und Fragestellungen; in der Praxis hören wir oft: „das ist ja nur eine Frage der Kommunikation“! Für eine angemessene ärztliche Haltung ist es notwendig, zwischen kommunikativen und ethischen Problemen unterscheiden zu können. Nicht gelöste Kommunikationskonflikte verschärfen sich häufig zu einem ethischen Konflikt. Andererseits ist es eine Trivialisierung, ethische Konflikte nur auf kommunikative Fragestellungen zu reduzieren. Zum Kompetenzlevel der Approbationsreife  Die Kompetenzen zur Approbationsreife sollen als 3-geteilte Kompetenzen bzw. Skills ausgestaltet werden: Zu diesen Themen bzw. Gesprächsanlässen empfiehlt es sich, zwischen fachlichen, kommunikativen und ethischen Inhalten zu unterscheiden. Dies gilt jedenfalls für eine angemessene Vermittlung und Trainingssituation (A1 bis A7). ●● Wichtig erscheint uns auch, dass all diese Situationen nicht ausschließlich in der Arzt-Patienten-Beziehung gesehen werden. Gerade aus der ethischen Perspektive ist eine Aufmerksamkeit in Bezug auf Angehörige (vgl. A1), aber auch auf das gesamte Behandlungsteam zu akzentuieren. ●● Es ist uns wichtig, dass alle rechtlichen, ethischen, aber auch religiösen Rahmenbedingungen im Umgang mit dem Toten/dem Körper von einem Arzt/ eine Ärztin gewusst werden (A8). ●● Das Erkennen von ethisch problematische Situationen ist aus unserer Sichtweise ja schon in den vorherigen Kompetenzlevel angesiedelt worden; für die Approbationsreife gehen wir davon aus, dass neben den fachlichen und kommunikativen Skills auch einige Möglichkeiten ethischer Bearbeitung und Lösungsmethoden bekannt und eingeübt sind (A16).

●● Um Themen wie Selbstgefährdung, Alterseinschränkung bis hin zur Schwangerschaftsberatung angemessen bearbeiten zu können, ist aus unserer Perspektive die persönliche Auseinandersetzung mit diesen Themen unerlässlich. Hier wären Räume kollegialer Auseinandersetzung bzw. mit einem Buddy-System für den ethischen Diskurs und die notwendige Selbstreflexion wünschenswert. ●● Aus der Perspektive der Arbeitsfelder des IERM wäre es wünschenswert, wenn neben den ärztlichen Maßnahmen/Interventionen auch die Dimension einer sozial-kommunikativen Intervention nicht nur gekannt, sondern auch geübt wäre. Wir denken hier z. B. auch an ein Wissen und Können im Bereich von Gruppendynamik, das sich auch auf Teamentwicklung auswirkt (A38 bis A40). Nicht unwesentlich sind hier z.  B. Aktivitäten rund um die österreichische Plattform Patientensicherheit [17], die hier insbesondere Arzt und Ärztinnen thematisch, über Erfahrungs- und Übungsmöglichkeiten unterstützen möchte. In diesem Zusammenhang möchten wir auch auf die Frage des präventiven Handelns im Gesundheitssystem bzw. einer Public-Health-Perspektive hinweisen.

Zusammenfassung Medizinethische Kompetenz erschöpft sich nicht in der Anwendung allgemeiner Prinzipien – man denke an das Modell von Beauchamp und Childress mit seinen Prinzipien der Patientenautonomie, der Benefizienz, des Nicht-Schadens und der Gerechtigkeit [18] –, sondern sie besteht in der grundlegenden Fähigkeit, eine konkrete Situation im medizinischen Alltag als Gesamtheit verstehen und beurteilen zu können. Medizinethische Kompetenz schließt darum das Verstehen (hermeneutische Kompetenz), soziale und kommunikative Kompetenz sowie eine entsprechende Haltung („professional attitudes“) ein. In der Sprache der klassischen Ethik umfasst medizinische Ethik nicht nur Aspekte einer Güterlehre und einer Pflichtenlehre, sondern auch einer Tugendlehre. Als Teilbereich einer Ethik des Gesundheitswesens beschränkt sie sich nicht auf das individuelle Ethos von Personen und Berufsangehörigen, sondern bettet die individual- und personalethischen Fragestellungen in eine systemische Betrachtungsweise ein, d.  h. in eine sozial- und organisationsethische Perspektive. Sie bildet den Rahmen für die Vorschläge zur ethischen Ausbildung, die im vorliegenden Beitrag gemacht wurden. Conflict of interest  The authors declare that there is no conflict of interest.

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originalarbeit Literatur   1. Strätling M, Sedmund-Adib B. Ethische Kernkompetenzen in die Medizinzurückholen. Deutsches Ärzteblatt 110;17, 26. April 2013:A825–8 (hier A825).   2. Körtner U. Ethik im Krankenhaus. Diakonie – Seelsorge – Medizin. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht; 2007.   3. Körtner U. Grundkurs Pflegeethik. 2. Aufl. Wien: Facultas; 2012. S. 83–8, 109–12.   4. Wallner J. Ethik im Gesundheitswesen. Eine Einführung. UTB 2612. Wien: Facultas; 2004.   5. Wallner J. Health Care zwischen Ethik und Recht. Wien: Facultas; 2007.   6. Dinges S. Ethik in der Organisation Krankenhaus – Intervention und Innovation. In: Dörries A, Neitzke G, Simon A, Vollmann J, Herausgeber. Klinische Ethikberatung. Ein Praxisbuch. Stuttgart: Kohlhammer; 2008. S. 148–66.  7. Dinges S, Heimerl K, Heller A. OrganisationsEthik in unterschiedlichen Beratungssettings. Forum Supervision 2005;13/26:25–41.  8. Zwierlein E. Begegnung und Verantwortung. Ärztliches Ethos und Medizinische Ethik. Würzburg: Königshausen & Neumann; 2007. S. 36–43.   9. Frewer A, Bruns F, May AT, Herausgeber. Ethikberatung in der Medizin. Berlin: Springer; 2012.

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10. Joerden JC, Hilgendorf E, Thiele F, Herausgeber. Menschenwürde und Medizin. Ein interdisziplinäres Handbuch. Berlin: Duncker & Humblot; 2013. 11. Körtner U. Die Grenzen von Glauben und Vernunft. Wiener Zeitung 2013; 25./26. Mai:33–4. 12. Kaelin L, Kletecka-Pulker M, Körtner U, Herausgeber. Wie viel Deutsch braucht man, um gesund zu sein? Migration, Übersetzung und Gesundheit. Schriftenreihe Ethik und Recht in der Medizin 10. Wien: Verlag Österreich; 2013. 13. Institut für Ethik und Recht in der Medizin. http://ierm. univie.ac.at. Zugegriffen: 18. Nov. 2013. 14. Patientensicherheit und Qualität im Gesundheitssystem. http://www.postgraduatecenter.at/patientensicherheit. Zugegriffen: 18. Nov. 2013. 15. §  6 (6) Hessisches Krankenhausgesetz. Hessischen Ärzteblatt 2012;2:125–6. 16. Österreichischer Kompetenzlevelkatalog für Ärztliche Fertigkeiten. http://www.meduniwien.ac.at/bemaw/mue/ downloads/oekaef.pdf. Zugegriffen: 18. Nov. 2013. 17. Plattform Patientensicherheit. http://www.plattformpatientensicherheit.at. Zugegriffen: 18. Nov. 2013. 18. Beauchamp TL, Childress JF. Principles of Biomedical Ethics. 6. Aufl. Oxford: Oxford University Press; 2008.

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[Medical ethics in the undergraduate medical curriculum and in the health care system].

In German speaking areas, in the scientific establishment which is occupied with medical ethics in the narrower and wider senses, a vehement discussio...
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