Z. Evid. Fortbild. Qual. Gesundh. wesen (ZEFQ) (2015) 109, 56—58

Online verfügbar unter www.sciencedirect.com

ScienceDirect journal homepage: http://www.elsevier.com/locate/zefq

DAVID-SACKETT-PREISE 2014

Unvollständige Kariesentfernung: Eine systematische Übersicht und Meta-Analyse夽 Falk Schwendicke ∗ Abteilung für Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin, Centrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Berlin, Deutschland

Hintergrund Zur Behandlung kavitierter kariöser Läsionen ist in den meisten Fällen eine restaurative Therapie angezeigt. Das Ziel einer solchen Behandlung ist die Entfernung der kariösen Anteile der Zahnhartsubstanz und deren Ersatz durch Restaurationen (Füllungen, Kronen). Klassischerweise wird dabei die vollständige Entfernung der kariös veränderten Zahnhartsubstanz angestrebt. Gerade bei der Behandlung tiefer Karies kommt es dabei oftmals zu einer Schädigung und/oder einer Exposition der Pulpa. Solche pulpalen Komplikationen führen langfristig oft zu der Notwendigkeit einer Wurzelkanalbehandlung, welche letztlich unangenehm und





Die beiden folgenden Originalarbeiten waren die Grundlage für die Verleihung des David-Sackett-Preises 2014: (a) Schwendicke F, Stolpe M, Meyer-Lückel H, Paris S, Dörfer C. Cost-effectiveness of one- and two-step incomplete and complete excavation. Journal of Dental Research 2013;92: 880—87. (b) Schwendicke F, Dörfer CE, Paris S. Incomplete caries removal: A systematic review and meta-analysis. Journal of Dental Research 2013;92: 306—14. Korrespondenzadresse: Dr. Falk Schwendicke, Abteilung für Zahnerhaltung und Präventivzahnmedizin, Centrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Charité - Universitätsmedizin Berlin, Aßmannshauser Str. 4-6, 14197 Berlin, Deutschland. Tel.: +49 (0)30 450 662 556; Fax: +49 (0)30 450 7562 556. E-Mail: [email protected]

http://dx.doi.org/10.1016/j.zefq.2015.01.009 1865-9217/

kostenintensiv ist, und die Überlebenswahrscheinlichkeit des Zahnes signifikant reduziert [1]. Ausgehend von einem veränderten Verständnis der Ätiopathogenese von Karies wird zunehmend an diesem klassischen Behandlungskonzept gezweifelt [2]. Das Belassen kariöser Zahnhartsubstanz wird nicht mehr als problematisch angesehen, da belassene, unter einer adhäsiven Restauration versiegelte Mikroorganismen inaktiviert werden [3] und kariöses Dentin remineralisiert [4]. Um die beschriebenen Risiken für die Pulpa bei der Therapie tiefer Karies zu reduzieren, könnte ein solches Belassen kariösen Dentins in Pulpanähe helfen, eine Exposition und Schädigung des Endodonts zu vermeiden. Eine solche ,unvollständige Kariesentfernung‘ kann schrittweise durchgeführt werden (,zweizeitig-unvollständig‘), wobei kariöses Dentin in Pulpanähe im ersten Exkavationsschritt belassen und die Kavität zunächst provisorisch versorgt wird. Erst im zweiten Schritt wird dann wie bisher üblich exkaviert, bis nur hartes, trockenes, also klinisch ,kariesfreies‘ Dentin zurückbleibt; anschließend wird der Zahn definitiv restauriert. Alternativ dazu kann kariöses Dentin belassen und sofort eine definitive Restauration platziert werden (,einzeitigunvollständige‘ oder ,selektive‘ Kariesentfernung). Beide Verfahren sind bisher nicht weit verbreitet, wobei vor allem das definitive Belassen kariösen Dentins von Zahnärzten wenig akzeptiert wird [5]. Ausgehend von den beschriebenen Risiken bei einer klassisch-vollständigen Exkavation könnten beide unvollständigen Exkavationsverfahren aber

Unvollständige Kariesentfernung: Eine systematische Übersicht und Meta-Analyse geeignet sein, Zähne länger zu erhalten. Die durchgeführte Studie analysierte systematisch die vorhandene klinische Evidenz für die verschiedenen Exkavationsstrategien.

Methoden Wir führten eine systematische Literatursuche in elektronischen Datenbanken unter Nutzung von definierten Suchprotokollen durch. Dabei wurden Studien eingeschlossen, die vollständige und unvollständige Exkavation von Primärkaries in Milch- oder bleibenden Zähnen mit anschließender Restauration in einem klinisch-kontrollierten Ansatz mit randomisierten Zuordnung der Therapien untersucht hatten. Zur Meta-Analyse wurden drei Zielparameter evaluiert (Risiko der Pulpaexposition; Risiko post-operativer Pulpenkomplikationen wie Schmerzen, Vitalitätsverlust, Abszedierung; Risiko jeglicher Komplikationen), wobei letztere Parameter nur für Zähne untersucht wurden, bei denen zuvor keine Pulpaexposion aufgetreten war. Als statistische Einheit wurden einzelne Zähne analysiert. Für die MetaAnalyse wurden ein Random-Effects-Modell genutzt. Die Qualität der eingeschlossenen Studien wurde mittels des Risk-of-Bias-Tools der Cochrane Collaboration kategorisiert [6]. Die Evidenzstärke der gefundenen Ergebnisse wurde unter Nutzung des GRADE-Systems bewertet [7].

Ergebnisse Von 364 Artikeln wurden 10 Studien mit insgesamt 1257 behandelten Patienten eingeschlossen. Die Mehrzahl der Studien wies eine kurze Nachbeobachtungsdauer auf (0-10 Jahre, Median 12 Monate). Die Qualität eingeschlossener, vor allem älterer Studien wurde überwiegend als gering bewertet. Die Wahrscheinlichkeit einer Pulpaexposition war signifikant reduziert, wenn unvollständig statt vollständig exkaviert wurde (Odds Ratio [OR] und 95% Konfidenzintervall [KI]) 0,31 [0,19-0,49]). Das Risiko der Pulpaexposition war nochmals reduziert, wenn einzeitig-unvollständig (selektiv) statt vollständig exkaviert wurde (OR 0,20 [0,06-0,61]). Auch das Risiko post-operativer pulpaler Komplikationen war geringer, wenn unvollständig statt vollständig exkaviert wurde (OR 0,53 [0,34-0,83]). Das Risiko jeglicher Komplikationen für die Zähne, bei denen bei der Exkavation die Pulpa nicht exponiert worden war, war nicht signifikant verschieden nach unvollständiger und vollständiger Exkavation (OR 1,03 [0,68-1,55]). Die Evidenzstärke der Ergebnisse zu Pulpaexposition, Pulpakomplikation und jeglichen Komplikationen wurden als jeweils moderat, gering und sehr gering eingestuft.

Kommentar Karies bleibt weltweit die Erkrankung mit der höchsten Prävalenz [8] und betrifft zunehmend vor allem sozioökonomisch und —demografisch benachteiligte Gruppen [9]. Einer evidenzbasierten Behandlung der Erkrankung kommt demnach auch soziale und volkswirtschaftliche Bedeutung zu. Basierend auf den Ergebnissen dieser Studie

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gibt es eine zunehmend belastbare Datenbasis, die eine unvollständige statt einer vollständigen Exkavation tiefer Karies unterstützt. Die vorliegende Arbeit belegt, dass ein selektives/unvollständiges Vorgehen das Risiko einer Pulpaexposition signifikant senkt, wobei die diesem Ergebnis zugrundeliegende Evidenz als moderat belastbar eingestuft wurde. Für Zähne ohne vorherige Pulpaexposition waren die Ergebnisse weniger eindeutig, wobei bisherige Studien keinen nachteiligen Effekt einer unvollständigen im Vergleich zu einer vollständigen Exkavation auf das Komplikationsrisiko der so behandelten Zähne zeigen. In der durchgeführten Studie wurden mehrere Schwachpunkte der Analyse bzw. der analysierten Daten aufgegriffen: Die zugrundeliegenden Studien waren nach heutigem Standard größtenteils von niedriger Qualität; zudem war der Nachverfolgungszeitraum mitunter kurz. Da gerade Restaurationskomplikationen oft erst nach längerer Liegedauer einer Restauration auftreten [10], können gerade solche kurzen Studienzeiträume nur begrenzt valide Daten zum Langzeiterfolg verschiedener Therapien liefern [11]. Demnach sollten gerade die Ergebnisse zum Gesamtversagen mit Vorsicht interpretiert werden. Von Interesse wäre, wie erfolgreich pulpal exponierte Zähne behandelt wurden. Nur so ließe sich ein Gesamtvergleich beim eigentlich relevanten Zielparameter — dem Überleben einzelner Zähne — herstellen. Die Autoren haben einen solchen Vergleich unter Nutzung der präsentierten Studiendaten mittels eines Simulationsmodells unternommen und kamen zu dem Schluss, dass durch die reduzierte Chance einer Pulpaexposition nach einzeitigunvollständigem im Vergleich mit einem vollständigen Vorgehen Zähne signifikant länger erhalten werden könnten [1]. Dafür sind wahrscheinlich die oftmals nur begrenzt erfolgreichen Therapien nach Pulpaexposition verantwortlich [12]. Eine Schwäche dieser Studie ist ein Mangel an Subgruppen- und Sensitivitätsanalysen. So wäre beispielsweise eine separate Analyse von Zähnen der ersten und zweiten Dentition (Milch- und bleibende Zähne) aufschlussreich, da sowohl die pulpale Reaktionslage als auch die notwendigen Überlebenszeiten verschieden zwischen den Dentitionen sind. Weiterhin wäre von Interesse, ob es einen Zusammenhang zwischen der Menge belassenen kariösen Dentins und den Zielparametern gibt. Hier hätte sich beispielsweise eine Meta-Regression angeboten. Schlussendlich kann die gemeinsame Analyse von einzeitig- und zweizeitig-unvollständig exkavierten Zähnen kritisch gesehen werden, da bei einem zweizeitigen Vorgehen nach dem zweiten Schritt ja keine Unvollständigkeit mehr vorliegt (zweizeitig-vollständige Exkavation) [13]. Zusammenfassend konnte diese Studie die Vorteile eines weniger invasiven Vorgehens bei der Exkavation tiefer kariöser Läsionen belegen. An der bisher üblichen Praxis der vollständigen Kariesexkavation auch bei pulpanaher Karies sind daher Zweifel angebracht, insbesondere weil bisher keine einzige Studie die Vorteile eines solches vollständigen Vorgehens belegen konnte. Um definitive Empfehlungen oder klinische Richtlinien aufstellen zu können, sind jedoch weitere, ausreichend lange und qualitativ hochwertige klinische Studien notwendig.

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Jens C. Türp

Literatur [1] Schwendicke F, Stolpe M, Meyer-Lueckel H, Paris S, Dörfer CE. Cost-effectiveness of One- and Two-step Incomplete and Complete Excavations. Journal of Dental Research 2013;90(10): 880—7. [2] Kidd EA. How ‘clean’ must a cavity be before restoration? Caries Res 2004;38(3):305—13. [3] Oong EM, Griffin SO, Kohn WG, Gooch BF, Caufield PW. The Effect of Dental Sealants on Bacteria Levels in Caries Lesions. The Journal of the American Dental Association 2008;139(3):271—8. [4] Bjørndal L, Larsen T, Thylstrup A. A clinical and microbiological study of deep carious lesions during stepwise excavation using long treatment intervals. Caries Research 1997;31(6): 411—7. [5] Schwendicke F, Meyer-Lueckel H, Dörfer CE, Paris S. Attitudes and Behaviour regarding Deep Dentin Caries Removal — a Survey among German dentists. Caries Research 2013;47: 566—73. [6] Higgins JPT, Green S, editors. Cochrane Handbook for Systematic Reviews of Interventions. Version 5. 10 (updated March 2011). The Cochrane Collaboration; 2011.

[7] Atkins D, Best D, Briss PA, Eccles M, Falck-Ytter Y, Flottorp S, et al. Grading quality of evidence and strength of recommendations. BMJ 2004:328. [8] Marcenes W, Kassebaum NJ, Bernabé E, Flaxman A, Naghavi M, Lopez A, et al. Global Burden of Oral Conditions in 1990-2010: A Systematic Analysis. Journal of Dental Research 2013;92(7):592—7. [9] Schwendicke F, Dörfer C, Schlattmann P, Foster Page L, Thomson M, Paris S. Socioeconomic inequality and caries: A systematic review and meta-analysis. J Dent Res 2015;94(1): 10—8. [10] Brunthaler A, Konig F, Lucas T, Sperr W, Schedle A. Longevity of direct resin composite restorations in posterior teeth. Clin Oral Investig 2003;7(2):63—70. [11] Schwendicke F, Meyer-Lückel H, Dorfer C, Paris S. Failure of incompletely excavated teeth - a systematic review. Journal of Dentistry 2013;41(7):569—80. [12] Aguilar P, Linsuwanont P. Vital Pulp Therapy in Vital Permanent Teeth with Cariously Exposed Pulp: A Systematic Review. J Endod 2011;37(5):581—7. [13] Maltz M, Alves LS. Incomplete caries removal significantly reduces the risk of pulp exposure and post-operative pulpal symptoms. J Evid Based Dent Pract 2013;13(3):120—2.

DAVID-SACKETT-PREISE 2014

Kommentar zur Praxisrelevanz der mit dem David-Sackett-Preis 2014 ausgezeichneten Arbeit ,,Unvollständige Kariesentfernung: Eine systematische Übersicht und Meta-Analyse‘‘ von Falk Schwendicke Jens C. Türp ∗ Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin und Myoarthropathien, Universitätskliniken für Zahnmedizin, Basel, Schweiz

Bis vor kurzem galt für die Therapie der Zahnkaries die sakrosankte Richtschnur, dass kariöses Dentin vollständig zu entfernen ist. Vor einigen Jahren wurden jedoch erstmals Stimmen laut, im Zweifelsfall pulpanahes kariöses ∗

Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. dent. Jens C. Türp, MSc, Klinik für Rekonstruktive Zahnmedizin und Myoarthropathien, Universitätskliniken für Zahnmedizin, Hebelstrasse 3, CH-4056 Basel, Schweiz. Tel.: +41 (0)61 267 2632; Fax: +41 (0)61 267 2660. E-Mail: [email protected]

(Rest-)Dentin zu belassen, um eine bei kompletter Kariesentfernung oft unvermeidliche Eröffnung der Zahnpulpa zu verhindern, was eine Wurzelkanalbehandlung erfordern und damit das Risiko eines vorzeitigen Zahnverlustes erhöhen würde. Die Folgerung aus SCHWENDICKES Analyse, dass die einzeitig-partielle Kariesentfernung sowohl die effektivste als auch die kostengünstigste Behandlungsstrategie zu sein scheint, ist geradezu revolutionär. Diese Erkenntnis hat das Potential, innerhalb der Kariologie im Speziellen und der klinischen Zahnmedizin im Allgemeinen zu einem echten Paradigmawechsel zu führen.

[Incomplete dental caries restoration: a systematic review and meta-analysis].

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