Leserbriefe Anaesthesist 2013 · 62:926–930 DOI 10.1007/s00101-013-2261-z Online publiziert: 14. November 2013 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2013

Zum Beitrag Rehm M (2013) Anwendungsbeschränkung für Hydroxyäthylstärke – Hintergründe und alternative Konzepte. Anaesthesist 62:644–655

Leserbrief H.A. Adams1, D. Fries2 1Stabsstelle für Interdisziplinäre Notfall- und

Katastrophenmedizin, Medizinische Hochschule Hannover 2Abteilung Allgemeine und Chirurgische Intensivmedizin, Medizinische Klinik Innsbruck

Den Blick nicht verengen – HES ist nicht das einzige künstliche Kolloid Der Beitrag von Rehm „Anwendungsbeschränkung für Hydroxyäthylstärke – Hintergründe und alternative Konzepte“ [1] stellt nicht nur eine sehr begrüßenswerte Zusammenfassung und Klarstellung in einer Phase deutlicher Verunsicherung dar, sondern gibt darüber hinaus auch praktische Hinweise zum weiteren – ggf. alternativen – Vorgehen. Die Autoren möchten die von Rehm skizzierten klinischen Rahmenbedingungen zum Volumenersatz nochmals unterstreichen und auch ergänzen: F Der Volumeneffekt isoonkotischer Hydroxyäthylstärke(HES)-Lösungen ist mehrfach höher als der isotoner Kristalloide – vorausgesetzt, es handelt sich um den Ersatz akuter Blutverluste bei Patienten mit intakter Gefäßbarriere. Rehm hat zu dieser Problematik selbst wesentliche Beiträge geliefert [2, 3, 4]. F Die Empfehlung, HES nicht mehr in der Intensivmedizin und bei kritisch Kranken einzusetzen, ist keineswegs neu und wurde mit Blick auf die Nierenfunktion – wie auch von zahlrei-

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Hydroxyäthylstärke

chen anderen Autoren – schon vor Jahren erhoben [5]. F Die wiederholte Zufuhr einer HESLösung beim oft „septischen“ Intensivpatienten darf nicht mit dem Einsatz im akuten hämorrhagischen oder traumatisch-hämorrhagischen Schock und damit der intensivmedizinische Einsatz mit dem präklinischen oder perioperativen Einsatz gleichgesetzt werden. Die Wirksamkeit künstlicher Kolloide im akuten Volumenmangel – mit Ausnahme der nichtstillbaren Blutung und dann indizierten permissiven Hypotension – ist pathophysiologisch evident im Sinne von offensichtlich und bedarf, wie manche andere Maßnahmen bei bedrohter Vitalfunktion, nicht zwingend einer statistischen Untermauerung. Die Autoren sind aber der Auffassung, dass die von Rehm gestellte Frage nach einem „revival“ für Gelatine, Dextran oder Albumin auch anders beantwortet werden kann: F Dextran ist wegen der renalen Effekte, der starken gerinnungshemmenden Wirkung und der erforderlichen Haptenprophylaxe klinisch obsolet. F Albumin hat in groß angelegten Studien keinen Vorteil im Vergleich zu 0,9%iger NaCl-Lösung zeigen können [6]. Weiter ist zu beachten, dass sich bereits physiologisch über 60% des Körperbestands an Albumin im Interstitium befinden, dieser Anteil bei einem Kapillarleck vermutlich steigt, dann nur schwer eliminiert werden kann (Halbwertszeit 19 Tage) und mit der Gefahr einer Flüssigkeitsüberladung einhergeht. Eine Flüssigkeits­überladung kann die Prognose kritisch kranker Patienten jedoch deutlich verschlechtern [7]. Gelatine hat dagegen eine vergleichswei-

se kurze Halbwertszeit von wenigen Stunden und kann schneller mobilisiert sowie eliminiert werden. Zu den Aussagen, „Gelatine hat ein beachtliches Risiko für anaphylaktische Reaktionen, einen im Vergleich zu HES eher geringen Volumeneffekt, die Übertragung der neuen Variante der Creutzfeldt-JakobErkrankung (BSE) ist hier nicht vollständig ausgeschlossen, es fanden sich Hinweise, dass – neben HES – auch Gelatine die Nieren schädigen kann“, erscheinen den Autoren folgende Anmerkungen angebracht: F Zu den Unverträglichkeitsreaktionen (UVR) auf kolloidale Volumenersatzmittel aller Art liegen 2 große Untersuchungen aus den Jahren 1977 [8] und 1994 [9] vor, deren Aussagekraft v. a. durch die unterschiedlichen Gruppengrößen, die sich teilweise um mehr als den Faktor 20 unterscheiden, stark eingeschränkt ist – in beiden Studien konnte kein signifikanter Nachteil für die damals verwendeten Gelatinepräparate gezeigt werden. F Die „gefühlt höhere“ Inzidenz an UVR beim Einsatz von Gelatine kann durchaus auch auf einem nicht hinreichend indizierten Einsatz – etwa im Rahmen eines „Volumenvorlaufs“ bei Spinalanästhesie usw. – beruhen. Diese Situation muss jedoch vom Einsatz in einer einschlägigen Schocksituation unterschieden werden. So wurden 2010 auf der Intensivstation für Schwerbrandverletzte der Medizinischen Hochschule Hannover bei Patienten im protrahierten traumatisch-hypovolämischen Schock insgesamt 367 Einheiten zu 500 ml Gelatine [4% GEL 27, eine 4%ige Lösung mit einem mittleren Molekulargewicht (MG) von 27.000] eingesetzt, ohne dass eine UVR beobachtet wurde – dies jedoch bei Patienten,

deren Immun- und Mediatorensituation nicht mit der bei Elektiveingriffen verglichen werden kann. Ähnliche Erfahrungen wurden auch in der Abteilung für Allgemeine und Chirurgische Intensivmedizin der Medizinischen Universität Innsbruck gemacht. F Für die Aussage, dass Gelatine im Vergleich zu HES einen eher geringen Volumeneffekt hat, finden sich in der Literatur durchaus Belege, aber auch das Gegenteil ist zu belegen. In einem septischen Schockmodell wiesen Marx et al. [10] eine vergleichbare Volumenwirkung von Gelatine mit HES nach. Auch unter perioperativen Bedingungen war die Volumenwirkung beider Substanzen vergleichbar [11]. In einer neueren „Cross-over“Studie an Probanden fanden Lobo et al. [12] vergleichbare Volumeneffekte von 4% GEL 30 und 6% HES 130/0,4; hierbei war der Volumeneffekt beider künstlicher Kolloide dem von 0,9%iger NaCl-Lösung deutlich überlegen. Darüber hinaus ist es für die derzeitige Diskussion weitgehend unerheblich, ob sich die Volumeneffekte von HES und Gelatine mehr oder weniger dezent unterscheiden – der einem Kristalloid überlegene Volumeneffekt von Gelatine ist unter den bereits erwähnten Voraussetzungen (akuter Volumenverlust, intakte Gefäßbarriere) hinreichend belegt. F Die Aussage, dass die Übertragung der neuen Variante der CreutzfeldtJakob-Erkrankung (bovine spongiforme Enzephalopathie, BSE) durch Gelatine nicht vollständig ausgeschlossen werden kann, erscheint insgesamt doch recht einseitig. Die World Health Organization (WHO) hält eine Übertragung der BSE durch Gelatine insbesondere wegen des Ausgangsmaterials (Knochen und Sehnen) sowie des sehr eingreifenden Abbau- und Syntheseprozesses für praktisch ausgeschlossen [13]; das theoretische Risiko einer Übertragung wird im Bereich der natürlichen Inzidenz der Creutzfeldt-Jakob-Erkrankung gesehen [14]. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass auch Albumin nicht völlig frei von Infektionsrisiken ist. So bestand 1994 laut Bun-

desgesundheitsamt für das aus humanen Plazenten gewonnene Rhodalbumin 20% der Verdacht, dass eine Infektion der Spenderin mit der Creutzfeld-Jakob-Erkrankung auf den Empfänger übertragen werden kann [15] – dies vor dem Hintergrund, dass zur Induktion des Eisprungs verwendetes somatotropes Hormon (STH) aus Leichenhypophysen gewonnen wurde und das für die Creutzfeld-JakobErkrankung verantwortlich gemachte Prion durch den Herstellungsprozess von Albumin (Pasteurisierung über mindestens 10 h bei 60°C) oder auch Solvent-Detergent-Inaktivierung nicht sicher inaktiviert wird. F Die Hinweise, dass (neben HES) auch Gelatine die Nieren schädigen kann, sind insgesamt wenig überzeugend und nicht durch vergleichende Studien belegt – in diese Studien wäre dann aber auch Albumin einzubeziehen, um einen evtl. Klasseneffekt der Kolloide – ob natürlich oder künstlich – zu untersuchen. In einer Metaanalyse wurde für Gelatine eine – im Vergleich mit HES – verminderte Inzidenz von Nierenversagen mit Nierenersatztherapie gefunden [16]. Zusammenfassend ist v. a. – dies in Übereinstimmung mit Rehm – festzuhalten, dass der intensivmedizinische Einsatz von HES nicht mit der präklinischen und perioperativen Verwendung bei akutem Volumenverlust gleichgesetzt werden darf; ein Gedanke, der in der Stellungnahme der Präsidenten der Deutschen Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin e. V. (DGAI), des Berufsverbands Deutscher Anästhesisten e. V. (BDA) und der Präsidentin der Deutschen Akademie für Anästhesiologische Fortbildung e. V. (DAAF; [17]) nur indirekt zu finden ist. Es ist aber nicht zielführend, als vorrangige Alternative das Albumin zu propagieren. Neben der Frage, ob diese Substanz überhaupt in ausreichender Menge verfügbar sein wird, muss auch die Frage nach den Kosten gestellt werden. Mit Gelatine ist hier eine weitere und kostengünstige Alternative zu HES verfügbar, die in anderen Ländern schon traditionell breit eingesetzt wird – und wo zu Recht nach vergleichenden Unter-

suchungen von Kristalloiden und Gelatine gefragt wird [18].

Korrespondenzadresse Prof. Dr. H.A. Adams Leiter der Stabsstelle für Interdisziplinäre Notfall- und Katastrophenmedizin Medizinische Hochschule Hannover Carl-Neuberg-Str. 1 30625 Hannover [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt. H.A. Adams erhielt im Jahr 2012 Vortragshonorare und Reisekosten der Firma B. Braun. D. Fries: Astra Zeneca, AOP Orphan, Baxter, Braun, Biotest, CSL Behring, Delta Select, Dade Behring, Deutsche Bundeswehr, Fresenius, Glaxo, Haemoscope, Hemogem, Lilly, LFB, Mitsubishi Pharma, NovoNordisk, Octapharm, Österreichische Nationalbank, Pentapharm, US Army, US Department of Defense.

Literatur   1. Rehm M (2013) Anwendungsbeschränkung für Hydroxyäthylstärke – Hintergründe und alternative Konzepte. Anaesthesist 62:644–655   2. Jacob M, Chappell D, Hofmann-Kiefer K et al (2012) The intravascular volume effect of Ringer’s lactate is below 20%: a prospective study in humans. Crit Care 16:R86   3. Bundgaard-Nielsen M, Secher NH, Kehlet H (2009) „Liberal“ vs. „restrictive“ perioperative fluid therapy – a critical assessment of the evidence. Acta Anaesthesiol Scand 53:843–851   4. Chappell D, Jacob M, Hofmann-Kiefer K et al (2008) A rational approach to perioperative fluid management. Anesthesiology 109:723–740   5. Adams HA, Piepenbrock S, Hempelmann G (1998) Volumenersatzmittel – Pharmakologie und klinischer Einsatz. Anasthesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 33:2–17   6. Finfer S, Bellomo R, Boyce N et al (2004) SAFE Study Investigators: a comparison of albumin and saline for fluid resuscitation in the intensive care unit. N Engl J Med 350:2247–2256   7. Payen D, Pont AC de, Sakr Y et al; for the Sepsis Occurrence in Acutely Ill Patients (SOAP) Investigators (2008) A positive fluid balance is associated with a worse outcome in patients with acute renal failure. Critical Care 12:R74. DOI 10.1186/cc6916   8. Ring J, Meßmer K (1977) Incidence and severity of anaphylactoid reactions to colloid volume substitutes. Lancet 466–469   9. Laxenaire MC, Charpentier C, Feldman L (1994) Réactions anaphylactoïdes aux substituts colloïdaux du plasma: incidence, facteurs de risque, mécanismes. Enquête prospective multicentrique française. Ann Fr Anesth Réanim 13:301–310 10. Marx G, Cobas Meyer M, Schuerholz T et al (2002) Hydroxyethyl starch and modified fluid gelatin maintain plasma volume in a porcine model of septic shock with capillary leakage. Intensive Care Med 28:629–635

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Leserbriefe 11. Beyer R, Harmening U, Rittmeyer O et al (1997) Use of modified fluid gelatin and hydroxyethyl starch for colloidal volume replacement in major orthopaedic surgery. Br J Anaesth 78:44–50 12. Lobo DN, Stanga Z, Aloysius MM et al (2010) Effect of volume loading with 1 l intravenous infusions of 0.9% saline, 4% succinylated gelatine (Gelofusine) and 6% hydroxylethyl starch (Voluven) on blood volume and endocrine responses: a randomized, three-way crossover study in healthy volunteers. Crit Care Med 38:464–470 13. o A (1992) Public health issues related to animal and human spongiform encephalopathies: memorandum from a WHO meeting. Bull World Health Organ 70:183–190 14. Laubenthal H (1997) BSE und Heparin- bzw. Gelatinepräparate. Anaesthesist 46:253–254 15.  Arzneimittelkommission der deutschen Ärtzeschaft (1994) Rhodalbumin 20 %. Dtsch Arztebl 91:A213 16. Zarychanski R, Turgeon AF, Fergusson DA et al (2009) Renal outcomes and mortality following hydroxyethyl starch resuscitation of critically ill patients: systematic review and meta-analysis of randomized trials. Open Med 3:e196–e209 17. o A (2013) Hydroxyethylstärke. Stellungnahme der Präsidenten der DGAI und des BDA sowie der Präsidentin der DAAF. Anaesth Intensivmed 54:332– 333 18. Nolan P, Mythen MG (2013) Hydroxyethyl starch: here today, gone tomorrow. Br J Anaesth 111:321– 324

Erwiderung M. Rehm Klinik für Anaesthesiologie, Klinikum der Universität München (LMU), München

Den Autoren wird für das große Interesse an dem Beitrag und den Leserbrief, der die Diskussion sehr bereichert, herzlich gedankt. In der Tat können Fragen, die sich mit einem Wegfall von HES stellen würden, unterschiedlich beantwortet werden. Wichtig erscheint mir zunächst zu betonen, dass in dem Beitrag Albumin gerade nicht in 1. Linie als HES-Ersatz dargestellt wurde. Vielmehr wurde eine initiale, basale Kristalloidtherapie empfohlen und bereits auf die limitierte Verfügbarkeit sowie die entsprechenden Kosten von Albumin dezidiert hingewiesen [14]. Bei größeren Blutverlusten kommt man jedoch meiner Erfahrung nach nicht umhin, ein Kolloid anzuwenden, wenn man nicht frühzeitiger als bisher Frischplasma („fresh frozen plasma“, FFP) oder gar Erythrozytenkonzentrate (EK) geben möchte. Albumin erscheint für den Einsatz in 2. Linie aber keineswegs ungeeignet. Immerhin sind die Volumeneffekte von Albumin bei akuten Blutverlusten deutlich höher als die von Kristal-

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loiden (5%iges Albumin: rund 4-mal höher, 20%iges Albumin: rund 10-mal höher), was man als Vorteil gegenüber den Kristalloiden werten kann. Die vorhandene Studienlage zur Sicherheit bzw. der möglichen Vor- und Nachteile von Albumin wurde in dem Beitrag bereits ausführlich dargestellt [14]. Auch haben Vincent et al. [19] in einer Untersuchung zur Sicherheit von Albumin gezeigt, dass von 1990–2000 weltweit ca. 112×106 Einheiten Albumin appliziert wurden – von 1998– 2000 ca. 16,2×106 Einheiten von jeweils 40 g Albumin. Die unmittelbar albuminassozierten Nebenwirkungen während dieses Beobachtungszeitraums waren äußerst gering [19]. Die Übertragung der BSE durch Albumin über den von Adams u. Fries dargestellten Herstellungsprozess ist laut Herstellerangaben ausgeschlossen. Demnach wird Albumin seit rund 15 Jahren nicht mehr aus Plazenten hergestellt. Dies liegt daran, dass nicht immer von allen Plazentaspenderinnen eine Blutprobe zur vorgeschriebenen Testung auf virale Marker zur Verfügung stand und dieses Verfahren somit ineffizient war. Bezüglich der möglichen Übertragungen von Krankheiten durch Albumin steht in einer beispielhaften Produktinformation (Human-Albumin 20%): Virussicherheit: Standardmethoden zur Vermeidung von Infektionskrankheiten, die im Rahmen der Anwendung von aus menschlichem Blut oder Plasma hergestellten Arzneimitteln auftreten können, umfassen die Auswahl der Spender, die Prüfung jeder einzelnen Spende und jedes Plasmapools auf spezifische Marker für Infektionen sowie die Einbeziehung effektiver Herstellungsschritte zur Inaktivierung/Eliminierung von Viren. Trotz dieser Maßnahmen kann die Möglichkeit der Übertragung von Erregern bei der Anwendung von aus menschlichem Blut oder Plasma hergestellten Arzneimitteln nicht vollständig ausgeschlossen werden. Dies gilt auch für bisher unbekannte Viren und andere Pathogene. Es liegen keine Berichte zu Virusübertragungen mit Albuminen vor, die entsprechend den Spezifikationen der Europäischen Pharmacopoe [Anm. d. Autors: europäisches Arzneibuch, auch Pharmacopoea Europaea genannt; eine Sammlung anerkannter pharmazeutischer Regeln

über die Qualität, Prüfung, Lagerung und Bezeichnung von Arzneimitteln und die bei ihrer Herstellung und Prüfung verwendeten Stoffe, Materialien und Methoden] nach festgelegten Abläufen hergestellt wurden. Es wird auf die Dokumentationspflicht gemäß Transfusionsgesetz hingewiesen. Zumindest bis zum Jahr 2010 gab es keinen berichteten Fall einer BSE-Übertragung durch eine Albuminlösung [2]. Es wurden 3 Fälle einer wahrscheinlichen BSE-Übertragung auf den Menschen durch die Transfusion von Blut sowie ein mutmaßlicher Fall durch die Gabe eines Faktor-VIII-Konzentrats berichtet. Diese äußerst geringe Übertragungsrate bei Blutprodukten ist sicherlich auch der Tatsache zu verdanken, dass die variante Creutzfeldt-Jakob-Krankheit (vCJK) beim Menschen – und damit bei den Spendern von Blut oder Blutprodukten – nur sehr selten vorkommt. Bei der nichtbekannten mittleren Inkubationszeit (bis zu 40 Jahre) kann man aber die Menschen, die möglicherweise mit BSE infiziert sind und demnach eine Infektionsquelle darstellen könnten, nicht sicher quantifizieren (Screeningmethoden wie Bluttests sind in der Entwicklung, aber noch nicht allgemein verfügbar). Sicherlich aber sind im Verhältnis deutlich weniger Menschen als Rinder infiziert; dies lässt sich anhand der stark unterschiedlichen Erkrankungszahlen vermuten. So ergaben Schätzungen, ausgehend von 11.109 Appendixproben, gesammelt in den Jahren 1995–2000, dass im Vereinigten Königreich (UK) die Prävalenz für vCJK bei 237 Infektionen/1 Mio. Einwohner läge [2]. In Deutschland werden Personen, die sich im Zeitraum zwischen 1980 und 1996 insgesamt länger als 6 Monate im UK aufgehalten haben, von einer Blutspende (auch zur Herstellung von Blutprodukten) ausgeschlossen. Insgesamt sind beim Menschen weltweit bis 2010 lediglich 219 Erkrankungsfälle von vCJK aus 7 europäischen Ländern gemeldet worden, davon 172 im UK und 25 aus Frankreich [2, 5]. Dies obwohl nach Abschätzungen allein im UK, das mit über 180.000 klinisch erkrankten und rund 900.000 infizierten Rindern von der Epidemie am schlimmsten betroffen war, mehr als 700.000 infizierte Rinder in die mensch-

liche Nahrungskette gelangten (geschätzt weltweit sogar 1–3 Mio. Tiere). Glücklicherweise ist die orale Übertragung von BSE also eine ineffiziente Infektionsroute. Dies mag hingegen bei der i.v.-Applikation anders sein, zumal bei Gelatine die „Rohstoffquelle“ nicht wie beim Albumin der Mensch, sondern das Rind selbst darstellt. In den letzten Jahren ist die Zahl der diagnostizierten BSE-Erkrankungen bei Rindern allerdings drastisch gefallen (u. a. aufgrund des seit 1994 EU-weit verhängten Verbots des Einsatzes von Tiermehl als Nahrungsmittel für Wiederkäuer; [2, 5, 8]). Das Alter der Tiere, bei dem nach Schlachtung ein BSE-Test durchgeführt werden muss, wurde in der Vergangenheit in einigen Ländern aber auch stetig erhöht – aktuell beträgt es in Deutschland 96 Monate. Bezüglich der Übertragbarkeit von BSE durch Gelatine gibt es derzeit überwiegend theoretische Überlegungen. Das von Adams u. Fries angeführte Statement der WHO zur Übertragbarkeit von BSE durch Gelatine aus 1992 erfolgte mehrere Jahre vor dem Gipfel der BSE-Erkrankungen bei Rindern und Menschen [13]. Da leider nicht nur die mittlere Inkubationszeit, sondern auch die Prionenmenge, die bei einer Infektion für den tatsächlichen Ausbruch von vCJK beim Menschen notwendig ist, nicht genau bekannt ist [2, 5], sind die theoretischen Überlegungen zur Übertragung von BSE naturgemäß mit gewissen Unsicherheiten und Ungenauigkeiten verbunden. In einer Dokumentation des Verbands der Europäischen Gelatinehersteller (GME) vom 28.07.1994 werden für den Herstellungsprozess des bei Rindermaterial ausschließlich verwendeten Gelatinetyps B Abreicherungsfaktoren von 105–108 für den Erreger von BSE berechnet. Als mittlerer Titer an BSE-Erregern wird für Rinderhirn von erkrankten Tieren 105,3 angegeben [17]. Eine Übertragung von BSE durch Gelatinelösungen bei ausschließlicher Verwendung von Rindermaterial mit nur niedrigen Konzentrationen an Prionen (Sehnen, Knochen; hoffentlich ohne Schädel und Wirbelsäule) mag damit sehr unwahrscheinlich [4] – oder besser ausgedrückt sehr selten – sein. Ein Ausschluss einer Übertragung ist hiermit allerdings nicht möglich, zumal die i.v.-Gabe einen deutlich effizi-

enteren Infektionsweg darstellen mag als die orale Applikation. Die Inzidenz von BSE nach i.v.-Gabe von Gelatine mit der natürlichen Inzidenz von BSE gleichzusetzen, ist also hypothetischer Natur und nicht durch harte Daten belegt. Leider ist die vorhandene Datenlage zur Sicherheit von Gelatine als Infusionslösung mit der von Albumin oder HES tatsächlich kaum vergleichbar. Mit Gelatine wurden keine wirklich großen kontrollierten Studien durchgeführt, die ein Statement „Gelatine ist sicher“ unzweifelhaft rechtfertigen könnten. Adams u. Fries betrachten bei der Darstellung der Häufigkeit von Unverträglichkeitsreaktionen ältere Arbeiten aus 1977 [16] und 1994 [9], nicht jedoch die ursprünglich auch zitierte [14] weit aktuellere Arbeit von Barron et al. [1] aus 2004. Diese Analyse inkludiert die im Vergleich zu den älteren Arbeiten deutlich größeren Patientenzahlen (113 Studien, Sicherheitsdaten umfassend von 1,54×106 Patienten und 1,09×108 Kolloidinfusionen) und kommt zu dem Ergebnis, dass bei Einsatz von Gelatinelösungen die Inzidenz von allergischen Reaktionen im Vergleich zu Albumin 12,4-mal [95%-Konfidenzintervall (95%-KI) 6,40–24,0] höher ist [1]. Es ist sicherlich richtig, dass allergische Reaktio­ nen im Schock seltener sind. Allerdings möchte man ein Kolloid (z. B. im OP) oft auch gerade zur Vermeidung von Schockzuständen einsetzen und dann natürlich durch die Gabe möglichst wenige auslösen. Wichtig ist ebenfalls, dass die Volumeneffekte, die wie in den von Adams u. Fries zitierten Arbeiten indirekt mit der Messung des Hämatokrits quantifiziert werden [10, 11], die tatsächliche intravasale Volumenwirkung systematisch erheblich überschätzen können [6, 7]. Mit der Doppelindikatorblutvolumenmessung wurde lediglich in einem Fallbericht der Volumeneffekt einer Gelatinelösung mit 50% quantifiziert [15]. Dieser ist fraglos deutlich höher als der eines Kristalloids (rund 20%), aber doch auch erheblich niedriger als bei isoonkotischen HES-Präparaten (rund 100%, [14]). Zwei Cochrane-Analysen untersuchten kürzlich das Outcome bei Gabe von Gelatinelösungen. Bunn u. Trivedi [3]: Albuminoder Plasmaproteinlösungen vs. Gelatine; 9 Studien, 824 Patienten; relatives Risiko

0,89 (95%-KI: 0,65–1,21) und Perel et al. [12]: modifizierte Gelatine vs. Kristalloid: 11 Studien, 506 Patienten: relatives Risiko 0,91 (95%-KI: 0,49–1,72). Betrachtet man die vorhandenen Daten für Gelatine also in der Zusammenschau, kommt man zu dem Ergebnis, dass im Vergleich zu Albumin die Letalität höher ist, im Vergleich zum Kristalloid hingegen geringer. Dieses auf den ersten Blick paradox erscheinende Ergebnis liegt wahrscheinlich an der insgesamt leider nur sehr geringen Zahl an kontrollierten Studien bzgl. Gelatine (mit zudem überwiegend nur sehr geringen Fallzahlen), was leicht zu heterogenen Ergebnissen führen kann. Dies ist auch der wesentliche Grund, warum die Sicherheit von Gelatine trotz der klinischen Nutzung seit über 60 Jahren nicht zuverlässig beurteilt werden kann [18]. Vor dem Hintergrund der Patientensicherheit ist es meines Erachtens aber ein Widerspruch, wenn man ein mittlerweile gut untersuchtes Medikament (HES), bei dem man mögliche Nebenwirkungen nun deutlich charakterisieren (durch einen sehr differenzierten Einsatz wohl auch umgehen) kann, kurzer Hand gegen ein anderes austauscht, bei dem das entsprechende Risiko (aufgrund fehlender Daten) nicht genau bewertet werden kann.

Korrespondenzadresse Prof. Dr. M. Rehm Klinik für Anaesthesiologie Klinikum der Universität München (LMU) Marchioninistr. 15 81377 München [email protected]

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  M. Rehm leitet aktuell 2 klinische Studien, von denen eine von CSL Behring, eine von Fresenius Kabi unterstützt wird. Er hat in den letzten 2 Jahren von CSL Behring und Fresenius Kabi Reisekosten und Honorare für Vorträge erhalten.

Literatur 1. Barron ME, Wilkes MM, Narvickis RJ (2004) A systematic review of the comparative safety of colloids. Arch Surg 193:552–563   2. Beekes M (2010) Die variante Creutzfeldt-JakobKrankheit (vCJK) – Epidemiologie und Schutzmaßnahmen gegen eine Übertragung von Mensch zu Mensch. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz 53:597–605

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Fachnachrichten – In eigener Sache   3.  Bunn F, Trivedi D (2012) Colloid solutions for   fluid resuscitation. Cochrane Database Syst Rev  7:CD001319   4.  Grobben AH, Steele PJ, Somerville RA, Taylor DM  (2006) Inactivation of BSE infectivity on chips of  bone by autoclaving during the manufacture of  gelatine. Vet Rec 158:94–96   5.  Hueston WD (2013) BSE and variant CJD: emerging  science, public pressure and the vagaries of policymaking. Prev Vet Med 109:179–184   6.  Jacob M, Annaheim S, Boutellier U et al (2012)  Haematocrit is invalid for estimating red cell volume: a prospective study in male volunteers. Blood  Transfus 10:471–479   7.  Jacob M, Conzen P, Finsterer U et al (2007) Technical and physiological background of plasma volume measurement with indocyanine green: a  clari fication of misunderstandings. J Appl Physiol  102:1235–1242   8.  Kretzschmar H, Tatzelt J (2013) Prion disease: a tale  of folds and strains. Brain Pathol 23:321–332   9.  Laxenaire MC, Charpentier C, Feldman L (1994) Réactions anaphylactoïdes aux substituts colloïdaux  du plasma: Incidence, facteurs de risque, mécanismes. Enquête prospective multicentrique française. Ann Fr Anesth Réanim 13:301–310 10.  Lobo DN, Stanga Z, Aloysius MM et al (2010) Effect  of volume loading with 1 l intravenous infusions of  0.9% saline, 4% succinylated gelatine (Gelofusine)  and 6% hydroxyl-ethyl starch (Voluven) on blood  volume and endocrine responses: a randomized,  three-way crossover study in healthy volunteers.  Crit Care Med 38:464–470 11.  Marx G, Cobas Meyer M, Schuerholz T et al (2002)  Hydroxyethyl starch and modified fluid gelatin  maintain plasma volume in a porcine model of  septic shock with capillary leakage. Intensive Care  Med 28:629–635 12.  Perel P, Roberts I, Ker K (2013) Colloids versus crystalloids for fluid resuscitation in critically ill patients. Cochrane Database Syst Rev 2:CD000567 13.  o A (1992) Public health issues related to animal  and human spongiform encephalopathies Memorandum from a WHO meeting. Bull World Health  Organ 70:183–190 14.  Rehm M (2013) Anwendungsbeschränkung für  Hydroxyäthylstärke – Hintergründe und alternative Konzepte. Anaesthesist 62:644–655 15.  Rehm M, Orth VH, Weninger E et al (2001) Acute  „normovolemic“ hemodilution with 3.5% polygel  (Haemaccel) for patients in the Wertheim-Meigsoperation. Blood loss of 87% blood volume without perioperative blood transfusion. Anaesthesist  50:580–584 16.  Ring J, Meßmer K (1977) Incidence and severity of  anaphylactoid reactions to colloid volume substitutes. Lancet 466–469 17.  Stellungnahme des BgVV zu einer Anfrage des Abgeordneten Dr. Wolfgang Wodarg vom 12. August  1996 BSE – Anforderungen an die Gelatineherstellung. http://www.bfr.bund.de/cm/343/bse_anforderungen_an_die_gelatineherstellung.pdf 18.  Thomas-Rueddel DO, Vlasakov V, Reinhart K et al  (2012) Safety of gelatin for volume resuscitation –  a systematic review and meta-analysis. Intensive  Care Med 38:1134–1142 19.  Vincent JL, Wilkes MM, Navickis RJ (2003) Safety of  human albumin – serious adverse events reported  worldwide in 1998–2000. Br J Anaesth 91:625–630

Galenus-Preis und CharityAward: Die Sieger 2013 stehen fest  In Berlin wurden im Rahmen einer  festlichen Gala der diesjährige Galenus-von-Pergamon-Preis und der  CharityAward von Springer Medizin  verliehen. Überreicht wurden die begehrten Medaillen vom parlamentarischen Staatssekretär Thomas Rachel  im Namen der Galenus-Schirmherrin  und Bundesforschungsministerin  Professor Johanna Wanka. 

Primary Care In der Kategorie Primary Care zeichnete die Jury  Rifaximin (Xifaxan®) von Norgine aus. Das  darmselektive Breitbandantibiotikum aus der  Rifamycin-Klasse soll bei Patienten mit  Leberzirrhose Durchbrüche von hepatischen  Enzephalopathien (HE) verhindern. Durch die  selektive Wirkung von Rifaximin im Darm  werden diverse Bakterien in Schach gehalten,  die toxische Substanzen wie Ammoniak  produzieren. Die Ammoniak-Plasmakonzentrationen sinken, die neuropsychiatrischen  Symptome bessern sich und das Risiko für  HE-Durchbruch-Episoden sowie für Hospitalisierungen wird reduziert.

Specialist Care In dieser Kategorie wurden erstmals zwei  Preisträger geehrt: Ivacaftor (Kalydeco™) von  Vertex und Pertuzumab (Perjeta®) von Roche.  Ivacaftor war 2012 das erste zugelassene  Medikament, das kausal bei zystischer Fibrose  (Mukoviszidose) wirkt. Es ist zugelassen für  Patienten ab sechs Jahren mit einer G551D-Mutation im CFTR-Gen. Der Wirkstoff  verbessert die  Funktion eines Ionentransportkanals exokriner  Drüsen. Dadurch bessert sich innerhalb von zwei  Wochen die Lungenfunktion, die behandelten  Patienten nehmen an Körpergewicht zu und die  Lebensqualität steigt.  Der humanisierte monoklonale Antikörper Pertuzumab ist seit Anfang des Jahres zur Behandlung  von Patientinnen mit einem HER2-positiven, 

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Der Anaesthesist 11 · 2013

metastasierten oder lokal rezidivierenden,  inoperablen Mamma-Ca zugelassen. Es kommt  in Kombination mit Trastuzumab und dem  Zytostatikum Docetaxel als duale HER2-Blockade  zum Einsatz. Der Antikörper hemmt die  HER-Dimerisierung.

Grundlagenforschung Der diesjährige Galenus-Preis für Grundlagenforschung geht an das Team von Prof. Oliver Groß  aus Göttingen. Der Nephrologe hat mit Arbeiten  über ACE-Hemmer beim Alport-Syndrom dafür  gesorgt, dass es erstmals eine Therapieempfehlung für die chronisch progrediente Nierenfi brose gibt. Vielen der jungen Patienten, die an dieser  speziellen und seltenen progressiven hereditären Nierenerkrankung leiden, kann mit dieser  Therapie womöglich die Dialyse erspart bleiben.  Der Preis ist mit 10.000 Euro dotiert.

CharityAward an Netzwerk Gesunde Kinder Brandenburg Unter den Top-10-Nominierten der Bewerber  hatten die Leser der Fachmedien von Springer  Medizin das Netzwerk Gesunde Kinder  Brandenburg als Sieger gekürt. Der Ehrenamtspreis ist in diesem Jahr mit insgesamt 250.000  Euro dotiert: ein Barscheck in Höhe von 50.000  Euro, ein Medienpaket über 100.000 Euro (beides  von Springer Medizin) und erstmals eine weitere  mediale Leistung im Wert von 100.000 Euro,  gesponsert von TV-Wartezimmer. Das Netzwerk  Gesunde Kinder setzt sich seit 2006 dafür ein,  dass Familien alle Hilfen für eine gesunde  Entwicklung ihrer Kinder erhalten. Rund 1200  Paten sind ehrenamtlich in den 19 regionalen  Netzwerken aktiv. Sie begleiten derzeit rund  4200 Familien. Insgesamt haben die Netze bis  Herbst 2012 bereits fast 7000 Familien betreut.  Der Mutmacherpreis des CharityAward in Höhe  von 5000 Euro ging in diesem Jahr an die  Stiftung PhytoKids.  Quelle: Springer Medizin

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