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Zur Definition psychogener Stimmstorungen H. H. Bauer

Die Auswirkungen seelischer Vorgänge auf

Zusammenfassung

Die klinisch gebrbuchliehe Bezeichnung ,,Psyehogene Stimmstörung" wurde im Verlauf von Jahrzehnten untersehiedlich interpretiert. Tm besonderen erfolgten von Phoniatern entspreehend der jeweils aktuel-

len medizinisehen Orientierung theoretische Ansatze

und Zuordnungen zum Begriff der ,,Funktionellen Stimmsthrung". Atiologiseh darf ,,psyehiseh" keinesfalls als Adjektiv zu organisch bedingten Erkrankungen gesehen werden. Von kliniseh-praktiseher Bedeutung ist das

Auftreten psychopathologisch faübarer Faktoren, die primiir oder sekundar entstanden, das Kranlcheitsgeschehen beeinflussen und zu auch kausal orientierten und somit effektiven therapeutisehen Anshtzen führen. Funktionelle Stimmsthrungen treten sehr haufig als unspezifisehe Reaktion auf emotionelle Belastungen auf,

nicht selten bei Depressionen und als Folge eines

neurosepathogenetisehen Geschehens. Zur vollstiindigen Beurteilung einer funktionellen Stimmstörung ist im Einzelfall das Erheben einer psyehosozialen Anamnese unerlahlich.

Definition of Psychogenic Voice Disorder _________________________________

die Stimme sind seit alters bekannt. Die Stimme ist der Spiegel der Seele; emotionale Stdrungen schiagen sich in zum Teil pathologisehen Mechanismen der Atmung, der Stimmgebung und im Bereich des Ansatzrohres nieder, wobei die akustischen Veränderungen der Stimme, ihre Ermüdungserseheinungen, evil. auch die Mihempfindungen die auffallendsten Symp tome sind und in der Regel Anlaf zu cincr ärztlichen Untersuehung werden.

Bestrebungen, die funktionellen Stimmsthrungen nach atiologischen Kriterien einzuteilen, gehen bis in die zwanziger Jahre zurück, so auf Nadoleczny, Luchsinger, Stern u. a. Berger, Phoniater in Münster, sehlug bereits 1930 vor, organische Faktoren von funktionellen, exogene von endogenen, allgemein disponierende von speziell auslösenden Momenten zu trennen, neben den pathogenetischen Krankheitszeichen die pathoplastisehen zu beaehten. für eine Umgreifung der Gesamtheit Berger trat der kranlchaften Lebenserseheinungen em. Damit setzte sich bereits vor 60 Jahren in der Phoniatrie eine mehrdimensionale und ganzheitlich orientierte sche Betrachtungsweise durch, wie sic in den meisten mcdizinisehen Gebieten erst nach dem zweiten Weltkrieg allmãhlich vom Aspekt der Psychosomatisehen Medizin FuE faRte.

The clinical designation of the psychogenic voice disorder is discussed. "Psychogenic" is aetiologi-

Historiseh gesehen war bekanntlieh die medizinisehe Wissensehaft bis in die Naehkriegsjahre weitge-

eally by no means an apposite, or adjective, to organic diseases, for the occurrence of factors that can be defined as psychopathological (either primary or second-

hend noeh dualistisch orientiert; man kannte lediglich Krankheiten, die entweder organiseh oder psyehiseh be-

ary) is always practically and clinically important — especially if these factors are of general psychosocial relev-

ance, or of a latent depressive and neurotic nature. Hence, biographical anamnesis can be obligatory, supplying information that is essential for a therapeutic approach.

dingt waren, die eine Krankheitsform schlo6 sozusagen die andere aus. Dieser Dualismus solite in der Phoniatrie 1962 noehmals eine Renaissance erfahren, a's Perelló versuchte,

funktionelle Stimmstörungen in sog. Phonoponosen und Phononeurosen einzuteilen. Abet im besonderen die wechselseitigen F.inflüsse von organisehen, funktionellen und psychisch fa1baren Erseheinungen sowie ihre Verfleehtungen in der Atiologie und im weiteren Verlauf des Krankheitsgesehehens fanden bei diesem Konzept keine ausreiehenden Erklärungsmhgliehkeiten. Selbst die Konzession sog. Misehformen vermag es hier nieht, einen für ktinischpraktisehe Bedürfnisse befriedigenden Ansatz zu erreiehen. Abet aueh für die Vertreter der Psychiatric und Psychologie waren und sind die Störungsbilder seitens der Stimme nur em Randgebiet. In erster Linie fehit ihnen der aktuelle Iaryngoskopische Befund. Uberdies ist em Patient mit psyehogener Aphonie für eine Gespräehstherapie wenig geeig-

Laryngo-Rhino-Otol. 70(1991) 102— 104

Georg Thieme Verlag Stuttgart New York

Herrn Prof. Dr. mcd. H. Feldrnanu zum 65. Geburtatag.

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Polildinik für Phoniarrie nod Padaudiologie dec Wesrfãlisehen Wi1heInisUniversitdr Mdnster (Direkror: Prof. Dr. 1—!. Fl. Racer)

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net. Neuere, sicher audi berufspoiitisch akzentuierte Be-

StimmstOrung angesehen, ais em TConversionssymptom, das

strebungen reldamieren seit Mine der 70cr Jahre immer wieder den Anspruch der Psychotherapie dutch DipiomPsychologen; die Behandlung somatischer StOrungen soil

einen LOsungsversuch eines tiefgreifenden emotionalen in

dem Arzt uberiassen werden, die Psyche der Verhaitenstherapie dutch Nichtãrzte.

Im Gegensatz zu den organisch bedingten StimmstOrungen, in der Regel Kehlkopferkrankungen, stel-

len die funktioneilen Dysphonien komplexe binlogische Geschehen dar: Man findet meist em unubersehbares Flechtwerk von Korreiaten in Form morphologischer, funk-

tioneiier, vegetativer, eiektrophysioiogischer, biochemischer, hormoneller und psychoparhologisch faIbarer Abweichungen (H. Bauer, 1961). Dazu schreiht Pascher m. E. sehr treffend, da6 subjektive EinschOtzungen des Steiienwerts der Symptome und der ursãchiichen Fakroren vom Standort und vom verfugbaren diagnostischen Repertoire des einzeinen Untersuchers geprägt sind. Die differierenden Interpretationen fuhren zwangsiaufig zu entsprechenden unterschiedhchen therapeutischen Ansätzen.

der Regei schon jahrelang dauernden Konflikts darstelit (Aronson, 1968). Eine Dimension, die in der phoniatrischen Literatur und Praxis wenig Beachtung findet, ist das Sichverhaiten des Patienten zu seiner Stimmstbrung. Dieses geht ais weiterer Faktor in die Krankheit em und gestaltet

deren Symptomatologie, Prognose und Verlauf. Es wird von der individueiien Grundhaltung und persOnlichen Lebenseinsteilung bestimmt, teils von mehr unbewu&en Reaktionsmechanismen, von Angst vor Krankheit und Berufsunfahigkeit, nmcht seiten von einem evti. Krankheitsgewinn, aber auch von Gesundheitsbewufltsemn, von Leistungsbereitschaft und Eigenverantwortung.

Die Stimme mu fernet im Spannungsfeid der Sprecher-HOrer-Beziehung mit den partnerbezogenen FrcmdrOckkopplungsmechanismen gesehen werden, wo sic z. B. begreiflicherweise in neurosenbestimmte psychodynamische Ablãufe verwoben scm kann (Gundermann). Steilen wit nun nach diesen Uberiegungen

Die Begriffe psychisch und psychogen wetden immer noch im tagiichen Sprachgebrauch ais Alternative zu organisch bedingten StimmstOrungen benutzt, wobei reiiweise em abwertender Ton mitschwingt. AiizuhOufig werden sic an den Rand unserer medizmnischen Betrachrun-

gen gedrangt, vor aiiem aber zu wenig differenziert gebraucht.

Funktionelie StimmstOrungen sind sehr haufig eine unspezifische Reaktion auf emotionaie Beiastungen (H. Bauer, 1980; W. Freidi u. a. 1990). Die psychosoziale Anamnese deckt haufig persOnhche Schwierigkeiten

im emotioneiien, im zwischenmenschhchen oder im partnerschafthchen Bereich auf, im Berufsleben oder in der zwischenmenschlichen Sphare. Die Erhebung der Anamnese oft schon sehr deutlich werden, wie unmitteiiaI?t bar die Psychodynamik die Stimmfunktion beeinfluRt: Trifft man im Gesprãch den stOrungsausiOsenden Komplex, so verãndert sich die Stimme. Thre Spannung nimmt zu, sobald die Lebensschwierigkeiten dem Patienten ins Bewuktsein treten; die Spannung lost sich, wenigstens vorwenn er seine aufgestauten Lebensprobleme vortragen konnte und die krankmachenden Zusammenhange seihst erkennt. Wie bei keinem anderen funktioneiien StOrungsbild lassen sich die für die Entstehung der StimmstOrungen im Einzeifaii wirksamen pathopiastischen seehschen Faktoren verdeutlichen. Andere StimmstOrungen treten im Rahmen von (oft larvierten) Depressionen auf (H. Bauer, 1980). VieIc Patienten berichten von depressiven Verstimmungen, beschreiben diese jedoch oft als Reaktion auf die verminderte

stimmhche Leistungsfãhigkeit und die daraus folgenden oder zu erwartenden Schwierigkeiten für die berufliche Tatigkeit und in der privaten Sphãre. Hinterfrãgt man anhand einer eingehenden Anamnese die Geschichte der Erkrankung, ist die Depression in der Mehrzahi zuerst da gewesen.

Eine Reihe funkrioneiier StimmstOrungen iaflt sich wiederum nut unter neurosepathogenetischen Gesichtspunkten interpretieren. Tm besonderen wird die spastische Dysphonie aJs psychisch bedingte

die Frage: Was verbirgt sich hinter dem Etikett ,,psychogene SrimmstOrungen"? In Lehrbüchern ist der Begriff psychogen definiert: In der Psyche begründet, durch seelische Vorgãnge verursacht. Oder: Dutch seelische Einfiüsse entstanden und festgehalten. Die entsprechenden Krankheitsbiider umfassen psychosomatische StOrungen und Erkrankungen, z. B. Organneurosen sowie endogene VerhaltensstOrungen.

Die psychische Genese a's Alternative zum Organischen mu der Vergangenheit angehOren. Bei einzelnen StOrungsbildern kann das Psychische em Aspekt, em Korreiat zum Organischen bzw. Funktionelien, das psychopathoiogische Konzept hier vielleicht entbehriich scm, z. B. beim psycho-

physischen Paraiiehsmus. Die Terminologie und die Erkenntnisse aus den Bereichen der ,,Psycho"-Wissenschaften kOnnen aber unseren Erkenntnisbereich sehr oft wesenthch ergànzen und erweitern. Keinesfails dflrfen seeiische pathopiastische Faktoren einer StimmstOrung werden, weii nur em derartiges diagnostisches Vorgehen im Emnzelfali zu richtungsweisenden, kausal orientierten und somit effektiven therapeutischen Ansãtzen führt. Die Interdepen-

denz und Interaktion von organischen, funktionellen und

psychischen Abiaufen erfordern bei den funktioneilen StimmstOrungen eine auf die organisch-seehsche PersOn-

hchkeit ausgerichtete arztliche Tatigkeit. Hierfür hefert m. E. die psychosomatische Medizin die ganzheitiiche seeIisch-kOrperliche Betrachtungs- und Heilweise, weiche bei psychogenen Erkrankungen neben Organschädigungen und OrganfunktionsstOrungen auch die emotionalen und sozialen Ursachen sowie die gesamte PersOnlichkeit und das Lebensschicksai berücksichtigt. Die psychosomatische Mcdizin versteht sich bekanntlich nicht ais seibstandiges medizinisches Gebiet, vieimehr ais eine in aile medizinischen Uichern zu mntegrierende ganzheithche Betrachtung. Sic deckt 60 sich somit weitgehend mit der in der Phoniatrie seit und dort originären arzthchen Tatigkeit. Jahren

Neuere Tendenzen, Untersuchungsmethoden zu objektivieren und deren Ergebnisse numerisch zu erfassen, führten zu einer gewissen Distanzierung des diagno-

stischen Denkens von psychisch fafibaren Abiaufen. So schreibt u. a. Kruse (1989): Die Behandiung der primãren die phonmatrische psychogenen Dysphonie

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Zur Definition psychogener Stimmstdrungen

II. H. Bauer: Zur Definition psycho gener Stimmstdrungen

Literatur

Kompetenz, was durch eine psychosomatisch-facharztliche Konsiliaruntersuehung zumindest abzuklbren ware. M. E. gehort die Diagnose und Therapie aueh seeliseh bedingrer bzw. mitbedingrer funktioneller Stimmstörungen zurn inte-

grierenden Bestandteil jedes arztliehen Handeins emsehlieI?Iieh der kleinen Psychotherapie. Der Phoniater würde sieh andernfalls selbst eines originãren Bestandteils se-

Aronson, A. P., J. K. Brown, P. M. Litin, J. S. Pearson: Spastic dysphonia I. Voicc, ncurologic and psychiatric aspects. J. Speech. 2

nes diagnostischen und therapeutisehen Handeins berauben. Uberfordert ist er erst dann, wenn eine tiefenpsyeho!ogisch orientierte Behandlung indiziert ist, wofur eine spezielle Zusatzausbildung Voraussetzung ist.

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Direkror der Polikiinik Phoniarrie ond Pbdaodiologie Wesrfllische Wilhelms-Universitar Münsrer Kardinal-von-Galen-Ring 10 D-4400 Münsrer

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104 Laryngo-R]iino-Otol. 70(1991)

[Definition of psychogenic voice disorders].

The clinical designation of the psychogenic voice disorder is discussed. "Psychogenic" is aetiologically by no means an apposite, or adjective, to org...
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