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Analgesie mit oraler Gabe von Tilidin-Naloxon zur extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie Eine Doppelblindstudie 'Klinik für Anästhesiologie und operative Intensiwnedizin 'Urologische Klinrk, Marienhospital Herne 1, Kliniken der Ruhr-UniversitätBochum

Analgesia via Oral Administration of Tilidine-Naloxone in ESWL A Double-Blind Study Summary Reduction in pain perception during ESWL due to a technical modification of the lithotriwtor was expected and prompted a reassessment of anaesthesia techniaues for ESWL. In t h s studv the need for analeesic treaiment had to be investiga;ed. After satisfactvory prelirninary results in a previous pilot study, the value of the oral combination of the anti-anxiety drug dipotassium clorazepate on the evening before ESWL together with the analgesic tilidine-naloxone before treatment was tested in a randomised double-blind study in 120 patients. In case of intolerable pain during the treatment all patients were free to ask for additional intravenous analgesic medication (fentanyl). During ESWL, 28.3 % of the tilidine-N group patients and 6.7 % of the placebo group were pain-free, whereas intolerable pain was reported by 30 O/o of the tilidine-N group and 56.7 % of the placebo group. Therefore, 70 O/o of the tilidine-N group patients were treated without any additional analgesic or sedative medication. The eood emerience with this oral anaesthesia approach, the lack of significant side effects and a good acceptance by the patients Warrant further recommendation of this technique. V

Zusammenfassung Durch eine Modifikation des Lithotriptors mit dem zu erwartenden Ergebnis einer Schmerzreduktion mußte das bisherige Anästhesiekonzept zur extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie überdacht werden. Zum einen sollte die weitere Notwendigkeit einer analgetischen Behandlung überhaupt g e p ~ fwerden. t Erforderlichenfalls sollte zum anderen nach guten Erfahrungen mit einer Pilotstudie (13) das anxiolytisch-analgetische Konzept mit vorabendlicher Prärnedikation (Dikaliumclorazepat) und oraler Gabe des Analgetikums Tilidin-Naloxon zur ESWL bei 120 Patienten in einem randomisierten doppelbtinden Parallelversuch gegen Placebo überprüft werden. Dabei hatten die Patienten beider Gruppen jederzeit die Möglichkeit, bei nicht akzeptablen Schmerzen die intravenöse Gabe eines Opioids (Fentanyl) zu fordern. Während der ESWL gaben 28,3 O/o der Tilidin-N und 6,7% der Placebo-Gruppe Schmerzfreiheit, 30,0°/o der Tilidin-N- und 56,7O/o der PlaceboGruppe nicht akzeptable Schmerzen an, d. h. 70% der Tilidin-N-Patienten wurden ohne die zusätzliche Gabe weiterer analgetischer oder sedierender Medikamente behandelt. Die guten Erfahrungen mit dem vorgestellten Verfahren, die Nebenwirkungsarmut und die Zufriedenheit der Patienten erlauben es, eine weitere Anwendung zu empfehlen.

Die extrakorporale Stoßwellenlithotripsie (ESWL) ist ein inzwischen etabliertes Routineverfahren zur Behandlung von Nieren- und Harnleitersteinen. Seit 1980 sind weltweit mehr als 500000 Steinzertrümmerungen auf diese Weise vorgenommen worden. In den ersten Jahren der Anwendung wurde in den meisten Fällen eine Allgemein- oder Regionalanästhesie angewendet (7, 18, 20, 26, 28). Einige Publikationen beschäftigten sich auch mit alternativen Möglichkeiten wie Oberflächenlokalanästhesie (3, 19) oder paravertebralen Nervenblockaden (5).

Seit einiger Zeit werden Versuche unternommen, die ESWL effektiver, belastungsärrner, sicherer und komfortabler zu machen (8, 13, 22, 24). Angestrebt werden neben Verbesserungen des technischen Apparates Kostenreduktion und Verzicht auf invasive Anästhesieverfahren. Inzwischen wird die ESWL mit Geräten verschiedener Hersteller durchgeführt, die sich unter anderem auch hinsichtlich der Schrnerzhaftigkeit der Steinzertrürnmemng unterscheiden sollen. Daraufhin finden sich Publikationen, in denen die alleinige Gabe von Sedativa und/oder Analgetika als ausreichend für die Behandlungsfähigkeit des Patienten beschrieben werden (4, 8, 22, 23).

Anästhesiol. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 26 (1991) 143-147 8 Georg Thieme Verlag Stuttgart .New York

In mehreren deutschen KLiniken wurden im Herbst 1986 die Dornier-Medizintechnik-Lithotriptor HA4 3 modifiziert. Durch Veränderungen der elektrischen Para-

Einleitung

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U. Hankemeier ', D. Herberhold ',J. GraffZ

144 Anästbesiol. Intensivmed. Notfallnzed. Schmerzther. 26 (1991)

60 -/

U. Hankemeier und Mitarb.

1 Tilidin-N ( ~ 6 0 )

-

"

keine Schmerzen

leiihte Schmerzen

mäiige Schmerzen

staike "uner;räglicheu Schmerzen Schmerzen

~chmerzfre~ sehrleichte Schmerzen

leichte Schmenenl aushallbar

unkomfortabell nicht aushaltbar aushaltbare Schmetzen

Abb.1 Häufigkeitsverteilung der Maximalwerte zur Abfrage über die Schmerzintensität während der ESWL.

Abb.2 Häufigkeitsverteilung der Maximalwerte zur Abfrage über die Schmerzbewertung nach der ESWL.

meter des Stoßerzeugungssystemsam Lithotriptor war eine Verschiebung der Stoßgeneratorkennlinie zu niedrigeren Drucken bei gleicher Spannung möglich. So konnte die Druckamplitude am Fokuspunkt erheblich gesenkt werden. Deshalb war eine Verminderung der durch die Stoßwellen verursachten Schmerzen zu erwarten (8,22). Die Indikation zur Aligemein- oder Regionalanästhesie mui3te ernsthaft diskutiert werden. Es ergab sich die Frage, ob nicht ganz auf anästhesiologische Mdnahmen verzichtet werden konnte oder zumindest weniger aufwendige Anästhesieverfahren als die bisher angewandten entwickelt werden könnten, die für die Patienten eine gute Anxiolyse und Analgesie aufweisen würden.

- Weiterentwicklung

Nach ersten guten Erfahmngen mit der Peroralen anxiolytisch-analgetischen Medikation von Dikaliumclorazepat (Tranxiliumm) und Tilidin-Naloxon (TilidinN, Valoron@N)zur ESWL (13) sollte in einem randomisierten doppelblinden Parallelversuch gegen Placebo überprüft werden, ob eine Analgesie nach den Lithotriptormodifikationen überhaupt notwendig ist und wenn ja, ob und in welchem Ausmaß Tilidin-N geeignet ist, die bei der ESWL noch auftretenden Schmemn zu reduzieren. Methodik In diese Studie wurden 120 weibliche und männliche Patienten aufgenommen, die einer BWL wegen Nieren- und lumbaler Harnleitersteine zugeführt werden mußten. Die Ausschlußkriterien sind der Tab. 1 zu entnehmen. Nach Vorführung eines Video-Filmes über das Behandlungsverfahren wurde mit allen Patienten ein sehr umfassendes Aufkiärungsgesprächgeführt, dessen Inhalte im folgenden wiedergegeben werden:

Tab. 1 Ausschlußkriterien. Alter < 18Jahre Ktlrpergewicht < 45 kg und > 100 kg - regelmäßige vorherige Einnahme von Psychopharmakaundloder zentral wirkenden Analgetika - Unverträglichkeitenund Allergien gegen die Prüfsubstanz -

der ESWL-Technik mit zu erwartender Verminderung der Schmerzintensität und Verzicht auf sonst übliche Vollnarkose oder Teilbetäubung; - vorabendliche Verabreichung eines lang wirkenden angstlösenden Medikamentes als Tablette; - Verabreichung eines Schmemedikamentes in Tropfenform 45 Minuten vor Behandlungsbeginn - Hinweis auf mit diesem Verfahren bisher gemachte gute Erfahmngen; - zufällige Aufteilung der Patienten in die beiden Gruppen der Doppelblindstudie mit Erklärung der Begriffe ,Placebou und ,Doppelblindstudieu; - Start der ESWL mit ,Probestoßwellenu, um Charakter und Intensität der Stoi3wellen vorzuführen; - Möglichkeit zur sofortigen Unterbrechung der ESWL durch den Patienten bei auftretenden Schmerzen; - falls vom Patienten gewünscht, Verabreichung eines stark wirkenden Schmerzmedlkamentes über einen liegenden i.v. Zugang (falls notwendig, Wiederholung der Injektion). Dieser Interventionsvunkt wurde mit ,unerträdiche Schmerzenueingestuft; - regelkäßige ~ b f r a ~ u über n ~eventuell empfundene Schmerzen und Einschätzung der Schmerzintensität in 5minütigen - Abständen und nach der ~ e h a n d l u n ~ ; - völlige Freistellung der Teilnahme an der Studie mit möglicher Wahl einer anderen Anästhesiemethode (2.B. Katheter-Periduralanästhesie). Es erfolgte die übliche anästhesierelevante Anamneseerhebung und körperliche Untersuchung. Das beschriebene Vorgehen wurde vorab der Ethik-Kommission der Abteilung für Theoretische und Klinische Medizin der Ruhr-Universität Bochum vorgelegt und von ihr genehmigt. Am Vorabend wurde allen Patienten als Prärnedikation Dikahumclorazepat ( < 60 kg KG - 15 mg, 60-75 kg KG 20 mg, 75-90 kg KG - 25 mg, > 90 kg KG - 30 mg) per os verabreicht. Die Patienten erhielten 45 Minuten vor Beginn der ESWL randomisiert, doppelblind entweder peroral Tilidin-N (1,8 mg/kg KG) oder Placebo. Die geschmackliche Identität beider Tropfenlösungen wurde durch Verabreichung in koffeinfreiem Kaffeepulver gewahrleistet; dies ergab gleichzeitig ein pH-neutrales Medium. Nach Legen eines i. V. Zuganges wurden alle Patienten wahrend der ESWL wie anästhesiologisch üblich überwacht (z. B. kontinuierliches EKG-Monitoring und automatische Blutdruckkontrolle).

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E4 Placebo (n=60)

Anästhesiol. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 26 (1991) 145

Analgesie mit Gabe von Tilidin-Naloxon Demographische Daten

Alter (Jahre) Gewicht (kg) Broca-Indexa Geschlecht

Mittelwert

Tilidin-N (n=60) Standardabweichung range

51 75 1.28

14 11 0,21 männlich: 30

20 - 78 46 -100 0,90- 1,71

Mittelwert

Placebo (n=60) Standardabweichung range

52 75 1,25

14 12 0,21

weiblich: 30

männlich: 35

23 - 79 49 -100 0,85- 1,71 weiblich: 25

Broca-Index = W/ (H-100)~ F; H = Größe (cm);W = Gewicht (kg);F = 0,90 falls männlich; F = 0,85 falls weiblich

Tab.3

Einschätzungen der Patienten zum Verfahren Tlidin-N

Bejahende Antwort auf Frage: Eingriff komfortabel? Bejahende Antwort auf Frage: gleiche Schmerzbehandlung bei Rezidiv? Bejahende Antwort auf Frage: Vollnarkose bei Rezidiv?

i 94,7%

100 % 0 %

Die Generatorspannung des Lithotriptors betrug z u Beginn jeder Behandlung bei Nierensteinen 20 kV und bei Harn-

ieitersteinen 22kV. Bei Stoßwellenzahl 600 wurde auf 22 kV (Nierensteine) bzw. 24 kV (Harnleitersteine) erhöht. Eine Beurteilung der Schmerzintensität durch die Patienten erfolgte während der ESWL, nach den ,Probestof3wellenU, in Sminütigem Abstand während der ESWL und sofort nach der Behandlung. Sie wurde vom Interviewer protokolliert. Die den Patienten vorgegebenen Möglichkeiten zur Einschätzung der Schmerzintensität sind der Abb. 1 zu entnehmen. Gaben die Patienten wahrend der ESWL für sie nicht akzeptable Schmerzen an, wurde die Behandlung unterbrochen und über die liegende i. V. Kanüle Fentanyl (Fentanyla-Janssen) in der Dosierung von 2 pg/kg KG injiziert. Nach Wukungseinuiitt wurde die Behandlung fortgesetzt. Im Falle einer nicht ausreichenden Schmemeduktion wurde jeweils 0,l mg Fentanyl nachinjiziert. Weitere Abfragungen der Patienten fanden direkt nach der Behandlung und bei der ,post ESWL-Visiteustatt (Abb. 2 und Tab. 3). Zur Signifikanzprüfung der Häufigkeitsunterschiede zwischen Verum- und Placebogruppe bezüglich der Variablen ,maximale Schmerzintensität wahrend der ESWL" und "SchmerzbeWertung durch den Parienten nach Beendigung der ESWL" wurde der Chi-Quadrat-Test durchgeführt. Die Unterschiede der Dauer bis zur eventuell zusätzlichen i. V. Applikation von Fentanyl wurden mit dem t-Test für unverbundene Stichproben geprüft. Das Signifikanzniveau wurde auf p=O,OS festgelegt.

sofort nach ESWL Placebo

„post ESWL-Visite" Placebo

1

1Tilidin-N

'90,0%

I 94,7O/0

'91,7%

100 Oo/ 0 %

95,OYo 5.0 %

95,O% 5.0 OIO

1

,,Schmerzfreiu waren 28,3 O1o aller Tilidin-N- gegenüber 6,7010 der Placebo-Patienten. I. V. Zugabe von Fentanyl war bei 30,O OlO der TiidinN- und 56,7OjO der Placebo-Gruppe notwendig. Die Ergebnisse der Patientenbefragung zur Schmerzbewertung sofort nach Beendigung der ESWL sind Abb. 1 zu entnehmen. .Schmerzfreiu blieben 38,3 010 der Tilidin-N- und 11,7°10 der Placebo-Gruppe. Die Bewertung ,,nicht aushaltbarer Schmerzu wurde von keinem Patienten angegeben. Die Einschätzung der Patienten zur Behandlung sind in Tab. 3 zusammengestellt. Wurde die Zugabe von Fentanyl notwendig, so betrug der zeitliche Abstand vom Beginn der ESWL in der Tilidin-N-Gruppe im Durchschnitt 7,O und in der Placebo-Gruppe 7,6 Minuten. Gelegentlich war mehr als eine Injektion nötig. Dabei unterschied sich die Anzahl der Injektionen in beiden Gruppen kaum (Tilidin-N ein- bis dreimal, X=1,66; bei Placebo ein- bis viermal, %=1,74). Wegen zu geringer Zahl von Harnleiterstein-Patienten und mangelnder Signifikanz konnte bezüglich der zusätzlichen Fentanylgabe kein Unterschied zwischen Nierenstein- und Harnleitersteinpatienten ermittelt werden.

Ergebnisse Die demographischen sowie biometrischen Daten der Patienten sind in Tab. 2 zusammengestellt. Beide Gruppen waren in bezug auf Alter, Gewicht, Broca-Index und Geschlecht statistisch vergieichbar. Ebenso bestand kein Unterschied zwischen den ASA-Klassifikationen (Tilidin-N: ASA I - 22 Pat., ASA I1 - 34 Pat., ASA I11 - 4 Pat.; Placebo: ASA I - 26 Pat., ASA I1 - 3 1 Pat., ASA 111 - 3 Pat.). 3 Patienten nahmen zweimal an der Studie teil. Die jeweils höchste Stufe der von den Patienten während der ESWL angegebenen Schrnerzintensität ist in ihrer Häufigkeitsverteilung in Abb. 1 dargestellt.

Ernsthafte Komplikationen wurden nicht beobachtet. An unerwünschten Begleiterscheinungen und Nebenwirkungen traten in der Tiidin-N-Gruppe Schwindel in zwei, Übelkeit in fünf sowie Erbrechen in zwei Fällen auf. In der Placebo-Gruppe traten Schwindel in einem Fall, Übelkeit in sechs Fällen, behandlungsbedürftiger Bluthochdruck in drei Fällen sowie einmal eine Bradykardie auf. Diskussion Die Modifizierung des Lithotriptors machte ein Überdenken der bisher zur ESWL angewandten Anästhesieforrnen erforderlich, da diese durchaus nicht wenig

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Tab.2

aufwendig sind und mit erheblichen Nebenwirkungen und Komplikationen behaftet sein können.

Zum einen mußte überprüft werden, ob weiterhin eine analgetische Behandlung zur ESWL erforderlich ist. Ist sie erforderlich, so sollte zum anderen ein neues Anästhesiekonzept gesucht werden, das eine für den Patienten sichere Behandlung bei möglichst hohem Komfort gewahrleistet. Der weitestgehende Ansatz wäre dabei - ganz im Gegensatz zu sonst üblicher anästhesiologischer Vorgehensweise - eine ,,nuru orale Medikation mit guter analgetischer und anxiolytischer Wirkung. Im Vergleich zur intravenösen Verabreichung von Anästhetika/Analgetika verspricht die orale Applikationsform eine unvergleichbar geringere Nebenwirkungs- und vor allem Komplikationsrate. Anxiolytika beeinflussen die emotionale Komponente der Schmerzwahrnehmung; auch für die ESWL konnte dies durch die Arbeit von Mendl und Mitarb. bereits gezeigt werden (21). Vorabendlich wurde daher das lang wirkende Dikaliumclorazepat verabreicht (27). Als orales, stark wirkendes Analgetikum sollte das nicht BTM-pflichtige Tilidin-N eingesetzt werden. Zu diesem Analgetikum liegt eine umfangreiche Literatur vor (14, 15,29,30). Tilidin wird nach enteraler Resorption bei der ersten Leberpassage in das wirksame Nortilidin metabolisiert. Das erklärt den nach oraler Applikation irn Vergleich zur i. V. Gabe sogar höheren Wirkspiegel, der 40 Minuten nach Einnahme sein Maximum erreicht; die Wirkung hält Ca. dreieinhalb Stunden an (17). Die Ergebnisse dieser Studie haben zum einen gezeigt, daß nur 6,7% der Patienten mit vorabendlicher, allein anxiolytischer Prämedikation die ESWL auch nach Modifikation des Lithotriptors als völlig schmerzfrei empfinden, eine analgetische Behandlung also notwendig ist. Zum anderen zeigte die Studie, daß mit oraler Verabreichung von Tilidin-N eine signifikante Reduktion der bei der ESWL entstehenden Schmerzen erreicht wurde. 30°/o der Tilidin-N-Patienten forderten jedoch die intravenöse Gabe des versprochenen Analgetikums an. In unserer Klinik wurden seit Oktober 1986 bis zum heutigen Zeitpunkt (Oktober 1989) außerhalb dieser Studie mit dem hier vorgestellten peroralen anxiolytisch-analgetischen Konzept ESWLBehandlungen bei mehr als 4500 Patienten durchgeführt. Dabei zeigte sich, daß eine zusätzliche Gabe von Fentanyl nur bei weniger als 10% der Patienten erforderlich war. Die höhere Nachinjektionsrate von 30 O/o irn Rahmen dieser Doppelblindstudie erklären sich die Autoren folgendermaßen: Zum einen waren die Patienten durch die Möglichkeit der Gabe von Placebo verunsichert, zum anderen bestand angesichts der unbekannten Behandlungssituation ein erheblicher Anreiz zur prophylaktischen Analgetikaabforderung. In der Psychologie wird diese Handlungsweise von Patienten bzw. Probanden durch die Kontrolltheorien veranschaulicht (16). Dabei lassen sich die Erfahrungen von Lärmstreßmodellen gut auf die Bedingungen der hier vorgestellten Studie übertragen (12). Mit diesen Überlegungen ist der Unterschied zwischen 30% in dieser placebokontrollierten Doppelblindstudie und weniger als 10% in der jetzt standardisierten Anwendung des peroralen anxiolytisch-analgetischen Konzeptes nicht mehr groß.

U. Hankemeier und Mitarb. Bei der Analyse der Ergebnisse md3 eine weitere Auffälligkeit diskutiert werden: Warum wählten alle Patienten beider Behandlungsgruppen, die während der ESWL wegen nicht akzeptabler (,unerträglicheru) Schmerzen zusätzlich Fentanyl abforderten, in den Nachbefragungen nicht die entsprechende Stufe ,,nicht aushaltbarer Schmerzu?Auch für die darunterliegende Stufe ,,unkomfortabel/aushaltbaru schätzten sich nach der ESWL nur 3,3 O/o der Verum- und 8,3 O/o der Placebogruppe ein. Diese Dissonanz ist nicht leicht erklärbar. Wie aus Abb. 1 und 2 ersichtlich, sind die vorgegebenen Schmerzstufen der on-linehbfragung (von ,schmerzfreiu bis ,unerträglicher Schmerz") zwar im Wortsinn, jedoch nicht im Wortlaut identisch mit den Schmerzstufen der follow-up-Befragung (von „schmerzfreiu bis ,nicht aushaltbarer Schmerz"); hieraus läßt sich diese deutliche Dissonanz sicherlich nicht erklären. Ebenso ist eine Fentanyl-bedingte Amnesie wenig wahrscheinlich, da sie bisher nur bei hohen Dosierungen beschrieben wurde (11, 25). Mitbeteiligt an der im nachhinein deutlich geringeren Einschätzung der empfundenen Schmerzen ist sicher das erfolgreiche Behandlungskonzept der Nierensteinzertrümmening und die nachvollziehbar entspanntere Situation wahrend der Nachbefragng. Zusätzliche Aufschlüsse ergeben sich beim Hinzuziehen psychologischer Literatur zu diesem Problem. So beschrieben Festinger ( 6 ) und Abelson (1,2) bereits vor 20 Jahren diese Phänomene mit Hilfe der Dissonanztheorie. Diese außerordentlich positive Einschätzung bei den Nachbefragungen, insbesondere auch der Patienten der Placebogruppe, bestätigt das ethisch vertretbare Design der vorliegenden Studie. Ein wesentlicher Teilaspekt aller Anästhesieverfahren ist die Diskussion der möglichen Komplikationen und zu erwartenden Nebenwirkungen. Anästhesietypische Komplikationen sind bei dem hier vorgestellten Konzept mit oraler Medikation (ohne zusätzliche Gabe von Fentanyl) natürlich nicht zu erwarten. Nebenwirkungen wie Schwindel, Übelkeit oder Erbrechen traten in beiden Gmppen vergleichbar selten auf, sind also nicht unbedingt dem Tilidin-N zuzuordnen. In den drei Fällen von behandlungsbedürftigem Hypertonus in der Placebo-Gruppe war ein ursächlicher Zusammenhang zu Schmerzäußerungen nicht herzustellen. Aus anästhesiologischer Sicht sind atemdepressorische Effekte relevant. Sie sind bei diesem Verfahren mit ausschliel3lich oraler Medikation nicht zu erwarten (9). Im Gegensatz dazu berichten Publikationen von einer Verminderung bzw. Aufhebung morphininduzierter Atemdepressionen durch das im Tilidin-N enthaltene Naloxon (10). Das ergibt bei i. V. Applikation von Fentanyl nach vorheriger Gabe von Tilidin-N einen interessanten Aspekt. Wie die Ergebnisse dieser Studie zeigten, ist nur von einigen Patienten der Placebo-Gruppe (6,7O/o während der ESWL und 11,7% bei den Befragungen nach ESWL) Schmerzfreiheit angegeben worden. Eine 1987 erschienenen Publikation berichtet bereits im Titel von ,,schmerzfreier ESWL" (8). Die inzwischen durch die Modifikation des Lithotriptors aufgekommene Diskussion über eine schmerzfreie ESWL ist sowohl durch die Ergebnisse der vorliegenden Studie als auch bei genauer Betrachtung der zitierten Publikation kaum gerechtfertigt. Alle Patienten dieser Veröffentlichung von Fischer und Mitarb. (8) erhiel-

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146 Anästhesiol. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 26 ( 1

Anäsi rhesiol. Intensivmed. Notfallmed. Schmerzther. 26 (1991)

ten zur ESWL ein i.v. Analgetikum; häufig wurden i.v. Opioide und/oder i. V. Sedative nachinjiziert. Die guten Erfahrungen mit dem oralen anxiolytisch/analgetischen Konzept zur ESWL, die Nebenwirkungsarmut und die Zufriedenheit der Patienten erlauben es, eine weitere Anwendung zu empfehlen. Ein liegender i. V. Zugang sollte die jederzeitige Gabe von Medikamenten ermöglichen. Aus unserer Sicht ist irn gegenwärtigen Stadium der Erfahrung die Anwesenheit eines Anästhesisten erforderlich, zumal auch an anästhesierelevante Komplikationen gedacht werden mui3, die durch das ESWL-Verfahren selbst möglich sind (31, 32). Eine Anwendung des Anaigesiekonzeptes mit Tilidin-N bei anderen schmerzhaften Eingriffen sollte diskutiert werden. Literatur Abelson, R P.: Modes of resolution of believe dilemmas. J. Confl. Resol. 3 (1959) 343 2 Abelson, R P.,E. Aronson, W. J. McGuire, T. M. Newcomb, M. J. Rosenberg, P. H. Tannenbaum: Theones of cognitive consistency: A source book. Rand McNally, Chicago 1968 Aeikens, B., K. W. Fritz, E. Hoehne: Initial experience with local anaesthesia in extracorporeal shock wave lithotripsy. Urol. Int. 41 (1986) 246 4 Daub, D.: Opioid-Analgesie - eine Alternative zur Allgemeinnarkose. Anaesthesist 34 (1985) 489 5 Fair, W. R, V. Malhotra: Extracorporeal shock wave lithotripsy (ESWL) using local infiltration anesthesia. J. Urol. 135 (1986) 181 Festinger, L.: A theory of cognitive dissonante. Stanford University Press, Stanford 1957 Fink, W.. D. Herberhold, W. Biittner. Pain relief by epidural anesthesia for ESWL correlated with anesthetic level. Vortrag beim First International Symposium on Anesthesia and ESWL, München (1986) im Dmck Fischer, N., H. Rübben, S. Hofiäfl, B. Forßmann, B. Schockenhoff, G. Giani: Schmerzfreie ESWL mit dem Dornier Lithotriptor HM 3. Urologe A 26 (1987) 29 9 Geisler, L. S., 1. Kollmeier, H. G. Rohner: Untersuchungen zur Frage der Beeinflussung der Atemhnktion beim Menschen durch Valoron N (Tiidin Naloxon) im Doppelblindversuch gegen Valoron und Placebo. Therapiewoche 28 (1978) 6068 l0 Geisler, L. S., H. D. Rost, F. Vogel: Doppelblindstudie über das Verhalten der Aunung nach intravenöser Verabreichung von Tilidin und Pentozocin. Prakt. Anästh. 10 (1975) 81 1' Celfman, S. S., R H. Gracely, E. J. Driscoll, P. R Wirdzek, J. B. Sweet, D. P. Butler: Conscious sedation with intravenous dmgs: a study of amnesia. J. Oral. Surg. 36 (1978) 191 Glass, D. C., J. E. Singer: Urban stress experiments on noise and social stressors. Academic Press, New York 1972 '3 Hankemeier, U., D. Herberhold: Erste Erfahrungen mit der pero'ralen Gabe von D~kaliumclorazepatund Tilidin-Naloxon zur extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie. Anaesthesist 35 (1986) 757 l4 Herrmann, M., W. Steinbrecher, W. Heldt: Zur Pharmakologie eines neuen wirksamen Analgetikums. h e i m . Forsch. 20 (1970) 977 15 Herrmann, M., H. Bahrmann, V. Ganser, E. Fritschi: The action principle of the combination tilidine plus naloxone. In: Pain measurement in man. Hrsg.: Bromm, B. Elsevier, Amsterdam, New York, Oxford 1984 l6 Irie, M.: Lehrbuch der Sozialpsychologie. Hogrefe, Göttingen 1975 L7 Jähnchen, E.: Pharmacokinetic of tilidine and metabolics. Acta Pharmacol. Ther. (Suppl.) V (Abstract) 1986 I R Lehmann, P., W. Weber, C. Madler, E. Schmitz, K. Peter: Anesthesia and ESWL: Five years of experience. In: Extracorporeal shockwave lithotripsy for renal stone disease. Hrsg.: Gravenstein, J. S., K. Peter. Buttenvorths, Boston, London, Durban, Singapore, Sydney, Toronto, Wellington 1986 19 Loening, S., E. Krarnolowsky, B. Wibughby: Use of local anesthesia for extracorporeal shock wave lithotripsy. J. Urol. 137 (1987) 626

+

147

London, R A., T. Kudlak, R A. Riehie: Immersion anesthesia for extracorporeal shock wave lithotripsy. Urology 28 (1986) 86 21 Mendl, G., C. Madler, W. Schaaf, E. Pöppel: Der Einflug emotionaler Aspekte auf akuten klinischen Schmerz am Beispiel der extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie. In: Beiträge zur Anaesthesiologie, Abstract-Band Nr. 3, Bd. 18, Hrsg.: Bergmann, H., H. Kramar, K. Steinbereithner. Wilhelm Maudrich, Wien, München, Bern 1986 22 Muschter, R, K. R Kutscher, A. Böhk, N. T. Schmeller, P. Renner, G. Bünner, A. G. Hofstetter, S. Hofsäß, B. Forßmann: Die ESWL mit dem Dornier-Lithotriptor HM 3 mit modifiziertem Stoßwellengenerator. Urologe A 26 (1987) 33 Schäfer, R., H. Munkel, W. Scharr Analgosedation: A combination of midazolam and pentazocine for patients undergoing ESWL. Vortrag beim First International Symposium on Anesthesia and ESWL, München 1986 (im Druck) Schockenhoff, B., D. Daub, D. Stadermann, J. Hohaus: Vergleichende Untersuchungen zur postoperativen Phase nach OpioidAnalgesie mit Fentanyl und Alfentanil im Rahmen der extrakorporalen Stoßwellenlithotripsie. Anaesthesist 36 (1987) 69 E Sebel, P. S.: The effects of high dose fentanyl anaesthesia on the electroenceophalogram. Anaesthesia 55 (1980) 932 26 Seeling, W., W. Schwinn: Perception of pain during ESWL under epidural analgesia. A personal experience using two concentrations of bupuvacaine. Votrag beim Fint International Symposium on Anesthesia and ESWL, München 1986 (im Druck) 27 Skubella, U., W. F. Henschel, H. G. Franzke: Abendliche Prämedikation mit Dikaliumclorazepat in der Anästhesiologie - Doppelblindsnidie gegen Diazepam und Placebo. Anästh. Intensivther. Notfallmed. 16 (1981) 327 28 Speedy, H. M., W. J. K. Rickford, J. A. Tytler, M. Lim: A comparative study of general, pendural and spinal anesthesia for extracorporeal shock wave lithotnpsy. Vortrag beim First lnternational Syrnposium on Anesthesia and ESWL, München 1986 (im Druck) 29 Teicher, H., H. G. Stelzer: Valoron in der klinischen Prüfung. Med. Welt 21 (1970) 1456 30 VoUmer, K. O., A. Poisson: Zur Humanpharmakolanetik des neuen, stark wirkenden Analgetikums DL-trans-2-Dimethylamino-1-phenylcyclohex-3-en-trans-l-carbonsäureäthyl-ester-hydrochIorid. Arzneim. Forsch. 20 (1970) 992 31 Weber, W., C. MadLer, P. Schmucker, K. Peter, C. Chaussy: Aspeas of shock wave treatment in patients with cardiac risk. In: Second World Congress on Percutaneous Renal Surgery. Hsg. von Alken, P., R. Hohenfeher, R Demeter Verlag, München-Gräfelfing 1984 32 Weber, W., C. Madkr, B. Keil, B. Pollwein, H. Laubenthal: Cardiovascular effects of ESWL.. In: Extracorporeal shock-wave lithotripsy for renal stone disease. Hrsg.: Gravenstein, J. S., Peter, K. Butterworths, Boston, London, Durban, Singapore, Sydney, Toronto, Wellington 1986 20

"

DY.U. Hankemeier Instimt für Anästhesiologie Ev. Johannes-Krankenhaus Schildescher Straße 99 W4800 Bielefeld 1

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Analgesie mit Gabe von Tilidin-Naloxon

[Analgesia using oral administration of tilidine naloxone for extracorporeal shockwave lithotripsy. A double blind study].

Reduction in pain perception during ESWL due to a technical modification of the lithotriptor was expected and prompted a reassessment of anaesthesia t...
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