Originalien Anaesthesist 2014 · 63:23–31 DOI 10.1007/s00101-013-2260-0 Eingegangen: 14. März 2013 Überarbeitet: 13. August 2013 Angenommen: 22. September 2013 Online publiziert: 9. Januar 2014 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2014

J.C. Brokmann1 · T. Grützmann2 · A.K. Pidun3 · D. Groß2 · R. Rossaint4 · S.K. Beckers4, 5 · A.T. May6 1 Zentrale Notaufnahme, Uniklinik RWTH Aachen 2 Institut für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin, Universitätsklinikum Aachen 3 Klinik für Innere Medizin, Bethlehem Krankenhaus Stolberg 4 Klinik für Anästhesiologie, Uniklinik RWTH Aachen 5 Rettungsdienst Stadt Aachen, Berufsfeuerwehr Aachen 6 Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg

Vorsorgedokumente in der präklinischen Notfallmedizin Prospektive fragebogenbasierte Analyse

Wird der dokumentierte Patientenwille in der präklinischen Notfallmedizin nicht berücksichtigt, kann dies positiv für den Patienten sein, wenn die Vorsorgedokumente (VD) nicht dem aktuellen Willen und der gegebenen Situation des Patienten entsprechen. Nicht zu rechtfertigen ist aber die Missachtung von VD, wenn diese zweifelsfrei den Patientenwillen beschreiben und auf die aktuelle Situation zutreffen. Voraussetzung für die frühzeitige und ausreichende Berücksichtigung des Patientenwillens sind jedoch nicht nur aktuelle, sondern auch praktikable VD, die dem Notarzt in der häufig kurzen, zur Verfügung stehenden Zeit eine Entscheidung ermöglichen. Nur praktikable VD gewährleisten die Handlungs- und Rechtssicherheit für das Rettungsdienstteam sowie die Selbstbestimmung des Patienten in Notfallsituationen.

Hintergrund Durch die gesetzliche Regelung zur Patientenverfügung (PV) vom 01.09.2009 wurde Klarheit hinsichtlich der Wirksamkeitsvoraussetzungen und Umsetzung des

verfügten Patientenwillens geschaffen [1, 2]. Damit sind sowohl für den Patienten als auch für Behandler klare Rahmenbedingungen normiert. Doch nicht alle Detailfragen sind mit rechtlicher Hilfe zu lösen. In vielen Situationen bedarf es praktischer Lösungsansätze, so auch im Umgang mit PV in der präklinischen Notfallmedizin [3, 4]. Der Umgang mit VD ist in der Notfallmedizin von großer Unsicherheit geprägt [5, 6]. In Situationen, in denen der Notarzt aufgrund der Schwere einer Erkrankung oder Verletzung schnell entscheiden muss, werden mehrere hochanspruchsvolle Fertigkeiten gleichzeitig von ihm eingefordert. Für ihn entsteht ein Konflikt: Einerseits kann die Analyse des Patientenwillens zu einer Verzögerung der medizinischen Versorgung und damit zu einer weiteren Verschlechterung des Gesundheitszustands führen, und andererseits hat er sich – unbeschadet aller Bemühungen um die Ermittlung und Respektierung des Patientenwillens – im Zweifel für die Versorgung des Patienten gemäß der medizinischen Indikation zu entscheiden („in dubio pro vita“, [5]). Ziel sollte es sein, ein höchstmögliches Maß an Patientenselbstbestimmung in der Notfallversorgung zu gewährleisten

und dem Patientenwunsch bereits in der ersten Phase der medizinischen Versorgung zu entsprechen [8]. Ebenso müssen Notärzte für die verschiedenen rechtlichen und ethischen Aspekte zum Umgang mit PV sensibilisiert werden, um so ihre Handlungs- und Rechtssicherheit zu erhöhen. In Deutschland ist weitgehend unbekannt, wie häufig VD bei notärztlichen Einsätzen vorhanden, wie gut sie formuliert und wie sie auf die vorgefundene Situation anwendbar sind [9]. Daher sollte mit der vorliegenden Studie geklärt werden, wie häufig VD in der präklinischen Notfallsituation verfügbar sind und wie deren Praktikabilität sowie Anwendbarkeit auf die Akutsituation eingeschätzt werden. Weiterhin galt es zu untersuchen, wie die Reaktion der Patienten, Angehörigen und Pflegenden auf die Frage nach VD in der Notfallsituation ausfällt. Dabei sollte zugleich ermittelt werden, welchen Stellenwert die VD für diese Personengruppen haben.

Analyse Die Studie wurde nach Genehmigung durch die lokale Ethikkommission als prospektive, fragebogenbasierte UnterDer Anaesthesist 1 · 2014 

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Originalien Erhebungsbogen zu Patientenverfügungen im Rettungsdienst Einsatznummer:_______________

Notarztindikation NACA Score ____ Patientenverfügung

Ja /

Nein

Reaktion auf Frage nach Vorsorgedokumenten (Vorsorgevollmacht, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung) durch Patienten: ablehnend

1

2

positiv

3

4

5

6

durch Angehörige ablehnend

1

2

3

5

6

7

8

9

8

ablehnend

positiv

4

7

1

10

2

9

10

durch Pflegende 3

4

5

6

7

positiv

8

9

10

Vorgelegte Dokumente zum Zeitpunkt vor / während / nach Einleitung, Erhalten der Vitalfunktionen, wenn durchgeführt auf Nachfrage Hinweiskarte auf an anderen Orten aufzufindende Dokumente Vorsorgevollmacht Muster benutzt (Organisation, Autor etc. bitte angeben) ______________________________ Umfang bis 2 Seiten bis 5 Seiten / 5–10 Seiten / über 10 Seiten unterschrieben am: ________________ notariell beurkundet Zeugen ausführlich gemäß § 1904 II BGB (der Bevollmächtigte darf auch Entscheidungen treffen, wenn Gefahr für das Leben besteht oder ein schwerer oder möglicherweise länger andauernder Schaden auftreten könnte) Betreuungsverfügung/ Betreuer ist schon vom Vormundschaftsgericht bestellt Muster benutzt (bitte angeben)______________________________ Umfang bis 2 Seiten bis 5 Seiten / 5–10 Seiten / über 10 Seiten unterschrieben am: ________________ notariell beurkundet Zeugen Patientenverfügung Zeitaufwand des Lesens der Patientenverfügung: unter 2 min. / 2–5 min. / über 5 min. Muster benutzt (bitte angeben)______________________________ unterschrieben am: ______________ aktualisiert am: ________________ Zeugen dokumentierte ärztliche Beratung Reichweite vorgegeben (wenn andere Begriffe benutzt werden, bitte angeben) Einwilligungsunfähigkeit Demenz Hirnschädigung chronisches apallisches Syndrom („Wachkoma“) Endstadium einer tödlich verlaufenden Krankheit Sterbephase konkrete Behandlungsoptionen angesprochen (bitte Stichwörter) ____________________ Hinweis auf Reanimation Hinweis auf mögliches Risiko durch Patientenverfügungen Hinweis auf Palliativmedizin/Schmerztherapie Hinweis auf möglicherweise lebensverkürzende Schmerztherapie Hinweis auf mögliche Konfliktsituationen durch Äußerung des natürlichen Willens, dem die Patientenverfügung entgegensteht Regelung der Entscheidungshierarchie zwischen Patientenverfügung und natürlichem Willen Regelung, wer im Konfliktfall entscheiden soll Notfallplan Notfallbogen Vorgaben zum Eintragen von Medikamenten Hinweis auf Organspende Berücksichtigung der Patientenverfügung während der CPR nach Ende der Einleitung der Erhaltung der Vitalfunktionen Wie hilfreich war die Patientenverfügung für Sie? Nicht hilfreich

1

2

3

4

5

6

7

sehr hilfreich

8

9

10

Schwierigkeiten mit der vorgelegten Patientenverfügung: Prüfung der Authentizität Muster benutzt unklare Formulierungen Umfang Identität unklar Widersprüche bei der Ermittlung des mutmaßlichen Willens zur Patientenverfügung durch: Angehörige Pflegende ______________ Einfluss der Patientenverfügung auf Krankenhauseinweisung Verweildauer an der Einsatzstelle Wahl des Krankenhauses Universitätsklinik Aachen anderes Krankenhaus Kommentare / Anmerkungen:

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Abb. 1 9 Erhebungsbogen zu Vorsorgedokumenten im Rettungsdienst. CPR „cardiopulmonary resuscitation“

suchung durchgeführt. Mithilfe eines Erhebungsbogens (. Abb. 1), der dem Notarztprotokoll (DIVI 4.2) beigefügt war, wurden die vom Notarzt behandelten Patienten in einem Rettungsdienstbereich im Zeitraum von 12 Monaten (Dezember 2007 bis Dezember 2008) über das Vorhandensein von VD standardisiert befragt. Sowohl die Reaktionen der Patienten, der Angehörigen und der Pflegenden auf die Nachfrage nach VD als auch die Beachtung ihrer vorgelegten Dokumente durch das Notarztteam und mögliche auftretende Probleme wurden in einem Fragebogen (. Abb. 1) dokumentiert. Die Daten wurden durch die Notärzte (n=62) selbst während und nach dem Einsatz erhoben. Diese verfügten über folgende Mindestqualifikation: 3-jährige Berufserfahrung in der Anästhesiologie (davon mindestens einjährige Tätigkeit auf einer Intensivstation) und Fachkundenachweis „Arzt im Rettungsdienst“. Die Antwortmöglichkeiten waren: 1) freie Form, 2) „Ja“, 3) „Nein“, 4) „Weiß nicht“. Darüber hinaus konnten einige Fragen anhand einer 10-stufigen numerischen Rating-Skala (NRS) beantwortet werden. Die Reaktionen der Patienten, ihrer Angehörigen bzw. der Pflegenden auf die Nachfrage nach möglichen VD durch den Notarzt wurden beispielsweise auf der NRS von 1 bis 10 notiert: „1“ bezeichnete hierbei eine massiv ablehnende Haltung und „10“ eine sehr positive Reaktion auf die Nachfrage. In die Studie wurden Notfallpatienten über 18 Jahren aufgenommen. Fragebogen, die nicht im Erhebungszeitraum abgegeben, unvollständig ausgefüllt waren oder keinem Einsatz zugeordnet werden konnten, wurden ausgeschlossen (Dropout-Kriterien). Als mögliche Limitation der Untersuchung ist zu berücksichtigen, dass nach Abschluss der Erhebung zum 01.09.2009 das Gesetz zu Patientenverfügungen in Kraft getreten ist. Zwei der Autoren haben als Notärzte aktiv an der Erhebung (n

[Advance directives in prehospital emergency treatment : prospective questionnaire-based analysis].

The handling of advance directives (AD) in prehospital emergency treatment in Germany is characterized by instability. In the project "Advance directi...
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