Leitthema Med Klin Intensivmed Notfmed DOI 10.1007/s00063-015-0007-1 Eingegangen: 15. Oktober 2014 Angenommen: 22. Dezember 2014

R. Wildenauer

© Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015

Dos and Don’ts für Kristalloide in der Intensivmedizin

Redaktion G. Marx, Aachen

Klinik und Poliklinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäß- und Kinderchirurgie, Universitätsklinikum Würzburg, Würzburg, Deutschland

Kann zu viel Wasser schlecht sein? Die Hypovolämie ist ein auf Intensivstationen häufig anzutreffendes Krankheitsbild – manchmal als septisch bedingter primärer Aufnahmegrund, manchmal auch als Komplikation im Rahmen einer anderen Behandlung. Nicht zuletzt seit der Rivers-Studie und der Einführung der „early goal directed therapy“ (EGDT; [1]) ist die Aufrechterhaltung der Mikrozirkulation und Organperfusion mittels Kristalloiden ein allzu bekanntes Vorgehen. Andererseits muss aber auch der Grundbedarf des Organismus oder verlorene Flüssigkeit gedeckt werden – auch hierzu bedient man sich meist der Kristalloide.

Volumenstatus des Organismus Als Allererstes wird die Gabe von kristalliner Infusionslösung mit Hypovolämie, also dem Ersatz intravasalen Volumenmangels, in Verbindung gebracht. Auf der Intensivstation kommen jedoch Flüssigkeiten bei der Deckung des Grund-/Basisbedarfs, der Ernährung, dem Medikamententransport oder bei der Bilanzierung zum Einsatz.

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Die Definition der idealen Infusionslösung ist schwierig Leider ist es immer noch sehr schwierig, die ideale Infusionslösung zu definieren bzw. das One-fits-all-Kristalloid zu erfinden. Historisch entwickelten sich die Kristalloide aus der Zufuhr von intravenösen Salzlösungen, als die Cholera in den 1830er-Jahren zu deutlicher Exsikkose

führte [2]. Im Speziellen führte der Natriumanteil der damals erhältlichen Gebinde anfangs zu einer massiven Natriumbelastung, die nur durch die rekonvaleszente Niere wieder normalisiert bzw. ausgeschieden werden konnte. So zeigte z. B. eine britische retrospektive Studie im Jahr 1997, dass postoperative Patienten häufig einen Volumenüberschuss von bis zu 7 l und einen Natriumüberschuss bis zu 700 mmol in den ersten Tagen hatten [3]. Die stete Angst vor der Hypovolämie und das fast blinde Vertrauen auf die Möglichkeit des Organismus, überschüssiges Wasser auszuscheiden, resultieren auf Intensivstationen gerne in Pleuraergüssen, Lungenödemen, intestinaler Paralyse, peripheren Ödemen, „cardiocirculatory overload“, Anastomoseninsuffizienzen, Wundheilungsstörungen und verlängern damit zuletzt den Krankenhausaufenthalt [4]. Angetrieben wird diese Einstellung gerne durch die Vermutung, der nüchterne/fastende oder präoperative Patient würde mit einem Volumenmangel die Intensivstation oder den Operationssaal erreichen. Jedoch kommt es nur zu einem Verlust durch die sog. Perspiratio insensibilis von 0,5 ml/kgKG/h (beim Erwachsenen) und die Urinproduktion – vergleichbar mit einem schlafenden Menschen, der während der Nacht ja ebenfalls keine kontinuierliche kristalline Lösung appliziert bekommt [5]. Sogar die maximale Eventeration führt intraoperativ nur zu einem zusätzlichen maximalen Verlust von 0,5 ml/kgKG/h [6] – wohlgemerkt ohne größeren intraoperativen

Blutverlust oder massive Flüssigkeitsverschiebung durch Barrierestörungen, wie in der Sepsis. Gerne verließ man sich auch auf die Fähigkeit der Niere, eben diese gewollte Hypervolämie rasch auszugleichen oder die Inzidenz eines Nierenversagens durch großzügige Volumenapplikation zu senken. Leider vergaß man dabei u. a. die evolutionsbedingte Fähigkeit des Organismus, eher flüssigkeits- und salzsparend zu agieren (. Abb. 1): Die Fähigkeit der Niere, durch Suppression des ReninAngiotensin-Aldosteron-Systems überflüssiges Volumen auszuscheiden, adaptiert sich nur langsam über mehrere Tage, während die erhöhte Ausschüttung des antrialen natriuretischen Faktors nur kurzfristig ist [7]. Im Gegensatz zu Kolloiden verhalten sich Kristalloide nach Applikation anders.

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Kristalloide verteilen sich auf den gesamten Extrazellulärraum Sie verteilen sich auf den gesamten Extrazellulärraum (etwa 15 l bei einem 70 kg schweren Menschen); das Plasmawasser (intravasales Volumen) beträgt davon etwa 20 %. Aufgrund dieses 4:1-Verhältnisses von interstitiellem zu intravasalem Volumen führt die Infusion von 1 l isotoner kristalliner Lösung bei einem Gesunden zu einer intravasalen Zunahme von 200 ml. Bei einem Hämodilutionsversuch erzeugte eine Ringer-Laktat-Lösung einen Volumeneffekt von 17 ± 10 % und führte zu einer beeindruckenden Flüssigkeitsansammlung im Interstitium [8]. Erst durch die Applikation einer 5 %igen

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Leitthema

Abb. 1  9 Flüssigkeitsregulation durch das ReninAngiotensin-AldosteronSystem

Kristalline Infusionslösung Auswahl

Abb. 2 8 Kristalline Infusionslösungen im Stationsalltag

Humanalbuminlösung konnte das intravasale Volumen wieder korrigiert werden. Wie man sieht, sind also die Mythen bezüglich der „physiologischen“ oder intraoperativen Flüssigkeitssubstitution von bis zu 15 ml/kgKG/h, die gerne in Lehrbüchern propagiert werden, tatsächlich nichts als (gefährlicher) Irrglaube!

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Nach der Feststellung und endpunktorientierten Steuerung, ob der intensivmedizinisch erkrankte Patient tatsächlich an Volumenmangel leidet (s. hierzu einen gesonderten Beitrag im selben Themenheft), muss als Nächstes entschieden werden, welches Kristalloid ausgewählt wird. Die Therapie mit Kolloiden und deren Indikationen wird ebenfalls an anderer Stelle im vorliegenden Themenheft abgehandelt. In Deutschland sind in den vergangenen Jahren viele verschiedene kristalline Infusionslösungen in Gebrauch gekommen (. Abb. 2), gleichwohl zur Bilanzierung wie zur Deckung des Basisbedarfs. Die Aufrechterhaltung der Homöostase zwischen Intra- und Extrazellulärraum sowie der Austausch der frei beweglichen Bestandteile zwischen Intravasalraum und Interstitium (= Extrazellulärraum) ist jedoch bei den unterschiedlichen Kristalloiden nicht vergleichbar, da meist sehr differente Zusammensetzungen (z. B. Osmolarität, kolloidosmotischer Druck, Elektrolyte und pH-Wert) bestehen.

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Die Kationen entsprechen weitestgehend dem Plasmawasser, das Hydrogenkarbonat wird aus galenischen Gründen durch dessen Vorläufer Laktat, Azetat oder Malat ersetzt. Da die physiologischen Proteinat-Anionen (etwa 20 mmol/l) den Kristalloiden nicht zugesetzt werden können, handelt es sich derzeit um hyperchlorische (erhöhter Zusatz von Chloridanionen), hypotone (verminderte Kationenkonzentration) oder alkalisierende (erhöhte Basenkonzentration) Zubereitungen bzw. um eine Kombination derselben (. Tab. 1, [9]).

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Bei unterschiedlichen Kristalloiden bestehen meist differente Zusammensetzungen Die am häufigsten zu treffende Entscheidung auf Intensivstationen ist die zwischen der Verwendung von unbalancierten oder balancierten isotonen Kristalloiden (also zwischen „physiologischer“ 0,9 %iger Kochsalz-/Natriumchlorid(NaCl)-Lösung oder z. B. malatbasierten isotonen Vollelektrolytlösungen). Es gilt mittlerweile als erwiesen, dass die Verwendung hochchloridhaltiger Lösungen mit Hyperchlo-

Zusammenfassung · Abstract rämie, Acidose, Infektion oder Nierendysfunktion und dadurch erhöhter Sterblichkeit vergesellschaftet ist [10]. Eine klinisch relevante Unterlegenheit findet sich speziell im intensivmedizinischen Krankengut, sodass mehr hyperchlorämische Acidosen bzw. eine höhere Inzidenz an Nierenversagen mit Dialysepflichtigkeit vorkommt [11, 12]. Zusätzlich soll diese Acidose Einfluss auf die Hämostase, gastrointestinale und kognitive Funktion haben. Statistisch relevante Unterschiede zwischen einzelnen balancierten Vollelektrolytlösungen fanden sich in den wenigen dazu erschienen Publikationen nicht, was möglicherweise tatsächlichen Effekten einzelner Zubereitungen zu wenig Beachtung schenkt. Ein Austausch des Laktats durch andere ubiquitär metabolisierbare Anionen, wie Azetat oder Malat, lässt bestenfalls eine verminderte Beeinträchtigung des Surrogatwerts Laktat vermuten; ausreichende Daten dazu liegen ebenfalls (noch) nicht vor. Die Verwendung einer hypertonen NaCl-Lösung (7–7,5 %) ist als „small volume resuscitation“ möglich und bestätigt auch eine günstigere Flüssigkeitsbilanz bei erniedrigter Letalität, hat jedoch ebenfalls deutliche Auswirkungen auf den Natriumspiegel. Die Studienlage dazu ist sehr überschaubar [13] und das spezifische Indikationsgebiet klein (Verbrennung, Schädel-Hirn-Trauma, Trauma).

Anwendung auf der Intensivstation Indikationen

Folgende Indikationen begründen die Gabe von Kristalloiden auf der Intensivstation: 55Hypovolämie – Ersatz mit balancierten isotonen Kristalloiden, zusätzlich ggf. Blutprodukte oder Volumenexpander; 55Normovolämie – Aufrechterhaltung des täglichen Verbrauchs (Flüssigkeit 1500–2400 ml pro Tag, Natrium 50– 100 ml pro Tag, Kalium 40–80 ml pro Tag) mit kochsalzarmer isotoner balancierter kristalliner Lösung; 55Hypervolämie – Reduktion der kristallinen Flüssigkeitszufuhr und dadurch der Natriumzufuhr notwendig.

Med Klin Intensivmed Notfmed  DOI 10.1007/s00063-015-0007-1 © Springer-Verlag Berlin Heidelberg 2015 R. Wildenauer

Dos and Don’ts für Kristalloide in der Intensivmedizin. Kann zu viel Wasser schlecht sein? Zusammenfassung Ungeachtet der Verwendung von Kolloiden haben Kristalloide in der heutigen Intensivmedizin einen festen Stellenwert: Neben der Substitution als Basisbedarf des Organismus oder Medikamententräger werden sie primär zum Volumenersatz verwendet. Eine häufige Komplikation ist die Entwicklung von interstitiellen Ödemen, was in der Zusammensetzung dieser Lösungen und der Permeabilität der Glykokalyx liegt. Bei der Vielzahl auf dem Markt befindlicher Varianten haben sich mittlerweile die auf Bikarbonatvorläufer basierenden isotonen balancierten Vollelektrolytlösungen

herauskristallisiert. Die Verwendung von 0,9 %iger Kochsalzlösung ist inzwischen als obsolet anzusehen. Bei niedrigen Anschaffungskosten und gutem Sicherheitsprofil sind in der Anwendung von Kristalloiden wenige relevante Dinge, wie die Gefahr der Hypervolämie und Dysbalance des Elektrolythaushalts, zu beachten. Schlüsselwörter Volumentherapie · Glykokalyx · Hypovolämie · Hypervolämie · Wasser-Elektrolyt-Haushalt

Dos and don’ts for crystalloids in intensive care medicine. Can too much water be bad? Abstract Notwithstanding the use of colloids, crystalloids have a firm position in today’s inten­ sive care: In addition to the substitution as a basic requirement of the human organism or drug carriers, they are primarily used for volume replacement. A common complication is the development of interstitial edema, which is due to the composition of these solutions and the permeability of the glycocalyx. With the large variety available on the market, bicarbonate-based precursor isotonic-balanced full electrolyte solutions ha-

Größte Therapiefehler

Die größten Fehler in der Therapie mit Kristalloiden auf der Intensivstation bestehen in: 55Weiterführung von Flüssigkeitsersatz bei Normovolämie bzw. möglicher enteraler Nahrungszufuhr; 55fehlender regelmäßiger Kontrolle der zugeführten Flüssigkeitsvolumina; 55Zufuhr von natriumreicher Flüssigkeit (im Besonderen bei verminderter Natriurese): zzZiel muss gerade bei postoperativen Ödemen durch Auffüllen des intravasalen Volumenmangels eine negative Flüssigkeits- und Natriumbilanz sein;

ve become established in the meantime. The use of 0.9 % saline solution is regarded as obsolete. With low cost and a good safety profile, a few relevant aspects, e.g., the risk of hypervolemia and electrolyte imbalance, must be taken into account in the use of crystalloids. Keywords Fluid therapy · Glycocalyx · Hypovolemia · Hypervolemia · Water-electrolyte balance

55Vernachlässigung der Zufuhr von Kristalloiden als Trägersubstanzen bei der Applikation von Medikamenten; 55Zufuhr von 0,9 %iger NaCl-Lösung bei Niereninsuffizienz. Bei der chronischen erst- bis drittgradigen Niereninsuffizienz ist die Kaliumzufuhr bei balancierten Kristalloiden bei gleichbleibender Kaliumexkretion vernachlässigbar. Bei zunehmender Niereninsuffizienz (Stadium IV und V) ist neben der erhöhten Kaliumretention die Natrium- und Chloridretention jedoch deutlich höher: Die durch NaCl induzierte metabolische Acidose führt zu einer Verschiebung intrazellulären Kaliums in den

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Leitthema Tab. 1  Unterschiedliche in Deutschland verfügbare Kristalloidlösungen (Auswahl) Elektrolyte (mmol/l) Natrium Kalium Chlorid Kalzium Magnesium Bikarbonat Laktat Azetat Gluconat Malat Osmolarität (mOsm/l)

Plasma 0,9 %ige NaClLösung 140 154 5 0 100 154 2,2 0 1 0

Ringer-Lak- Ringertat-Lösung Lösung (Hartmann) 131 147 5 4 111 156 2 2,3 1 0

Sterofun- Deltadin®Iso jonin®

Jono­ steril®

Tutofusin®

140 4 127 2,5 1

140 4 106 2,5 1

137 4 110 1,65 1,25

140 5 153 2,5 1,5

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1 0 0 0 275– 320

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0 36,8 0 0 291

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Extrazellulärraum und höherer Morbidität [14].

Die Rolle der Glykokalyx Die 0,2–2 µm dicke endotheliale Glykokalyx (.   Abb.  3) ist ein negativ geladenes Netz von membrangebundenen Glykoproteinen und Proteoglykanen (Syndecan 1 und Glypican) an der Lumenseite des Gefäßendothels, untereinander verknüpft mit unterschiedlichen heparinähnlichen Mukopolysacchariden, i. e. Glykosaminoglykane (GAG): u. a. Heparansulfat, Hyaluronsäure und Chondroi­ tinsulfat; [15]).

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Die Glykokalyx bildet die Schnittstelle zwischen Blut und Endothel Sie ist die Schnittstelle zwischen Blut und Endothel, bis zu einem Molekülgewicht von 70 kDa semipermeabel und beinhaltet in einem gesunden Individuum etwa 1700 ml Flüssigkeit [16]. Im Gegensatz zum althergebrachten und weiter gelehrten Starling-Modell spielt anscheinend der kolloidosmotische Druckgradient (KOD) zwischen Intravasalraum und Interstitium (basierend auf der jeweiligen Proteinkonzentration) weniger eine Rolle als die Integrität der Glykokalyx („no absorption rule“). Sie fungiert als Molekülfilter und baut dadurch das „endotheliale surface la-

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Damit ist klar, dass es den „Volumeneffekt“ eines spezifischen Präparats nicht geben kann – er ist abhängig vom Volumenstatus und immer kontextsensitiv.

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Ein Volumeneffekt ist immer vom Volumenstatus abhängig und immer kontextsensitiv Dazu passt die Beobachtung, dass unter Berücksichtigung eines mehrtägigen Zeitraums nur die 1,2–1,4-fache kumulative Menge an Kristalloiden im Vergleich zu Kolloiden bei septischen Patienten zugeführt werden musste [20].

Spezielle Indikationen für die Kristalloidtherapie yer“ (ESL) auf [17]. Wohl eher bildet sich der relevante KOD zwischen der Glykokalyx und dem schmalen, noch intravasal gelegenen Spalt direkt unterhalb derselben aus. Der KOD des Interstitiums scheint sich nicht sehr von dem PlasmaKOD zu unterscheiden. Bei Schädigung der Glykokalyx – „shedding“ oder „fragmentation“ genannt – kommt es durch die Verminderung oder Zerstörung sowie Veränderung der Durchlässigkeit dieser Barriere zu einem messbaren Anstieg der GAG im Plasma und zur Extravasation von Makromolekülen (v. a. Albumin), Plättchenaggregation und Leukozytenadhäsion. Auslöser können chirurgischer/operativer Stress, Minderperfusion, Hyperglykämie, Trauma und auch Sepsis sein. Zuletzt kommt es zur Ausbildung der bekannten interstitiellen Ödeme [18]. Worin besteht nun der Zusammenhang zwischen dem Zusammenbruch der Glykokalyx und der Applikation von Kristalloiden auf der Intensivstation? Neuerdings stellte sich heraus, dass die Freisetzung von atrialem natriuretischem Faktor (ANF) aus den Vorhöfen bei Hypervolämie ebenfalls zu einer Fragmentation des ESL führt [19]: Werden kristalline und auch kolloidale Lösungen einem normovolämen Kreislauf zugeführt, kommt es innerhalb kürzester Zeit zu einer Extravasation ins Interstitium, einem verschwindend geringen Volumeneffekt und einer Abnahme des ESL.

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Blutverlust Bei der schweren Hypovolämie durch massiven Blutverlust ist die Aufrechterhaltung der Sauerstoffversorgung des Organismus oberstes Gebot. Durch übermäßige Volumengabe kann es zu einer Aggravation der Blutung und zunehmender Dilutions- bzw. Verlustkoagulopathie kommen. Eventuell ist eine kurzfristige permissive Hypotension sinnvoll, falls Zeit zur chirurgischen oder interventionellen Versorgung gewonnen werden muss. Nach Blutstillung ist die Wiederherstellung der Normovolämie rasch vonnöten, um etwaige Gewebehypoxien zu vermeiden. Hierbei ist neben der ausreichenden Therapie mit Kristalloiden die kurzfristige Gabe von Hydroxyethylstärke bei therapierefraktärer Hypotension zugelassen (Pharmacovigilance Risk Assessment Committee/European Medicines Agency, November 2013).

Septischer Schock Außerhalb der Gabe von Vasopressoren zur Therapie der toxischen Vasoplegie (relative Hypovolämie) ist die Aufrechterhaltung eines ausreichenden intravasalen Volumens (absolute Hypovolämie) notwendig. In Abhängigkeit vom sinnvollen erweiterten hämodynamischen Monitoring ist häufig eine erschreckend große Menge an Kristalloiden notwendig, um eine Gewebedysoxie zu vermeiden. Nachteil die-

Abb. 3 8 Hochauflösende vergrößerte Darstellung der endothelialen Glykokalyx unter Normalbedingungen. (Aus [23])

ser massiven Flüssigkeitsbelastung ist die Extravasation von Proteinen und Flüssigkeit ins Interstitium und die Entwicklung von Ödemen aufgrund des veränderten ESL. Dennoch zeigt auch die Volumensteuerung anhand der frühen zielorientierten Therapie (EGDT), im Vergleich zur üblichen Behandlung, keinen signifikanten Unterschied im Hinblick auf appliziertes Volumen oder Outcome [21].

„Acute respiratory distress syndrome“/„acute lung injury“ Beim „acute respiratory distress syndrome“ (ARDS) ist die alveolokapilläre Membran aufgrund pulmonaler oder extrapulmonaler Ursachen schwer geschädigt: Nach Wiederherstellung der (häufig fehlenden) Normovolämie ist eine liberale Flüssigkeitstherapie zu vermeiden, da sie die Morbidität deutlich erhöht. Es gibt zudem schwache Hinweise darauf, dass die Applikation von Albumin im Gegensatz zu Kristalloiden die Beatmungsdauer reduziert [22].

ethylstärke in großen Studien herauskristallisiert. 55Durch erweitertes hämodynamisches Monitoring ist der Volumenstatus regelmäßig zu kontrollieren, um eine Hypervolämie mit der raschen Entwicklung interstitieller Ödeme zu vermeiden. 55In der vor Kurzem erschienenen S3Leitlinie „Volumentherapie“ (http:// www.awmf.org/leitlinien/detail/ ll/001-020.html. Zugegriffen: 15. Oktober 2014) werden die Empfehlungen wie folgt zusammengefasst: 11Prinzipiell sollte der Volumenersatz beim Intensivpatienten mit kristalloiden Lösungen erfolgen, „grade of recommendation“ (GoR) B. 11Zum Volumenersatz sollen bei kritisch kranken Intensivpatienten balancierte isotone Vollelektrolytlösungen verwendet werden (GoR A). 11Balancierte Vollelektrolytlösungen mit Azetat oder Malat statt Laktat können zum Volumenersatz bei kritisch kranken Intensivpatienten zum Einsatz kommen (GoR 0). 11Isotone Kochsalzlösung soll zum Volumenersatz in der Intensivmedizin nicht verwendet werden (GoR A).

Korrespondenzadresse Dr. R. Wildenauer Klinik und Poliklinik für Allgemein-, Viszeral-, Gefäßund Kinderchirurgie Universitätsklinikum Würzburg, Oberdürrbacher Straße 6, 97080 Würzburg [email protected]

Fazit für die Praxis 55Als Volumenersatz auf einer Intensivstation jedweder Disziplin ist isotone, balancierte kristalline Infusionslösung das Mittel der Wahl: Niedrige Kosten, gepaart mit jederzeitiger Verfügbarkeit, rasche Applikation, keine allergene Potenz sind nur einige Vorteile. Zudem haben sich höhere Überlebenschancen und weniger Nebenwirkungen im Vergleich zu Hydroxy-

Einhaltung ethischer Richtlinien Interessenkonflikt.  R. Wildenauer gibt an, Vortragshonorare und Reisekostenerstattungen von CSL Behring GmbH erhalten zu haben und Inhaber von Aktien der Fresenius SE & Co. KGaA zu sein. Dieser Beitrag beinhaltet keine Studien an Menschen oder Tieren.

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