2.492.

Lohrmann: Differentialdiagnose der Thrombozytopenien

Aktuelle Diagnostik

Deutsche Medizinische Wochenschrift

Redaktion: Prof. Dr. H. Hornbostel, Hamburg Prof. Dr. W. Kaufmann, Köln Prof. Dr. W. Siegenthaler, Zürich

Dtsch. med. Wschr. 100 (1975), 2492-2494

© Georg Thieme Verlag, Stuttgart

Differentialdiagnose der Thrombozytopenien

H.-P. Lohrmann

Petechien, flächenhafte Hautblutungen, neu auftretendes Nasen- oder Zahnfleischbluten sowie alle unklaren Blutungen der Verdauungs-, Atem- und Urogenitalorgane müssen Anlaß sein, die Thrombozytenkonzentration des Blutes zu überprüfen. Semiquantitativ läßt sich die Thrombozytenzahl bereits aus einem mit EDTA-Blut angefertigten Blutausstrich beurteilen; für exakte Bestimmungen stehen phasenkonstrastmikroskopische Zählkammermethoden (3) oder elektronische Zähigeräte zur Verfügung. Die Kenntnis der normalen Thrombozytenkinetik erleichtert das Verständnis der Pathomechanismen, die zu einer Thrombozytopenie führen können. Thrombozyten werden von den Megakaryozyten des Knochenmarks gebildet. Jugendliche, frisch ins Blut entlassene Thrombozyten sind größer als gealterte Thrombozyten (7). Nach einer Lebenszeit von 8-10 Tagen werden die Thrombozyten altersabhängig in Zellen des retikuloendothelialen Systems abgebaut. Nur etwa 70% aller Thrombozyten zirkulieren frei im Blut; die restlichen 30% gehören dem »Milzpool« an. Diese in der roten Pulpa der Milz lagernden Thrombozyten sind hier jedoch nicht irreversibel sequestriert, sondern stehen im Austausch mit den frei zirkulierenden Thrombozyten des Blutes (2). Ein in seinen Einzelheiten nicht bekanntes Regelsystem gleicht beim Gesunden die Thrombozytenbildung dem Thrombozytenabbau an und hält so die Thrombozytenkonzentration des Blutes innerhalb der normalen Grenzen. Eine Thrombozytopenie kann entstehen 1. bei verminderter Thrombozytenbildung, 2. bei Verkürzung der Lebenszeit der Thrombozyten durch vorzeitigen Abbau bzw. Verbrauch, 3. bei einer Verteilungsstörung, indem ein abnorm hoher Anteil der Gesamtmenge der Thrombozyten dem Milzpool angehört. Bei den Störungen der Thrombozytenbildung ist die Thrombozytopenie das Ergebnis einer Verminderung der Gesamtzahl der Megakaryozyten (wenn man von den seltenen Fällen einer ineffektiven Thrombozytopoese absieht). Diese Verminderung der Megakaryozyten läßt sich semiquantitativ aus deren Dichte in Knochenmarksausstrichen oder -biopsien beurteilen. Vorzeitiger Thrombozytenabbau führt zu reaktiver Thrombozytenmehrbildung; eine Thrombozytopenie kann sich hier nur dann

entwickeln, wenn durch die gesteigerte Thrombozytenbildung der vorzeitige Thrombozytenabbau nicht kompensiert wird. Die Steigerung der Thrombozytopoese läßt sich aus der oft starken Vermehrung von Megakaryozyten im Mark erkennen, wobei das Auftreten »junger«, einkerniger Formen charakteristisch ist. Vorzeitiger Thrombozytenabbau und gesteigerte Thrombozytenneubildung lassen den Anteil junger Thrombozyten im Blut ansteigen; dies erklärt das gehäufte Auftreten großer Thrombozyten bei Krankheitsbildern dieser pathogenetischen Gruppe (4). Bei den Verteilungsstörungen (Hypersplenismus) ist die Thrombozytopenie das Ergebnis einer Vergrößerung des thrombozytären Milzpools (2). Bei geringen Verteilungsstörungen mit nur mäßiger Thrombozytopenie ist die Lebenszeit der Thrombozyten annähernd normal, die Megakaryozytenzahl im Mark ist normal oder nur gering erhöht. Stark ausgeprägte Verteilungsstörungen gehen mit erheblicher Thrombozytopenie und deutlich verkürzter Thrombozyten-Lebenszeit einher; hier findet sich eine erhöhte Megakaryozytendichte des Knochenmarks. Inspektion von Blut- und Knochenmarkausstrichen gestattet unter Beachtung der angeführten Veränderungen im allgemeinen eine Einordnung einer Thrombozytopenie in die Gruppe der Bildungsstörungen (Thrombozytopenie ohne Riesenthrombozyten, hypo- oder amegakaryozytäres Mark), in die Gruppe mit vorzeitigem Thrombozytenabbau (Thrombozytopenie mit zahlreichen Riesenthrombozyten, hypermegakaryozytäres Mark, zahlreiche junge Megakaryozyten) oder in die Gruppe der Verteilungsstörungen (typischerweise meist nur mäßige Thrombozytopenie, einzelne Riesenthrombozyten, je nach Thrombozytenzahl normaler bis deutlich erhöhter Megakaryozytengehalt des Marks). In der Mehrzahl der Fälle läßt sich aus Blut- und Knochenmarkausstrich auch eine zur Thrombozytopenie führende Grundkrankheit (Leukämie, malignes Lymphom, Plasmozytom, metastasierender solider Tumor, Speicherkrankheit) diagnostizieren. Die häufigsten Erkrankungen, bei denen eine Thrombozytopenie auftritt, sind in Tabelle 1 nach diesen pathogenetischen Gruppen zusammengefaßt. Im allgemeinen lassen Anamnese, internistische und hämatologische Klärung die Diagnosestellung ohne Schwierigkei-

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Abteilung íär Hämatologie (Prof. Dr. H. Heimpel, Prof. Dr. E. Kleihauer( des Zentrums für Innere Medizin und Kinderheilkunde der Universität Ulm

ten zu. Gelegentlich wird aber der Einsatz von Techniken notwendig, die nur in speziellen Laboratorien zur Verfügung stehen; hierzu zählen neben serologischen Untersuchungen vor allem die Analyse der Thrombozytenkinetik mit Hilfe autologer radiochrom-markierter Thrombozyten (1). Mit dieser Technik lassen sich die Größe des Milzpools, die Thrombozyten-Lebenszeit und der Ort vorzeitiger Destruktion ermitteln.

Tab.

1.

Differentialdiagnose der Thrombozytopenien

Verminderte Thrombozytenbildung Hypo- oder Aplasie des Knochenmarks: Panmyelopathien (idiopathisch oder mit erkennbarer Ätiologie), chemotherapie-induzierte Markaplasie, Strahlenschädigung des Markes infiltrative Prozesse des Knochenmarks: akute Leukämien, maligne Lymphome, Plasmozytome, selten: metastasierende solide Tumoren, Osteomyelofibrose, miliare Tuberkulose des Markes Mangelerkrankungen: Vitamin-Bit-Mangel (perniziöse Anämie), Folsäuremangel kongenitale oder hereditäre Formen: zum Beispiel Fanconi-Anämie, Wiskort-Aidrich-Syndrom, May-1-legglin-Anomalie Medikamente mit isolierter Suppression der Thrombozytenbildung: Östrogene, Thiaziddiuretika, Alkohol Infektionen: Masern, Dengue-Fieber, Lebend-Masernvakzination, infektiöseMononukleose paroxysmale nächtliche Hämoglobinurie Vorzeitiger Thromboztyenabbau

antikörper-vermittelt: chronische idiopathische lmmunthrombozytopenie symptomatische Autoimmunthrombozytopenie (bei malignen Lymphomen, systemischem Lupus erythematodes) medikamenten-induzierte Immunthrombozytopenie (Chinin, Chinidin, PAS, Methyl-Dopa u. a.) Posttransfusions-Purpura neonatale Isoimmunthrombozytopenie akute postinfektiöse Th rombozytopenie nicht antikörper-vermittelt: disseminierte intravasale Gerinnung (Verbrauchskoagulopathie) bei Sepsis, metastasierenden Karzinomen Riesenhämangiome, Hämangioendotheliosarkome Ätiologie nicht bekannt: thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (Moschcowitz-Syndrom) hämolytisch-urämisches Syndrom Verteilungsstörungen (Hyperspienismus) Splenomegalie bei Leberzirrhose, Pfortader- oder Milzvenenthrombose, chronischen Infektionen (Tuberkulose, Kala-Azar) Splenomegalie bei malignen Lymphomen, myeloproliferativen Erkrankungen (Osteomyelofibrose), Speicherkrankheiten

Kombinations formen

Bildungsstörung mit vorzeitigem Abbau: maligne Lymphome Bildungsstörung mit Verteilungsstörung: maligne Lymphome, myeloproliferative Syndrome, Speicherkrankheiten

Lohrmann: Differentialdiagnose der Thrombozytopenien

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Im folgenden sollen jene Krankheitsbilder näher besprochen werden, denen bei Erwachsenen die größte Bedeutung zukommt.

Zu Thrombozyten-Bildungsstörungen führen vor allem die Panmyelopathie, akute (seltener auch chronische) Eeukämien, maligne Lymphome mit Infiltration des Knochenmarks, Plasmozytome, seltener diffus ins Mark metastasierende solide Tumoren. latrogen ist eine Knochenmarkinsuffizienz nach zytostatischer Therapie oder nach Röntgenbestrahlung ausgedehnter Gebiete zu beobachtell. Charakteristisch für die Krankheitsbilder dieser Gruppe ist, daß neben der Thrombozytopenie fast immer noch eine Granulozytopenie und (oder) eine hyporegeneratorische Anämie bestehen. Die Diagnose ist oft aus dem Knochenmarkausstrich zu stellen; jedoch sollte stets zur Vermeidung von Fehidiagnosen eine Knochenmarkbiopsie angestrebt werden, die mit Hilfe neuer Nadelbiopsie-Techniken auch ambulant durchführbar ist. Die gelegentlich mit einer klinisch bedeútsamen Thrombozytopenie einhergehenden Mangelerkrankungen (Vitamin-B19-Mangel [perniziöse Anämie], Folsäuremangel) sind aus Blut- und Markausstrichen mit Wahrscheinlichkeit diagnostizierbar und durch ergänzende Untersuchungen (Schilling-Test, Bestimmung der Serumkonzentration des jeweiligen Faktors) zu bestätigen. In der Gruppe der Erkrankungen, bei denen eine Thrombozytopenie durch vorzeitigen Thrombozytenabbau entsteht, ist die chronische idiopathische Immunthrombozytopenie (früher als »Morbus Werlhof« bezeichnet) mit Abstand am häufigsten. Bei dieser Erkrankung kommt es ohne erkennbare Ursache zur Bildung antithrombozytärer Autoantikörper. Die idiopathische Immunthrombozytopenie stellt eine Ausschlußdiagnose dar. Differentialdiagnostisch müssen jene Erkrankungen, in deren Rahmen es »symptomatisch« zur Entstehung antithrombozytärer Antikörper kommen kann, aus prognostischen und therapeutischen Gründen sicher ausgeschlossen werden (Tabelle 1). Eine medikamenten-induzierte Immunthrombozytopenie ist auszuschließen; hier darf nicht übersehen werden, daß Chinin als eines der am häufigsten zu Immunthrombozywpenien fiihrenden Medikamente in Bittergetränken (wie Tonic Water) enthalten ist. Stets ist schließlich an einen systemischen Lupus erythematodes zu denken, da eine (Immun-)Thrombozytopenie Erstsymptom dieser Erkrankung sein kann. Eine thrombotisch-thrombozytopenische Purpura oder ein hämolytisch-urämisches Syndrom (6) ist durch das andersartige klinische Bild und durch die hierfür charakteristischen Veränderungen der Erythrozytenmorphologie (Schistozyten) abzugrenzen. Eine disseminierte intravasale Gerinnung (Verbrauchskoagulopathie) läßt sich durch Analyse der plasmatischen Gerinnungsfaktoren meist ohne Schwierigkeiten als Ursache einer Thrombozytopenie erkennen. Als Hinweis auf eine protrahierte oder lokal ablaufende intravasale Gerinnung (zum Beispiel bei metastasierenden Karzinomen oder nicht erkannten Hämangiomen), bei der Veränderungen der plasmatischen Gerinnungsfaktoren nicht selten fehlen, können gelegentlich Erythrozytenfragmente (Schistozyten) im Blutausstrich dienen (5).

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Nr. 48, 28. November 1975, 100. Jg.

Lohrmann: Therapie der Thrombozytopenien

Verteilungsstörungen, die durch eine Splenomegalie im Rahmen einer Leberzirrhose oder einer Pfortader- bzw. Milzvenenthrombose entstehen, führen selten zu einer starken Thrombozytopenie; meist liegen die Thrombozytenkonzentrationen hierbei über SO OOO/al. Eine stärkere Thrombozytopenie sieht man nur bei ausgeprägter Splenomegalie, zum Beispiel bei Speicherkrankheiten. Kommt es zu einer Kombination einer Verteilungsstörung mit einer verminderten Thrombozytenbildung oder mit einem vorzeitigen Thrombozytenabbau, dann kann die Thrombozytopenie besonders ausgeprägt sein. Wie angeführt, gibt hier die Bestimmung von Verteilung und Lebenszeit autologer radiochrom-markierter Thrombozyten diagnostisch und therapeutisch entscheidende Hinweise.

Deutsche Medizinische Wochcnschrift

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Dr. H.-P. Lohrmann Abteilung Hämatologie Department Innere Medizin der Universität 79 Ulm, Steinhövelstr. 9

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[Differential diagnosis of thrombocytopenias].

2.492. Lohrmann: Differentialdiagnose der Thrombozytopenien Aktuelle Diagnostik Deutsche Medizinische Wochenschrift Redaktion: Prof. Dr. H. Hornbo...
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